Bergfest

Über den Daumen gepeilt dauert ein langes Leben vierunddreißigtausend Tage, wovon ich gut die Hälfte hinter mir habe. Ich hatte Bergfest. Woody Allen sagte, dass man sich selbst belügen muss, um glücklich - am Leben - zu sein. Ich selbst befinde mich in einem scheinbar unauflösbaren Zwiespalt: Einerseits möchte ich noch möglichst lange leben und habe Angst vorm Sterben, andererseits hätte ich am Liebsten alles hinter mir: Jeden Tag die Kraft aufzubringen, im Leben zu bestehen mit all den Belastungen von Beruf und Familie, Krankheit ... Ich hangele mich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, Monat zu Monat, durch den Urwald der Jahre. Wenn ich zurückblicke, verschwimmen die Bilder vor meinem geistigen Auge: Bin das wirklich Ich? Wohin ging meine Liebe? Die Vergangenheit wurde mir fremd. Selbst Dinge, die erst wenige Jahre zurück liegen, sind wie abgeschnitten von mir im Dickicht eines früheren Lebens. Doch fühle ich mich keineswegs unbeschwert. Ich spüre die Last der siebzehntausend Tage.
Siebzehntausend Mal wach werden, um ein Tagewerk vor sich zu haben: mit Bedürfnissen, Pflichten, Verantwortung, abwechselnd Leid und Freude, Hektik und Lethargie ...
Meine Gedanken entführen mich in die Zukunft, wo der Tod auf mich wartet. Die Greisin, die ich in der Nacht auf die Toilette führe, sagt, sie sei zu alt geworden. Gebückt schlurft sie am Rollator an meiner Seite, sie trägt die doppelte Last an Jahren. Ihr Lächeln hat einen schalkhaften Anstrich. Ich weiß, dass sie von dem Unabänderlichen weiß: So ist es also am Ende des Lebens, wenn man den Felsen wie Sisyphos in der Sage Tag für Tag den Berg hoch rollte.

Der Tag holt mich. Meine Sinne sind im Hier und Jetzt. Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken, als würden sie mir zuzwinkern: Wir haben alle dasselbe Schicksal. Es ist vielleicht gar nicht so schlimm, wenn man sich selbst belügt. Life goes on. Nächste Woche bekomme ich neue Schneidezähne. Die Eitelkeit hat gesiegt. Ich freue mich auf den Sommer, auf die Biergärten, auf fröhliche Gesichter und laue Abende. Auf dem Fahrrad werde ich wieder ein Stück Welt erobern.
testsiegerin - 17. Mai. 10, 16:44

Ich sehne mich auch nach Sonnenstrahlen.

Und so hangeln wir uns alle dahin, manchmal mit sicherem Tritt, manchmal müde und wacklig. Manchmal rutschen wir aus, dann streben wir wieder optimistisch dem Gipfel entgegen. Ohne zu wissen, was da oben überhaupt auf uns wartet. Ob da überhaupt etwas auf uns wartet, außer ein beschwerlicher Abstieg.

Wir schlagen Sicherheitshaken in die Wand und wollen immer höher.
Und hoffen, dass das Seil, an dem wir hängen, uns hält. Aber diese Hoffnung ist eine trügerische. Irgendwann ist es zerschlissen und reißt. Wenn wir Glück haben, erst dann.

bonanzaMARGOT - 17. Mai. 10, 17:12

hi testsiegerin!

das unwägbare (unfall, krankheit, verbrechen) liegt freilich immer in der luft. ich denke beim leben oft an das spiel "völkerball" - bei dem man von den bereits abgeschossenen umringt mit dem ball beworfen wird, bis man sich getroffen auch in den ring eingliedern muss ...
für die innerhalb des kreises verbleibenden wird es immer schwieriger.
ich war nicht schlecht bei dem spiel. nicht selten gehörte ich zu den letzten, die getroffen wurden.
mal sehen, wie`s im leben läuft, testsiegerin. man sollte sich desöfteren wegducken. auf der anderen seite wäre es ohne risiko reizlos.
vielleicht verliert einen auch die kraft ... und der wille ...
ich weiß nicht. da ist noch das schicksal - der spiegel, der einem die wahrheit ins gesicht spuckt!
nein, tag für tag möchte ich nicht in den spiegel schauen.
lieber ducke ich mich nochmal weg.
testsiegerin - 17. Mai. 10, 17:26

Beim Völkerball gibt es wenigstens einen Freigeist.
Aber ich glaub, der heißt bei euch anders. König, oder so.
Was kann man daraus schließen?
bonanzaMARGOT - 17. Mai. 10, 17:35

ich kenne die regeln nicht mehr so gut. es ist schon verdammt lange her. ich sehe mich noch in der turnhalle in der grundschule ...
und ich weiß sogar noch den namen des damaligen turnlehrers - "herr bär".
an einen "freigeist" oder "könig" kann ich mich leider nicht mehr erinnern.
Ranunkelchen - 18. Mai. 10, 16:47

was zum lachen für dich


bonanzaMARGOT - 19. Mai. 10, 16:32

hi ranunkelchen,
danke für die "lebens-hilfe"!
Lange-Weile - 19. Mai. 10, 12:28

Gleichgewicht

Hallo Bo.,
so kommt alles wieder ins Gleichgewicht der Welt, die beide Seiten in sich trägt. Entscheidend ist nur die Karft, sich von der düsteren Seite des Lebens sich nicht übermannen zu lassen und das, obwohl diese scheinber über mehr Kraft und Magie verfügt, als die helle Seite des Lebens.

Gute Helfer für diesen täglichen Kampf gegen die Düsternis des Lebens sind auch Ehrgeiz, Eitelheit oder vielleicht auch der Trotz.

Gruß LaWe

bonanzaMARGOT - 19. Mai. 10, 16:23

hi lawe,
das leben ist ein schlauch. heute muß ich nur aus dem fenster schauen, und mir wird schlecht. der nachtdienst allein, und dann wacht man mittags in seiner wohnung auf, allein, und sieht in einen grauen, regnerischen tag ...
wegrennen geht nicht. also versucht man sich warme gedanken zu machen. genau. überall probleme: im tv, im staatshaushalt, in der beziehung, bei der arbeit usw. usw.
man kämpft und wird älter. es ist nicht einfach, sich die dinge schönzureden.
es gilt: einfach weitermachen, funktionieren, die tränen runterschlucken, den schmerz betäuben, die ängste verscheuchen - wieder und wieder.
am meisten hilft mir das wundern und meine doch verbliebene neugierde, lebens- und liebeslust.
Lange-Weile - 21. Mai. 10, 11:30

Desillusion

Hallo Bo.,

ich denke schon, dass die permanente Nachtarbeit auch einen Einfluss auf die Stimmung haben kann. Ich kenne das an mir, wenn ich über die Zeit auf und morgens in meinen Federn bleibe.

In den letzten Wochen hab ich bemerkt, dass ich die vielen Schreckensnachrichten nicht mehr hören bzw. in TV nicht mehr sehen kann, ohne mir die Frage zu stellen, wann wir Menschen es endlich lernen werden, uns so auf derErde zu bewegen, dass wir auch wieder optimistisch in die Zukuanft schauen können. Dies geschieht jetzt insbesondere mit dem Hintergedanken an die Ölpest vor der Mexikanischen Küste und den wankenden Euro, der durch die Zocker fast zu Fall beracht wurde.

In beiden Fällen steht der Commerz mit seiner unerschöpflichen Geldgier Pate.

Doch auf der anderen Seite erkenne ich an mir, dass sich meine Vorstellung von der Welt und den Menschen, die darin leben immer noch zu schön gemalt wurden und ich den schmerzlichen Prozeß der Desillusion nocht nicht zu Ende gegangen bin.

Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende

Gruß LaWe
bonanzaMARGOT - 21. Mai. 10, 11:57

ganz sicher hat der nachtdienst einen einfluss auf mein wohlbefinden. man gerät aus dem tritt, ist leicht reizbar und übermüdet. auch depressive stimmungen sind nicht selten beim wechsel vom nachtdienst ins frei, also dann wenn ich meine freizeit genießen sollte.
trotzdem bleibe ich vorerst beim nachtwachen-schieben, weil ich die vielen frei-tage schätze, und weil ich mein eigener herr bin. allerdings wuchs die psychische belastung enorm, seitdem wir nicht mehr zu zweit sondern alleine in der nacht sind.

ja, es wird immer klarer, dass in unserer welt so gut wie alles vom geld abhängig ist - somit von den leuten, die das geld verwalten und damit geschäfte machen.
wir sitzen auf dem pulverfass. aber da es uns viele jahrzehnte schon recht gut geht und nichts passierte, glauben wir, dass sich dies bis in alle ewigkeit fortsetzt. wir denken sogar, dass sich unser wohlstand noch mehren sollte.
nun spüren wir ein leichtes beben und ahnen vielleicht, dass unsere situation alles andere als sicher ist. bei den griechen ist die kacke bereits ziemlich am dampfen.
nun verstehe ich nichts von den komplexen finanzmärkten und besitze außerdem nur wenig, so dass ich im fall der fälle auch nur wenig verlieren werde.
doch die welt um mich herum spielt verrückt ..., und man kann sich dem wohl nicht ganz entziehen. irgendwie ist das alles ziemlich diffus - wie eine irre theaterinszenierung, von der einem der kopf schwirrt.

es wäre ein wunder, wenn es mit den menschen auf der erde ein gutes ende nimmt.

dir ein schönes pfingstwochenende.

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