Ich bin noch da
Als ich aufwache, wird Nacht – ein Gewitter. Ich öffne das Fenster und lausche dem Regen, genieße die frische Luft, die ins Zimmer strömt. Es ist halb Fünf. Noch ein Nachtdienst liegt vor mir. Die Kühle wird mir und den Altenheimbewohnern gut tun. Die Hitze wollte in der letzten Nacht nicht aus den Räumen weichen. Kein Lüftchen ging. Alle litten darunter.
Ich war gerührt, als mir Frau E. das Du anbot. Sie ist 91 und befürchtete, dass sie in der Nacht sterben würde. Sie wies auf das Adressbuch hin, dass sie geöffnet auf den Tisch gelegt hatte. Ich hielt ihre Hand. „Eine schöne Zeit hatten wir noch“, sagte sie und meinte die zweieinhalb Jahre, welche ich sie als Nachtwache betreue. Sie bedarf viel menschlicher Zuwendung, und ich bemühe mich. Sie leidet darunter, wenn manche Kollegen oder Kolleginnen sie nur abfertigen. Mit der Zeit schloss sie mich ins Herz, dabei hatten wir uns ganz am Anfang wegen einer Dummheit in die Wolle bekommen.
„Sie sind auch eine ganz liebe Oma“, meinte ich tröstend.
„Ich wäre auch eine gute Frau gewesen“, entgegnete sie mit fester Stimme.
Ich grinste verlegen. „Wir haben uns einige Jahre in der Zeit verfehlt.“
Die zierliche Greisin lehnte ihren Kopf an mich und ich drückte sie kurz und sanft.
Manchmal haben die alten Menschen eine Vorahnung vom Tod. Ihr ging es in den letzten Wochen nicht gut. Eigentlich bräuchte sie einen Herzschrittmacher, aber sie konnte sich nicht recht zu der Operation entscheiden.
Als sie in der Nacht klingelte, damit ich ihr beim Toilettengang helfe, begrüßte sie mich mit den Worten: „Ich bin noch da!“
Das Gewitter ebbt ab. Noch ist es düster. Ich höre das Rauschen der Autos auf dem nassen Asphalt. In zwei Stunden fährt mein Bus. Wie immer werde ich vorher eine Kleinigkeit essen gehen. Vor Kurzem entdeckte ich am türkischen Imbiss ein Plakat, dass er Falafel hat. Hoffentlich sind die gut.
bonanzaMARGOT
- 06. Aug. 13, 17:21
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache