Am Ende nahm ich ein Taxi


Ich bin müde. Wahrscheinlich macht die Leber langsam schlapp. Die Frühjahrsmüdigkeit kann‘s noch nicht sein, obwohl auch gestern wieder verführerische Sonnenstrahlen lockten. Ich zog den leichten Trench-Coat über. Auf der Neckarbrücke fröstelte es mich dann im kalten Wind.
Im Café Petit Paris las ich die letzten Seiten von Knoflachers „Virus Auto“. Der Mann hat ja so recht! Aber ich glaube, dass das Auto nicht der einzige Virus der technisierten Welt ist. Da sind z.B. noch das Handy oder Smartphone, der Fernseher, der PC zuhause, die Spielautomaten ...
Ob in der Straßenbahn, in den Kneipen oder in der Fußgängerzone - überall sehe ich Menschen, die an ihren Smartphones rumspielen oder mit ihnen telefonieren. Vorallem immer jüngere Menschen, kaum im Teenageralter, haben solche Dinger dabei. Man gewöhnte sich inzwischen dran. Ich erinnere mich, dass noch Anfang der Neunziger (des letzten Jahrhunderts) die Menschen die Nase rümpften, wenn jemand in Bus oder Straßenbahn sein Handy zückte. Inzwischen hat wenigstens ein Drittel aller Insassen Ohrstöpsel im Ohr. Immerhin - manche sieht man noch lesen. Heidelberg ist Universitätsstadt. Als Student kommt man auch in den heutigen Zeiten der elektronischen Medien nicht ganz um das Buch herum.
Der Barkeeper spendierte mir wie immer einen Ouzo (oder zwei). Er ist Türke und hat für einen Mann sehr hübsche und strahlende Augen - mitte Zwanzig, schätze ich ihn.
„Wie geht‘s Ihnen?“ fragte er.
„Na ja“, ich zögerte, „ich muss bald wieder arbeiten.“
„Man muss froh sein, wenn man heute Arbeit hat.“
„Stimmt!“ entgegnete ich knapp und vertiefte mich wieder in meine Lektüre. Einige Stellen strich ich mir an. Knoflachers Gedankengänge finde ich faszinierend. Sie könnten von mir sein. Nur hat er dazu den wissenschaftlichen Überbau.
Ich prostete mit dem Ouzo dem freundlichen Barkeeper zu. Er unterhielt sich gerade mit einer Kollegin darüber, wie sie mit der Straßenbahn zu ihrem Wunsch-Friseur kommt, und wie lange das dauert mit Umsteigen.
„Also, da würde ich gleich das Auto nehmen“, sagte er, „oder ein Taxi“, und lachte:“Dreißig Euro für Taxi plus dreißig Euro für den Friseur ... macht sechzig Euro!“
In der Gasse vor dem Café war inzwischen auch was los: Ein PKW hatte eine Torausfahrt halb zugeparkt. Ich sah einen verärgerten,bärtigen, älteren Herrn, der um das Auto herumschlich, und kurze Zeit später im Café nachfragte, ob das Auto von einem Gast sei. Nein, war es nicht.
Ich hatte noch ein paar Seiten. Neugierig blickte ich zwischendurch in Richtung Gasse, ob der PKW dort noch als Ärgernis stand. Außerdem überprüfte ich den Posteingang meines Iphones und trank von meinem Bier. Zur Zeit stehe ich auf dunkles Hefeweizen.

Knoflacher:
Die Antwort auf die Frage „Wo stehst du“ - „Zwei Gassen weiter im Halteverbot.“ - wird nicht als Realitätsverlust erfahren, sondern als normal empfunden, obwohl das befragte Gegenüber kaum zu übersehen ist. Es entsteht der Eindruck, dass nicht der Mensch gefragt wurde, sondern das Virus Auto selbst, und dabei vorausgesetzt wird, dass der Mensch als dessen Sprecher fungiert.

Und ein paar Seiten weiter:
So wie die Weiterentwicklung eines Lebewesens, das von Krebs befallen ist, nicht mehr möglich ist, wird die Evolution der Menschen durch das Auto blockiert. Doch dieser Zerstörungsprozess wird von den Ideologen des Energierauschs unserer Zeit weder erkannt noch in seinen Auswirkungen verstanden. Ganz im Gegenteil - sie geben sich der Illusion hin, man könne die Menschen in beliebig großen Einheiten aufgehen lassen, ohne das Bestehende zu erhalten. Schon die Ideologen des Kommunismus sind mit dieser Vorstellung gescheitert. Sie alle übersehen nämlich die Grundvoraussetzung, die für jede Gemeinschaft erforderliche Solidarität. Diese ist in der Bindekraft kleinerer Einheiten verankert und kann nur auf diesen aufbauen, und nicht auf isolierten Einzelelementen.
Bei der Nutzung fossiler Energie für die Automobilität hört aber jede Solidarität auf. Selbst die mit den eigenen Kindern wird aufgegeben, denen man Bewegungsräume zugunsten des Autoverkehrs wegnimmt.


Ich schaute mich um. Es war gerade früher Nachmittag. Keine neuen Mails auf dem Iphone. Das Café war mäßig gefüllt. Einige Gäste aßen noch zu Mittag. Der Barkeeper servierte mir den zweiten Ouzo. Ich bedankte mich. Endlich kam der Besitzer des PKWs vor der Toreinfahrt. Kein Showdown. Beinahe schade. Als er die Ausfahrt frei gemacht hatte, fuhr der ältere, bärtige Mann mit einem protzigen Geländewagen davon, und der Missetäter stellte seinen Wagen wieder zurück vor das Tor. Offensichtlich hatte man sich irgendwie geeinigt.
Ich gähnte, und als ich mit Knoflacher abgeschlossen hatte, setzte ich mich, zweibeinig, in Bewegung Richtung Fussgängerzone. Der Nachmittag zog sich in die Länge.

Anja-Pia - 15. Feb. 11, 17:59

Wenns für die Frühjahrsmüdigkeit zu früh ist, ists wahrscheinlich noch der Winterschlaf.

bonanzaMARGOT - 15. Feb. 11, 18:14

Der strenge Winter hielt mich eigentlich ganz gut wach.
Er schlug mir eisig ins Gesicht.
Ich fror auf dem Weg zur Arbeit. Ich fror zuhause.
Vielleicht bin ich auch überanstrengt - seelisch und auch etwas physisch.
Ohne Liebe zum Wärmen, die meiste Zeit auf mich selbst zurück geworfen ...
Ich versuche es durchzustehen.
Wenn ich auch - menschlich gesehen - in der Kälte wahrscheinlich noch ... (wie lange auch immer) ausharren muss, freue ich mich auf wärmere und freundlichere Tage, die meine Sehnsucht nach Liebe und menschliche Wärme unterstützen.
Anja-Pia - 16. Feb. 11, 09:50

*Dirüberdenkopfstreichel*
bonanzaMARGOT - 16. Feb. 11, 12:26

*kopfhinhalt*
Kurt Achse (Gast) - 15. Feb. 11, 18:04

Eher die Leber.

bonanzaMARGOT - 15. Feb. 11, 18:16

Hi Kurt. Ja, die Leber ...
Du kennst das?
oops - 15. Feb. 11, 18:57

ich lasse seit nun einem halben jahr bewusst mein auto stehen und fahre lieber ubahn
auch und besonders um zeit zum lesen zu haben
;-)

hoff du wirst wieder munterer
alles liebe

bonanzaMARGOT - 15. Feb. 11, 20:35

Danke, oops.
Das "Auto" ist auch ein Synonym für die immer kälter werdende Gesellschaft.
Ich dachte daran schon vor 30 Jahren.
Lange-Weile - 16. Feb. 11, 00:52

klarer Blick

Hallo Bo.,

deine Augen sich sicher genau so gut, wie die des jungen Kellners, der innerlich wohl schon gebuckelt hat. Die Beschreibung deiner Umwelt wird für beim lesen realistisch, obwohl ich zum lesen einen extra-Browser öffne und der liefert mit deine Texte im Buchqualität.


Bei uns in Rostock wird grad eine neue Straße gebaut. Sie wühlen schon seid Monaten in der Erde rum. Der Verkehrsfluss soll besser in die Stadt geleitet werden. Jedoch liegen auf der anderen Seite noch einige Wohnhäuser. Die Bewohner schauen direkt auf die Straße. Dort warem im Frühjahr noch Rosensträücher.

Die Bewohner haben sich gewehrt, aber es half nichts. Heut hängt nur eine von Wind zerfetztes Stofftranzparenz an eins der Häuser mit der Aufschrift:"KInder statt Autos"

Die Autofahrer begrüßen die neue Straße, weil sie schneller an ihren Arbeitspaltz kommen und ebenso schnel zu Hause sind. In der Nähe entsteht ein großes neues Einkaufscenter und so passt alles wieder gut zusammen.Oder doch nicht?

Dir eine gute Nacht - ich muss jetzt auch in die Federn

Gruß LaWe


bonanzaMARGOT - 16. Feb. 11, 12:23

wir leben in einer diktatur der autofahrer und automafia.
grundlegende rechte werden einfach außer kraft gesetzt, wenn es um "freie fahrt für freie bürger" geht.
und da die mehrheit der erwachsenen menschen heute autofahrer ist, hat das "autovirus" über alle vernunft und ökologischen sinn gesiegt.
durch straßenbauten wird das leben der autofahrer (scheinbar) erleichtert, aber das leben von kindern, alten, und allen menschen ohne auto eingeengt und erschwert.
durch auslagerungen von geschäften, handwerksbetrieben, kneipen und gaststätten werden soziale plätze für viele menschen unerreichbar. sie vereinsamen in wohnsiedlungen, und wenn sie das fenster öffnen, hören sie statt vogelzwitschern verkehrslärm. es ist eine schande, wie wir mit der umwelt und mit den schwachen unter uns umgehen!
und das alles wegen dieser blechkiste, die wir anhimmeln, und die den menschen zum asozialen irren macht, sobald er hinterm steuer sitzt.
du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich auf meinen fahrradreisen den autoverkehr verfluchte. selbst auf den fahrradwegen kommen mir die autos entgegen, oder in den städten sind fahrrad- und fußwege von autos zugeparkt. überall zerschneiden straßen und autobahnen die landschaften, und es kommt nicht selten vor, dass ein schöner radweg dort zur sackgasse wird.
aber die meisten menschen sehen die welt nur noch aus der perspektive des autofahrers, der mit 100 km/h auf der straße dahinjagd und die landschaft nur sehr beschränkt wahrnimmt - wie einen film, der an ihm vorüberzieht.
die gesellschaft ist vom "virus auto" durchseucht.

leider nutzt alle wut nichts. jeder apell gegen den autowahnsinn wird ignoriert oder abgeschmettert.
alles wird so weitergehen, bis alle energieressourcen aufgebraucht sind ...
Lange-Weile - 16. Feb. 11, 14:04

Schlachtfeld

Hallo Bo.,

bei deiner Aufzählung sind die Verkehrstoten und Dauerbehinderte nach Verkehrsunfällen noch nicht mal erwähnt. Bis vor einiger Zeit kam jeden Montagmorgen eine Zusammenfassung der Geschehnisse auf den Straßen am WE in der Region. Fast jeden Montag hörte man gleich von mehreren Verkehrstoten, Menschen die am WE ums Leben kamen. In der Zeit war ich grad dabei, meine Fahrerlaubnis zu machen und fiel unter dem Druck der Nachrichten gleich 3 x durch. Aus Angst davor, jemand auf der Straße zu töten oder mich selbst als Tote auf der Straße wiederzufinden, fiel ich immer wieder durch.

Die Straßen kamen mir damals wie ein mittelalter Kriegsschauplatz vor, auf dem das sterben nichts außergewöhliches ist.

Wenn diese "Vorkommnisse" auch im Zusammenhang mit einem Virus sieht, dann liegt das in der Natur der Sache. Auch ein Virus kann einen Menschen plötzlich umhauen. Er setz sich ins Herz und wirft den Menschen von einer Minute zur anderen ohne Vorwarnung und Chance auf Rettung um.

Ein Autofahrer würde sagen: "Du siehst alles so düster, die die Freiheit, die ein Auto bieten kann, siehst du dabei nicht" Dasmag stimmen, aber ist der Preis für diese Freiheit nicht zu hoch? " Menschenleben - Umwelt- und Klimaschäden, nicht zu vergessen, die Ressourcen, die verbrannt werden. Auch die Ressorcen wie Öl binden CO2 unter der Erde und mit dem Verbrennen werden sie in die Atmosphäre zurück geschickt.

Gruß LaWe

bonanzaMARGOT - 16. Feb. 11, 14:28

vorallem wenn diese freiheit eigentlich nur eine schöne illusion ist. das ist beim auto nicht anders als bei einem suchtmittel. im ergebnis handelt der süchtige irrational.
ja, er riskiert sogar sein leben und das leben anderer.
ich veröffentlichte vor 25 jahren kritische texte und gedichte zum thema "schlachtfeld asphalt" und "straßenbau - turmbau zu babel" in der regionalen presse. viele sagten damals: gut geschrieben, - aber es interessierte sich niemand wirklich dafür. heute ist das immer noch nicht viel anders.
gegen den "virus auto" ist eben kein kraut gewachsen!
er schaltet das denken einfach aus, oder verzerrt das bild der wirklichkeit zugunsten der autofahrergesellschaft.
es ist absoluter wahnsinn, wie viele kinder jährlich im straßenverkehr sterben. das ist mord! aber wie im krieg - ist morden auf den straßen erlaubt ...; man nennt es dann unfall, unglück oder kollateralschaden.
tom-ate - 17. Feb. 11, 18:11

Nach Deinen Zitaten zu urteilen hat Knoflacher mit dem Virus Auto die richtige Diagnose gestellt: Jede Solidarität hört auf, stattdessen herrscht St. Florian ohne Konkurrenz. Der Mensch als "Sprecher" seines Autos ist auch ein treffendes Bild. Und wenn man sich mal den mobilen Irrsinn aus der Alienperspektive anschaut, so könnte man zur "Erkenntnis" kommen, die Autos seien die Herrscher auf der Erde und die sie an den Zapfsäulen bedienenden zweibeinigen Begleiter ihre Diener.

bonanzaMARGOT - 18. Feb. 11, 17:01

ich stimme dir zu: die menschheit muss objektiv, d.h. aus älien-sicht, ziemlich bescheuert wirken.

zum analogismus virus-auto schreibt knoflacher u.a.:

Dringt ein Virus in eine Zelle ein, steuert er deren Verhalten in seinem Sinn. Die komplex strukturierte Gesellschaft einer Zelle beginnt nun genau das zu machen, was ein Virus gerne hätte, die RNA des Virus wird repliziert. Sie macht das sozusagen aus innerem Antrieb.
Wenn das Auto in die Gesellschaft eingedrungen ist, gehen aber auch die Menschen von innen heraus dazu über, nicht mehr Siedlungen, Wirtschaftssysteme und Kulturen für Menschen zu schaffen, sondern solche für das Auto. Nicht mehr Lebensräume, sondern Fahrbahnen werden gestaltet, nicht mehr Kinnderzimmer und Bewegungsflächen für den Nachwuchs, sondern Parkplätze für das Auto. Dass der Organismus, in diesem Fall die Erde, durch diesen Virenbefall die Körpertemperatur steigert, um sich dagegen zu wehren - so wie es unser Körper macht -, ist nicht verwunderlich. So wie Menschen in ein komplexes System eingreifen, so komplex ist die Reaktion der Erde und so unverständlich für die Menschen, die in ihrer Einfalt glauben, die Klimaerwärmung von wenigen Graden wäre nichts anderes als eine Verschiebung der Klimazonen. Eigentlich müssten sie es besser wissen, denn ihre eigene "Klimaerwärmung", wenn sie von Viren angegriffen werden, hat massive Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden, selbst wenn die Temperatur nur um ein, zwei Grad steigt. Kaum jemand wird damit einverstanden sein, unter diesen Bedingungen sein Leben führen zu müssen - der Erde mutet man das zu. Man spricht sogar von sechs Grad - und weiß, dass beim Menschen fünf Grad Temperaturerhöhung meistens bereits das Todesurteil bedeutet.

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