00 Jesus
Fünfzig mehr oder weniger arme und bemitleidenswerte Seelen klammern sich an mich. Ich bin in der Nacht ihr Fokus (und Lokus). Wenn sie mich rufen, verstehen sie nicht, dass sie nicht die einzigen im Haus sind, die mich brauchen. Sie verstehen nicht, dass ich keine Zeit habe, um mir alle ihre Sorgen anzuhören. Die es noch ein wenig verstehen können, schütteln nur den Kopf, wenn ich ihnen erkläre, dass ich nachts als Pflegekraft alleine bin. „Ich habe für sie gebetet, obwohl ich nicht gläubig bin“, sagte eine alte Dame, die bei uns nur Gastbewohnerin ist, „Sie tun mir ja so leid.“ Ich erwiderte: „Das ist mein Beruf. Machen Sie sich bitte keine Gedanken.“
Es gibt Nächte, da komme ich mir vor wie Jesus, an den sich die Gebrechlichen klammern und Hilfe oder sogar Wunder erwarten. Unwillkürlich schrecke ich zurück. In beinahe jedem Zimmer, das ich öffne, sitzt ein Vampir, welcher meine Lebensenergie anzapft. Ich will keine Maske aufsetzen, aber dann passiert es doch, dass ich zombiehaft meine Arbeit verrichte, ohne noch Mitgefühl zulassen zu können.
Ich verstehe selbst nicht, warum ich mir das antue. Natürlich brauche ich die Arbeit und das Geld. Aber wie lange halte ich dieses Martyrium noch durch? Übertreibe ich? Sind meine Nerven am Arsch? Bin ich ein Weichei?
Vor vielen Jahren sagte meine Chefin auf einer Betriebsfeier zu mir, dass ich falsch in diesem Beruf wäre. Wahrscheinlich hatte sie recht.
bonanzaMARGOT
- 25. Okt. 12, 17:32
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache