Geduldsproben
Beide sitzen sie im Halbdunkeln in ihren Sesseln, wenn ich ins Zimmer komme. Sie sind die ersten, die bei Antritt meines Nachtdienstes klingeln. Nach ihnen kann ich meine Uhr stellen. Und obwohl sie wissen, dass noch die Dienstübergabe läuft, klingeln sie, und wenn ich dann zu ihnen komme, sagen sie jedes Mal: „Ah, da kommt endlich jemand.“ Ich habe es nach dem tausendsten Mal aufgegeben, ihnen zu erklären, warum ich nicht schneller bei ihnen sein kann.
Ein lustiges Bild ist es schon, wenn die beiden in ihren Sesseln liegen. Sie ist 89 und trägt in dem dunklen Zimmer eine Sonnenbrille. Er ist 96 und entkam im Krieg nur knapp der Hölle von Stalingrad, wie mir seine Frau erzählte. Er steuert mit der Fernbedienung den Sessel, dass dieser sich aufrecht stellt und nach vorne kippt, so dass er leichter aufstehen kann. Die Rollatoren stehen bereit, und los geht`s!
Ich befinde mich nun in der Zeitlupen-Welt. Um nicht dumm rumzustehen, richte ich schon mal das Bett, suche den Schlafanzug und klappe den Klodeckel hoch. Eigentlich komme ich hauptsächlich wegen ihm. Seine Frau benötigt weniger Hilfe. Ihr bringe ich lediglich die Nachtmedikamente, und ich ziehe ihr die Kompressionsstrümpfe aus.
Die erste Prozedur bei ihrem Mann ist das Ablegen der Hörgeräte. Er ist so gut wie taub. Ich weiß nicht, ob er mich besser mit oder ohne die Hörgeräte versteht. Schwer zu sagen. Inzwischen ist fast jeder Handgriff Routine, und ich versuche vieles per Gestik und Mimik klar zu machen. Jedenfalls überwacht er alles genau. Die Hörgeräte müssen fachgerecht ausgeschaltet und in einem Behältnis auf seinem Nachttisch deponiert werden.
Dann muss ich den Verkehr regeln, dass sich die beiden mit ihren Rollatoren nicht ins Gehege kommen. Endlich habe ich ihn in die Nasszelle gelenkt und versuche ihn rückwärts zur Toilette einzuparken. Ich bin immer froh, wenn er endlich sitzt, denn dann kann ich mit dem Ausziehen seiner Kleidung loslegen. Ich staune immer wieder darüber, wie steif ein alter Körper wird. Aber er ist ein zäher Bursche. Ich bewundere ihn, wie er sich trotz seiner Behäbigkeit immer wieder aufrafft und vieles noch alleine macht. Allerdings bin ich manchmal ziemlich genervt von der Penetranz des Ablaufs und der unglaublichen Langsamkeit, wo mir doch die nächsten Klingler bereits im Nacken sitzen.
Sobald ich seinen Rücken gekratzt - und ihm den Schlafanzug übergezogen habe, widme ich mich seiner Frau, die mich mit Sprüchen wie „Wie kann man nur so kaputt sein, wenn man doch den ganzen Tag nichts machte“ oder „Wenn mich doch endlich der Herrgott zu sich holen würde“ empfängt. Ich sage dann meist etwas wie „Das ist der Lauf des Lebens“ und klopfe ihr bedauernd auf die Schulter. Dann befreie ich sie von den Gummistrümpfen. „Endlich bin ich diese Mistdinger los“, sagt sie, und ich erkläre ihr zum tausendsten Mal, warum die Mistdinger wichtig sind. Es ist immer dieselbe Litanei ...
Ihr Mann hat in der Zwischenzeit sein Geschäft erledigt. Ich lege die Inkontinenzeinlage in seine Unterhose und helfe ihm beim Hochziehen der Hosen. Bis alles richtig sitzt, vergeht eine gefühlte Stunde. Uff! Geschafft! Aber noch liegt er nicht im Bett. Bis zum Bett sind es ca. drei Meter. Für ihn sind es drei Kilometer!
Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Ich übe mich in Geduld. Endlich ist der Rollator am Fußende des Bettes geparkt und er sitzt auf der Bettkante. Pantoffeln aus – ich hebe seine Beine ins Bett. Jetzt nur noch Zudecken, Kopfkissen und Nackenrolle millimetergenau richten, die Augentropfen einträufeln und die Bettlampe in den richtigen Winkel stellen.
Ich wünsche dem alten Ehepaar eine Gute Nacht und wende mich zum Gehen, da ruft er mich noch mal zurück – seine Nackenrolle sei verrutscht ...
bonanzaMARGOT
- 27. Jan. 12, 12:47
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache