Sonntag, 2. Mai 2010

Der Nach-Nachtwachen-Blues


Es ist der typische Nach-Nachtwachen-Blues. In den Tag gespült, sitze ich wie neben mir, funktioniere, mache mir um 16 Uhr den Morgenkaffee. Der Tag ist trüb. Der Tag ist außerdem ein Sonntag. Die Vegetation trinkt vom Nieselregen. Sonntag, denke ich, und habe keinen Plan. Dabei waren die Nächte im Altenheim ruhig. Da war nur Rübezahl, der mal wieder auf den Boden pinkelte, und das Nachtgespenst, das im Nachtgewand mit dem Rollator über die Station schlurfte. Die Reihen haben sich gelichtet. Viele Zimmer stehen inzwischen leer. Einsam drehte ich meine Runden durch das Haus und wechselte Windeln, leerte Urinflaschen und geleitete alte, brüchige Wesen zur Toilette. Dazwischen vorm TV die Beine hochgelegt. Es lief ein Horrorfilm. Ich bohrte in der Nase. Die Müdigkeit legte sich wie Senkblei auf meine Augendeckel. Ich funktionierte zombiegleich. Auch die Alten hatten ihren genauen Ablauf. Es kamen dieselben Fragen, derselbe Smalltalk, die immergleichen Verrichtungen: das Wechseln der Windeln, das Unterschieben der Steckbecken. Ich schaute in ihre Augen. Ich sah Leben. Aber die Nacht warf graue, fahle Schatten: Jeder lebte, gefangen in sich, und ich sah mir dabei zu, wie ich funktionierte: Was verwalte ich da eigentlich? Es geht immer weiter. Seit 15 Jahren sehe ich sie kommen und gehen, sterben. Ich spüre die Gleichgültigkeit. Ich spüre sie nicht nur bei mir. Vielleicht ist das der Anfang vom Tod, denke ich. Der Horror im TV lebt von Blut und Effekten, der Horror hier kommt wesentlich subtiler ...

Es ist der typische Nach-Nachtwachen-Blues. Mein Denken funktioniert irgendwie. Noch.
Letzte Woche stand ich wie konsterniert vorm Geldautomaten und konnte meine Geheimzahl nicht mehr abrufen. Wie war das möglich? Jahrelang hatte ich dieselbe Ziffernfolge automatisch eingetippt, und plötzlich stand ich vor dem Automaten wie ein ... Idiot! Mir fiel die Geheimzahl auch in den folgenden Tagen nicht ein, und nach einigen vergeblichen Versuchen beantragte ich eine neue Bankkarte. Es war, als ob ich etwas reales verloren hatte - einfach unbegreiflich, weil es bisher immer abrufbar da war.

Ich fühle mich müde. Das fette Grün grinst mir von Draußen zu. Es dringt noch durch zu mir wie die Blues Musik. Die Nachtdienste liegen hinter mir, und ich sortiere am Sonntagnachmittag meine Matschbirne, trinke inzwischen Cola-Weiß, auch wenn das wahrscheinlich nicht förderlich ist ...
Doch da scheiß ich drauf.

ein literarisches Tagebuch

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