00 Jesus


Fünfzig mehr oder weniger arme und bemitleidenswerte Seelen klammern sich an mich. Ich bin in der Nacht ihr Fokus (und Lokus). Wenn sie mich rufen, verstehen sie nicht, dass sie nicht die einzigen im Haus sind, die mich brauchen. Sie verstehen nicht, dass ich keine Zeit habe, um mir alle ihre Sorgen anzuhören. Die es noch ein wenig verstehen können, schütteln nur den Kopf, wenn ich ihnen erkläre, dass ich nachts als Pflegekraft alleine bin. „Ich habe für sie gebetet, obwohl ich nicht gläubig bin“, sagte eine alte Dame, die bei uns nur Gastbewohnerin ist, „Sie tun mir ja so leid.“ Ich erwiderte: „Das ist mein Beruf. Machen Sie sich bitte keine Gedanken.“
Es gibt Nächte, da komme ich mir vor wie Jesus, an den sich die Gebrechlichen klammern und Hilfe oder sogar Wunder erwarten. Unwillkürlich schrecke ich zurück. In beinahe jedem Zimmer, das ich öffne, sitzt ein Vampir, welcher meine Lebensenergie anzapft. Ich will keine Maske aufsetzen, aber dann passiert es doch, dass ich zombiehaft meine Arbeit verrichte, ohne noch Mitgefühl zulassen zu können.
Ich verstehe selbst nicht, warum ich mir das antue. Natürlich brauche ich die Arbeit und das Geld. Aber wie lange halte ich dieses Martyrium noch durch? Übertreibe ich? Sind meine Nerven am Arsch? Bin ich ein Weichei?
Vor vielen Jahren sagte meine Chefin auf einer Betriebsfeier zu mir, dass ich falsch in diesem Beruf wäre. Wahrscheinlich hatte sie recht.

Lange-Weile - 26. Okt. 12, 12:02

oo Goot..

das wäe mir zu viel Verantwortung im Alleingang. Ich bin über den Schlüssel erstaunt - 50 auf einen...da darf nichts passieren.
Ich denke die Grenze einer mit menschlicher Seele angefüllte Betreuung ist mehr als unterschritten....hat der Mensch das verdient? Nach einem arbeitsreichen Leben so auf einer Endstation auf seinen Tod zu warten ?

Aus wirtschlaflichen oder persönlichen Gründen muss oder wird die Beteuung der Alten von den Angehörigen weiter gereicht. Klar..das schafft Arbeitsplätze aber wo bleibt bei dem straffen Plan bleibt da der Respekt vor der alterenden Menschenwürde?

Nun..es enden ja nicht alle Leben so...einige Menschen haben das Glück bis zum letzten Tag im Kreise oder in der Nähe der Familie leben zu dürfen und ich hoffe, das trifft für die meisten Menschen zu.

Ich denke, wer diesem Beruf mit Herz ausüben möchte und seine Motivation aus edlen Modtiven bezieht, wird dem nicht gewachsen sein ... aber mit derartigen Desillusionen wird man bestimmt in vielen Berufen konfrontiert.

Das Konzept mehr Schein als Sein wird unter dem materiellen Druck, unter dem viele Unternehmen stecken, weiter ausgebaut.

LG LaWe


bonanzaMARGOT - 26. Okt. 12, 18:29

Fehler sind bei einer solchen Besetzung vorprogrammiert. Eine menschliche und ausreichende Betreuung und Versorgung der Alten unmöglich. Das System funktioniert mittels Angst, Lügen, Heuchelei, viel Blablabla und Glück.
Als Entschuldigung wird die wirtschaftliche Situation angegeben. Man kann nicht mehr ausgeben, als man hat. Ein Totschlagargument. Die Menschen werden in diesem kaltherzigen System alleingelassen - indes von Mitmenschlichkeit, Professionalität, Qualitätssicherung und individueller Betreuung gepredigt wird. Viele Protagonisten sind derart assimiliert, dass sie ihre Lügen für die Wahrheit halten ...
bonanzaMARGOT - 26. Okt. 12, 22:15

betr. herz

ich weiß nicht, ob ich diesen beruf mit herz ausübe. ich weiß nicht mal mehr, ob ich ein herz habe. irgendwo auf meinem lebensweg muss es liegengeblieben sein ...
Gioia - 27. Okt. 12, 09:04

Gott sei Dank...sagt eine Ungläubige...dass mich damals mein Rücken dazu zwang, in die Knie zu gehen...

sonst hätte ich wohl ebenfalls "zombiehaft" weiter gemacht. Und trotzdem, heute weiß ich, wie sehr ich meinen Beruf geliebt habe, obwohl für Liebe keine Zeit war.

bonanzaMARGOT - 27. Okt. 12, 09:17

guten morgen gioia

gerade, wenn man nachts alleine mit den alten ist, kommt man sich vor wie ein zombie ... unter zombies.
ob ich meinen beruf liebe, weiß ich nicht. jedenfalls mag ich im grunde schon die menschen, die alten menschen - aber was zu viel ist, ist zu viel. die dosis macht`s. ich bin nunmal nicht jesus. und dem war`s, glaube ich, auch zu viel. das haus, in dem ich arbeite, ist kirchlich. na ja. ich selbst zähle mich eher wie du zu den nicht-gläubigen.
der rücken ist auch ein thema. denn von rückenschonendem arbeiten kann unter solchen bedingungen keine rede mehr sein. mal sehen, wann es mich in die knie zwingt.
Gioia - 27. Okt. 12, 11:41

ich habe mich wahrscheinlich nicht verständlich ausgedrückt, denn auch ich kam mir, besonders des nachts, oftmals wie ein zombie vor...

und von den schrecklichen missständen - personalschlüssel -
kann ich ein leid singen. ich verstehe dich seeeehr gut! leid, nicht lied.

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