Die Entscheidung für das Leben kann ein Fluch sein


Es gab diese Frau. Sie war nun etwa solange in dem Altenheim wie ich. Als sie zu uns kam, war sie erst Anfang Sechzig. Die Diagnose: Alzheimer. Ich konnte sie noch am Waschbecken waschen. Ich konnte sie noch führen. Und sie redete, wenn auch wirr. Ich kann mich kaum erinnern. Warum verlässt mich mein Gedächtnis? Nach fünfzehn Jahren in dieser Altenpflegeeinrichtung sah ich viele Dutzend Menschen kommen und gehen, leiden und sterben. Diese Frau ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Sie war immer da, und sie blieb die ganze Zeit im selben Bereich - also, sie wechselte immer nur in ein Nachbarzimmer.
Seit über zehn Jahren liegt sie auf einer Wechseldruckmatratze, wird künstlich ernährt, und wenige Stunden am Tag in einen Spezial-Rollstuhl gesetzt. Inzwischen bringt sie nur noch ein Brummen hervor. Ihre Augen zucken nervös, wenn ich ihr die Windel wechsele, wenn ich sie wasche, wenn ich sie von der einen Seite auf die andere drehe. Wie eine Heuschrecke liegt sie mit angezogenen Beinen und angewinkelten Armen im Bett - eine durch die hochkalorische Sondennahrung gut genährte Heuschrecke. Ihr Hautzustand ist gut. Schon lange kann sie wegen der Aspirationsgefahr kein Essen und Trinken mehr schlucken. Ihr Kopf ist durch die Spastik überstreckt, und sie röchelt und hustet oft. Wenn sich zu viel Schleim im Rachenraum ansammelt, saugen wir sie ab. Sie gurgelt und hustet. Ihre Stirn kräuselt sich. Es riecht faulig aus ihrem Mund.
Eine alte Schulfreundin besucht sie noch. Ihre Kinder kommen schon lange nicht mehr, was ich gar nicht werten will. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für mich wäre. Wir reden zu leicht darüber, dass wir unsere Eltern in jedem Fall pflegen und betreuen würden. Wir reden viel, wenn das Leben lang ist.
Diese Frau sagt seit Jahren nichts mehr, und doch sagt sie viel - viel über unser Denken, unsere Heuchelei und den Zustand unserer Gesellschaft. Das Leben dieser Frau ist ein Dahinvegetieren und ein ständiger Kampf gegen den aufsteigenden Schleim. Nur selten sehe ich sie ganz entspannt schlafen.
Morgen, wenn ich Nachtdienst habe, werde ich sie wieder sehen. Alles wird wie immer sein. Wir verlieren selten Worte über diese Frau, nur wenn Medikamente vom Arzt geändert wurden, oder wenn wir sie absaugen mussten. Irgendwann wurde vergessen, ein paar persönliche Bilder von ihr, von ihrer Vergangenheit, nach einem Umzug in ein Nachbarzimmer, aufzuhängen. Und ich - mache auch nichts.
Ich schreibe hier von unserer Menschlichkeit. Ich schreibe von einer innerlichen Zerreisprobe.
Es macht mich wütend, wenn Politiker und Professoren über Ethik diskutieren, währenddessen Menschen allein dadurch gefoltert werden, dass sie am Leben erhalten werden.
rudolf33a - 13. Okt. 09, 16:35

Kleiner Beitrag meinerseits.
Heute im Nachtdienst werde ich auch zu einer Bewohnerin gehen wie du sie beschreibst. Sie und ihr Mann wohnen beide bei uns seit über 2 Jahren. Anfangs war der Mann noch mobil. Doch nun innerhalb einiger Wochen geht es mit ihm auch eigentlich sehr rasch "bergab".
Was soll ich dazu sagen ?
Immer wieder bringe ich das Wort Gottes zu den Bewohnern. Möge Gott bei der Aufahme seiner selbst in die Herzen helfen.
L.G.Rudolf.

bonanzaMARGOT - 13. Okt. 09, 16:51

hallo, lieber rudolph, es ist eine gnade, wenn gott angesichts dieses leidens trost spendet - wenn man an einen lieben gott glauben kann, der alles wieder gut macht.
ich sehe die welt und die probleme eher irdischer. wir menschen sind diejenigen, die durch gesetze, regeln und moralvorstellungen manches leid erst ermöglichen.
wir belügen uns selbst, schauen weg und sagen, dass, was nicht passieren darf, auch nicht passiert. dämlicherweise passiert aber alles, auch das, was wir ablehnen.
nur die aufrichtige konfrontation mit diesen unangenehmen themen wird uns zu einer ethik bringen, die vorallem aus hinschauen und nicht wegschauen besteht; die erst hinterfragt, bevor sie verurteilt; die auch das nötige geld für eine menschlichere gesellschaft (ohne heuchelei) einfordert.

ich wollte, es gäbe einen gott, der uns diese schwierigen aufgaben abnimmt. leider gibt es aber nur menschen, die an gott glauben und damit lediglich einen bequemen beichtstuhl verbinden, bzw. einen trost für ihre lügen.
rudolf33a - 13. Okt. 09, 17:20

Da hast du wohl recht...
bonanzaMARGOT - 13. Okt. 09, 21:26

Es wäre mir lieber, ich hätte nicht recht.
Lange-Weile - 14. Okt. 09, 11:43

stecken geblieben

Hallo Bo,.

>ich habe mich schon öfters gefragt, warum Menschen so lange dahin vegetieren müssen. Warum sie auf diese unwürdige Weise in einem "Zwischenstadium" verharren müssen und sie dafür so viele Hände brauchen um darin bleiben.

Wenn sich in meiner Famile ein Sterbefall ankündigte war ich erst mal tief bestürzt, erschrockenm, tief traurig, mein Herz geriet unter Druck, was mich in einem Ausnahmezustand versetzte, der sich im gasamten Prozeß hielt.

Meine Mutter wie meine Schwester fielen in einen Zustand in dem sich ihre Seele tief zurück gezogen hatte. Die Kommunikation wurde von ihnen auf diese Weise unterbrochen. So hatten wir noch ein paar Tage Zeit, uns mit den unwiderruflichen abzufinden. Die Spannung und der Druck im Herzen nahm zu und der Glaube an ein Wunder hielt mich noch ein paar Tage über Wasser. Jedes Zucken ihrer Wimper deutetet ich als mögliche Rückkkehr ins Leben, doch es waren nur körperliches Zucken, ohne Seele.
Als es dann geschah, kam ich in einen tiefen Zweispalt meiner Gefühle. Auf der einen Seite war ich tief betroffen, weil ich einen lieben Angehörigen ziehen lassen mußte, auf der anderen Seite war ich froh, dass er im Sterbeprozeß nicht stecken geblieben ist und den Übergang vom Leben zum Tod relativ schnell "hinter sich" bringen konnte.

Bleibt jemand im Sterbeprozeß "hängen" der lebt tatsächlich ein einem Fluch, denn Sterbehilfe ich bei uns nicht erlaubt und so halten die technischen Hilsmittel jemand im Leben, der schon auf dem Weg ist.

Ich glaube, die Patientenverfügung soll diese unterträglichen Zustände verbeugen.

Das die Angehörigen dieses Zustand der Frau nicht ertragen können, kann ich nachvollziehen. Es kostet Kraft den lieben Menschen in diesem hilflosen Zustand zu sehen und wer diese Kraft nicht hat, bleibt dem Zustand fern.

Gruß LaWe

bonanzaMARGOT - 14. Okt. 09, 14:11

hallo lawe, danke für deine schilderungen. es ist sehr wichtig, dass wir über diesen grenzbereich des lebens erfahrungen austauschen.
und natürlich hat das auch etwas mit "seele" und abschiednehmen-können zu tun.
die patientenverfügungen sind übrigens nicht verpflichtend für ärzte und betreuer.
bei dieser frau, deren schicksal ich in meinem beitrag anriss, kommt hinzu, dass sie bereits relativ jung die alzheimerkrankheit bekam. normalerweise geht man von einem krankheitsverlauf von 10 bis 12 jahren aus bis zum tode. doch diese frau leidet wegen ihrer guten körperlichen konstitution und der enteralen ernährung inzwischen schon einige jahre länger im letzten stadium der erkrankung.
nur der liebe gott kann sie erlösen. wahrscheinlich wird sie früher oder später an ihrem schleim ersticken. infektionen sind durch antibiotika ganz gut in den griff zu kriegen.
ich würde mir wünschen, dass über solche fälle öfter öffentlich diskutiert würde. in der realität dominieren das wegschauen und die hilflosigkeit.
fata morgana - 15. Okt. 09, 08:18

wobei die entscheidung "für das leben" nicht diese frau trifft, sondern die menschen um sie herum....

solche tatsachen, wie du sie hier schilderst, machen mich immer sehr betroffen. bei etwas zuschauen (und mittun) müssen, was so widersprüchlich ist.
wie viele junge menschen müssen gehen und hängen mit allen fasern ihres denkens am leben und wieviele wirklich alte menschen, die ein erfülltes leben hatten, wollen einfach nur einschlafen, einschlafen für immer...

vor über zwanzig jahren fragte mich mal eine patientin - ich sehe sie heute noch vor mir und höre ihre worte - ob ich nicht "ein glöckchen für den himmel" für sie dabei hätte. als junge und noch unerfahrene frau, konnte ich sie damals nicht so recht verstehen. doch das hat sich mit den jahren geändert.....

bonanzaMARGOT - 15. Okt. 09, 18:07

hi fata morgana

die frau ist ausgeliefert. über ihr "wohl" wird schon seit bald zwei jahrzehnten von anderen entschieden. nun ist sie bereits einige jahre in diesem sehr bemitleidenswerten zustand, der mehr einem vegetativen dasein ähnelt. bestimmt könnte man durch einen höheren pflege- und betreuungsaufwand ihre lebensqualität etwas heben, aber dafür fehlt das personal und auch die spezielle schulung.
wäre sie meine mutter, würde es mir das herz zerreissen. ich weiß, dass meine mutter nie so da liegen wollte.
wir vom pflegepersonal, das muss ich ehrlich zugeben, sind demgegenüber relativ abgestumpft. ansonsten wäre die arbeit kaum auszuhalten. trotzdem ist diese seelische belastung ständig präsent - wir fressen sie in uns hinein. es ist auch nicht leicht, darüber zu reden. irgendwie fühlt man sich schuldig, dass man nicht helfen kann. man grenzt sich ab. es ist leichter, wenn man die schublade mit den schimmeligen broten zuläßt.

ja, fata morgana, man denkt älter werdend anders über den sterbewunsch von alten und kranken menschen. alles rückt dichter an einen heran. man sieht an sich selbst, wie der zug der jahre in richtung endstation dahin jagd.
Aurisa - 15. Okt. 09, 20:32

Hallo Bon,
morgen ist der erste Todestag meiner Mutter...
Und ich wünschte das alles wäre nicht passiert und sie würde noch leben...
Aber ich bin froh, daß sie nicht über Jahre SO leben... vor sich hin leiden musste, wie diese Frau...
Und falls ich das Pech haben sollte Alzheimer zu bekommen... dann hoffe ich, daß ich die Kraft habe mir das Leben zu nehmen... so lange ich noch dazu in der Lage bin...
Viele Grüße
Klaudia

bonanzaMARGOT - 16. Okt. 09, 13:55

aurisa, nahe verwandte und liebe menschen werden wir immer vermissen.

man darf sich gar nicht vorstellen, wie das ende kommen kann. ob ich den mut hätte, die "notbremse" zu ziehen, weiß ich nicht - oder ob ich nicht den richtigen moment dazu verpasse ...
penes-eum - 21. Okt. 09, 18:52

Ich war 19 als der erste Mensch in meinem Beisein starb.

4 Wochen vorher kam er als OP Patient in die Praxis, Dekubitus - er hatte sich an seinem 55 Geburtstag ins Bett gelegt und gesagt er steht nie wieder auf, das war 14 Jahre zuvor. Man hat ihn gepflegt, irgendwann ins Altersheim gebracht, er war steif wie ein Brett, im Geist noch hellwach. Er lag auf dem OP Tisch, war wach, unerfahren wie ich war, fragte ich "wie geht es Ihnen" seine Antwort und die Stimme höre ich noch immer "Kind, wenn es mir gut gehen würde, läge ich nicht hier". Ich war baff, stotterte ein Entschuldigung. Die OP verlieft ohne Komplikationen.

4 Wochen später wurde er wieder gebracht, diesmal die andere Seite, denn auf die frisch operierte Seite hatte man ihn 4 Wochen nicht betten können, sein Zustand war stabil. Dennoch überlebte er diese OP nicht.

Danach kamen noch vier Menschen die ich bisher begleitet habe, alles Menschen die mir nahe standen, bei allen bin ich dankbar, das sie nicht so leiden mussten wie die von Dir beschriebene Patientin, sie durften zuhause oder im Hospiz gehen, im Beisein von den Menschen die Ihnen wichtig waren, mit Anstand und ohne den Eingriff in die Natur.

Gerade im Moment erlebe ich diese Hilflosigkeit bei einer Freundin, deren Mutter nur noch wenig Zeit hat. Ich wünschte die Möglichkeit in Deutschland wäre vorhanden human zu sterben ohne dafür mit dem Gesetzgeber in Konflikt zu geraten.

Ich hoffe für mich, das ich irgendwann diese Möglichkeit habe, denn irgendwo dahinvegitieren zu müssen bis man vielleicht das Glück hat, dass die Pumpe nicht mehr will, oder ein anderer Patient erst behandelt wird und niemand bei einem ist der noch eben absaugen kann, das ist nicht menschlich, es ist verachtend und nein das geht nicht gegen die Menschen, die tagtäglich pflegen und ihr bestes geben.

Ja es macht wütend und hilflos zu sehen und nicht einschreiten zu können.

bonanzaMARGOT - 22. Okt. 09, 14:22

penes eum, danke für deinen erfahrungsbericht.
menschlichkeit heißt auch, dass man seine hilflosigkeit zugibt - selbst wenn man sozusagen professionell damit zu tun hat.
wir haben keine antworten auf das leid. aber vielleicht können wir uns besser gegenseitig stützen, um das leid zu tragen, um die fragen auszuhalten ...; dazu müssen wir weich sein dürfen. viele viele menschen sind aber bereits sehr verkrustet und unnahbar in ihrer härte und coolness.
penes-eum - 22. Okt. 09, 17:23

ja das stimmt, es gibt viele menschen die verhärtet sind und manchmal kann ich sie sehr gut verstehen. ich sehe mich selber in einem mittelding, ich kann und will mir nicht das leid der menschheit geben, dann könnte ich morgen nicht mehr aufstehen, denn wenn man überall hinschaut und mitleidet, vergisst man alles andere und kann nichts anderes mehr wahrnehmen.

leid zu mildern und sei es "nur" durch zuhören und ein stück weit mitgehen, in meiner umgebung, bei menschen denen ich hilfe sein kann, muss reichen - es hat seinen grund warum ich heute nicht mehr in dem bereich arbeite den ich gelernt habe, ich wäre vor die hunde gegangen.

oft bin ich selber noch zu weich, leide mit wo ich mich abgrenzen sollte, aber ich will es auch nicht, ich habe in meinem leben, welches im gegensatz zu vielen anderen ja doch noch mittelkurz ist, sehr viel erlebt, kenne viele die ähnliches gelebt haben und heute steinhart sind, aber unglücklich und mit sich selbst nicht im reinen.

ich bin heute und will es auch morgen noch sein, ich, die mit sich im reinen ist und immer wieder leidet weil sie zu weich ist, so wie die aussenwelt es sieht, aber ich bin froh ob dieser empfindungen, denn gleichgültigkeit und ignoranz gehören für mich zu den schlimmsten verbrechen im täglichen leben (straftaten stehen selbstverständlich nochmal auf einem ganz anderen blatt)
bonanzaMARGOT - 23. Okt. 09, 10:50

klar, kann man nicht ständig auf das leid und die ungerechtigkeit überall auf der welt schauen - gerade heute, wo wir mit nachrichten ständig multimedial bomabardiert werden. man muss prioritäten setzen, wo man seine aufmerksamkeit hin lenkt.
mich berühren selbstverständlich die manquos in der altenpflege durch meinen beruf und die fühlbar wachsende soziale kälte und ungerechtigkeit - wenn ich daran denke, wie schnell man in die armut abrutschen kann, wenn man seinen job verliert.

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