Sonntag, 15. Januar 2012

Brasko und die Entführung des Bundespräsidenten


VI


Bei einer Amnesie ist es für den Betroffenen schwer, Phantasie und Realität klar abzugrenzen. Die Erinnerungslücke macht sich selbstständig. Sie tut, was Lücken allgemein tun. Sie nerven wie z.B. Zahnlücken. Irgendwann schaut man aus Selbstschutz nicht mehr so genau hin. Brasko wusste, dass er wahrscheinlich an einem Auftrag gearbeitet hatte. Und er wusste, dass ein Skiunfall ziemlich unwahrscheinlich war. Oder hatte er sich besoffen auf die Bretter gestellt? Ganz abwegig wäre dies nicht. Wieso nahm sein Auftraggeber nicht Kontakt mit ihm auf, nachdem er aus dem Koma aufgewacht war? Hatte er in St. Moritz am Ende nur ein Sexdate? Und die betreffende Dame ersparte sich mögliche Unannehmlichkeiten?
Niemand hatte nach ihm gefragt – das versicherte ihm Schwester Bettina. Nicht mal die Polizei.

Brasko erholte sich zusehends. Man verlegte ihn in ein Vierbettzimmer, in dem bereits zwei Witzbolde lagen. Der eine hatte kein Gesicht mehr und hoffte, wieder eins verpasst zu kriegen. Sein Kopf war total von Mullbinden umwickelt. Er konnte nicht sprechen und gestikulierte nur herum oder machte gar nichts. Der andere war wesentlich gesprächiger – ein schwäbischer Förster, der seinen Unterarm in einem Hexler verloren hatte. Oberarzt W. wollte ihm den eines tödlich verunglückten Motorradfahrers annähen. „Er hat ihn noch vom Sommer in seiner Tiefkühltruhe“, witzelte der schwäbische Förster, "er muss ihn nur noch auftauen, haha!“ Der Typ mit den Mullbinden um seinen Kopf lutschte oft an seinem Daumen. „Haha!“ schrie der Förster, „die Mumie will Dir einen blasen! Haha!“ Brasko grinste, „wie ist das eigentlich passiert mit deinem Unterarm?“
„Wenn ich das wüßte“, der Förster war immer noch am kichern, „ich muss total strack gewesen sein, haha!“
„Apropos …, kommt man hier irgendwie an ein Bier??“
„Ne, vorher schieße ich Dir `nen Yeti, haha!“
„Ach so, Mist!“
Brasko mochte weder den Förster noch die Mumie besonders. Aber sie bedeuteten wenigstens menschliche Gesellschaft. Wenn sie nachts nur nicht so viel furzen würden!
Er hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass er einen schweren Skiunfall unter sehr merkwürdigen Umständen gehabt hatte. Musste man allem im Leben auf den Grund gehen?
Er war mehr Hanswurst als Detektiv. Immer schon gewesen. Brasko lebte davon, dass es noch dämlichere Leute als ihn gab, und außerdem musste er wohl einen Schutzengel haben.

Die Mumie hatte mit dem Daumenlutschen aufgehört, und der Förster war bei der Lektüre des Playboys eingeschlafen.
Schwester Bettina betrat das Zimmer und wand sich gleich an Brasko.
„Sie haben Besuch.“

ein literarisches Tagebuch

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