Mittwoch, 5. Mai 2010

Wir sind Kohl

Da begeht einer seinen 80 sten, heute öffentlich, er führte 16 Jahre die Republik und ging als Kanzler der Deutschen Einheit in die Geschichte ein. Wenn ich diesen Menschen, alt und gebrechlich geworden, in der ersten Reihe sitzen sehe, habe ich Mitleid mit ihm, wie ich mit jedem meiner Altenbewohner(innen) Mitleid empfinde, weil ich jenseits von allem, was als böse oder gut gilt, einfach das Menschliche sehe.
Ich gönne ihm diese Feierlichkeiten, weil er sie, glaube ich, sehr genießt. Genau genommen werden die Grabreden und Lobhudeleien vorweggenommen. Nein, ich meine das nur halb zynisch, Herr Kohl. Sie wurden ein großer Mann der deutschen Geschichte, weil sie 4x die Wahlen gewannen. Ich wählte Sie nicht. Ich wählte auch Angela Merkel nicht. Durch Ihre Person und Kanzlerschaft wurde mir ... bewusst, wie es mit der deutschen Volksseele bestellt ist. Leidvoll erkannte ich, dass ich in meiner Heimat ewig zu den Verlierern gehören werde, weil die Mehrheit in diesem Land einfach anders tickt (ich ticke da irgendwie falsch). In den Siebzigern war Willy Brandt mein politischer Held, weil er sich nicht verbiegen ließ. In den Achtzigern war ich für Die Grünen, weil sie für mehr Umweltbewusstsein und Gerechtigkeit stritten. Helden sehe ich schon lange nicht mehr in der Politik. Aber ich hoffe, dass Die Linke sich etabliert und als Gegengewicht zu den kapitalistischen und konservativen Kräften peu à peu an Statur gewinnt.
Ich habe wenig Ahnung vom politischen Geschäft, aber was ich als durchschnittlich gebildeter Bürger über die Medien mitbekomme, lässt mich schaudern. Es bleibt nach wie vor das Gefühl, dass wir an der Nase herumgeführt werden. Vier Amtsperioden lang fühlte ich mich damals als Mensch und Bürger Deutschlands nicht repräsentiert - es war ein elendes Gefühl der Ohnmacht. 1983 durfte ich zum ersten Mal meine Stimme abgeben. Das Wählen wurde mir sehr früh vergällt. Wir reden heute von zunehmender Politikverdrossenheit - sehr geehrter Herr Kohl, für die Politikverdrossenheit, vor allem der jüngeren Generationen, tragen Sie die Verantwortung! Noch in den Siebzigern gab es gesellschaftsübergreifend ein größeres politisches Interesse als heute. Inzwischen sind wir müde, und Angela Merkel repräsentiert schon optisch diese Müdigkeit.
Aber, wie gesagt, Herr Kohl, Sie wurden gewählt! Meine Heimat ist Spießerland geblieben. Der Geist der 68 er ist heute kaum noch erkennbar. Die Grünen wurden immer schwärzer. Die SPD zahlt bitter dafür, dass sie die Kleinen Leute im Stich ließ. Und die CDU war für mich schon immer die Partei der Ewiggestrigen, welche sagt: "Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst ..." Kein Wunder, dass sie (normalerweise) mit der katholischen Kirche gut kann: Oberflächlichkeit und Materialismus werden gelebt, während man Werte wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit vorheuchelt.
Alles Gute zum 80 sten, Herr Kohl! Ich gratuliere und verneige mich vor Ihnen. Es ist ihr Durchstehvermögen, vor dem ich Respekt habe. Sie sind für mich ein "Monster deutscher Politik", inzwischen durch Ihre Vergreisung harmlos und mitleidenswert erscheinend, doch damals in den aktiven Zeiten hätte ich Sie am Liebsten mitsamt Oggersheim auf den Mond geschossen (nun werden mich wahrscheinlich die Oggersheimer lynchen).

Helmut Kohl ist ein sehr kranker, alter Mann. Er hat seinen Auftritt - wahrscheinlich den letzten. Das Publikum klatscht. Ich schaue in die betroffenen Gesichter.
Kohl sagt: "Der liebe Gott hat es mit mir gut gemeint." Er redet aus seinem Leben. Es ist wahrscheinlich das Bedeutendste und Ehrlichste, was er jemals zu sagen hatte.
Ich muss das jetzt abschalten.
Ich weiß nicht, ob mir gleich schlecht wird vor Abscheu ... oder Rührung.

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