Gewalt in Altenheimen


Neben dem Waschbecken war eine senkrechte Verstrebung. Die alte, ausgezehrte Frau hing in ihrem Nachthemd, das der Pfleger hochgezogen hatte und mit der Stange verknotet hatte. Sie trat auf der Stelle, knurrte vor sich hin, während er sie unten herum abschrubbte. Er gehörte zu den älteren Semestern unter den Pflegekräften, ca. fünfzig, ein kerniges Mannsbild, echte deutsche Kernseife, kerngesund. Wie hieß er noch mal? "Die Sau bleibt nicht ruhig stehen", erklärte er mir seine Maßnahme. Ich war Zivi in der ersten Woche und lief morgens mit ihm mit. Ich werde das Bild nie vergessen, wie die alte Frau in ihrem Nachthemd an der Stange hing und schäme mich noch heute dafür, dass ich damals nicht eingriff.
Ein anderes Erlebnis fieser Art hatte ich, als ich im selben Altenheim als Nachtwache arbeitete, um meine Studentenkasse aufzufüllen. Ich hatte mit einer älteren Krankenschwester Dienst, die einen Hass auf Männer hatte, ganz besonders auf Alkoholiker. Sie war von der Marke "alte Jungfer", und es machte ihr Spaß, besonders die männlichen Bewohner zu ärgern, die ihr Leben versoffen hatten und deswegen im Pflegeheim gelandet waren. Klaus war ein besonders armseliges Exemplar; er konnte nur noch heißer krächzen, man verstand ihn kaum. Sein ganzer Körper war von eitrigen Geschwüren übersät. Wir mussten ihm nachts die Windel wechseln, und wenn das eine Frau machte, kriegte er schon mal eine Erektion. Meine Kollegin verzog dann angewidert das Gesicht und schüttete ein Glas Wasser über seinen Schwanz. Mir war das Ganze nur peinlich.
Eine andere Altenpflegerin, mit der ich manchmal nach Feierabend ausging, hatte dagegen Mitleid mit Klaus und erzählte mir einmal, schon etwas angesäuselt, dass sie es ihm mit der Hand besorge ...

Das ist nun zwanzig Jahre her, und ich bin inzwischen selbst Altenpfleger, nachdem es mit dem Studieren nicht klappen wollte. Tagtäglich erlebe ich die viel subtileren Formen der Gewalt gegen Bewohner(innen) in Altenheimen. Dazu gehören die Vernachlässigung, die Verletzung der Intim- und Privatsphäre, verbale Einschüchterungen, unerlaubte und unsachgemäße Fixierungen, das Eintrichtern von Trinken und Essen, unsanfte Transfers (z.B. vom Rollstuhl ins Bett), unsanftes Drehen im Bett (so dass der Bewohner z.B. mit dem Kopf gegen die Wand knallt), Duschen und Baden gegen den Willen des Bewohners, das nächtliche "Kaltstellen" von Bewohnern, indem man im Winter die Fenster aufreißt (wörtliche Aussage einer Kollegin: "Mit frischer Luft schläft es sich besser"), Bewohner(innen) nachts "abtopfen" und sie im kalten Zimmer halbnackt auf dem Klostuhl sitzen lassen, Bewohner(innen) willkürlich in andere Zimmer verlegen, Bewohner(innen), die aufmucken, werden mit Medikamenten ruhig gestellt ...
Die Liste der Gewalt in Altenheimen ist lang. Unter den Mitarbeitern herrscht ein Schweigegelübde. Oft sind jene Pflegekräfte, die hart durchgreifen, bei ihren Chefs besonders beliebt, weil bei ihnen die Alten kuschen, und es keine Pflegeprobleme gibt. Mit der Zeit lässt dann auch die Sensibilität gegenüber solcherlei Übergriffen nach, und man hält es für vollkommen normal. Außerdem will man es nicht mit seinen Kollegen verderben; und ich erlebte bereits Fälle, wo diejenigen gehen mussten, die Gewalt am Bewohner beim Chef meldeten und nicht etwa der (mutmaßliche) Täter. Die Täter streiten natürlich den Vorwurf ab, und die Opfer sind meist die Demenzkranken, die sich nicht mehr äußern können ...

Es wäre schön, wenn sich die Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik etwas mehr über diese Missstände Gedanken machten. Ich stehe ohnmächtig vor dieser Problematik, und vielen Kollegen/Kolleginnen geht es ebenso. Auch gegen das Personal gibt es eine subtile Form der Gewalt, indem man mit dem Arbeitsplatz droht, oder indem man unbequemen Mitarbeitern durch dienstliche Schikanen das Leben erschwert.

(Mist, ich muss los, habe noch eine Nachtwache ...)
bonanzaMARGOT - 10. Dez. 07, 12:38

Beispiel Bierstedt


irie_ways - 10. Dez. 07, 21:03

Zum einen muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich kein guter Altenpfleger wäre, denn ich würde auch schnell meine Geduld verlieren, gerade bei Menschen die gewaschen werden müssen oder etwas essen sollen und sich dann dagegen wehren (vorallem, weil man ja auch nicht ewig Zeit hat für eine Person). Auf der anderen Seite würde ich natürlich niemals so einen Job annehmen, weil ich weiß, dass ich dafür nicht gemacht bin. Ich bewundere Menschen wie dich, die diese Fürsorge und Geduld besitzen um solch eine Tätigkeit ausführen.
Irgendetwas muss doch gegen diese Ohnmacht getan werden können? Spontan fällt mir nichts ein, aber sobald diese Realität mal "an die Öffentlichkeit" gerät, müsste sich doch automatisch etwas tun, weil früher oder später jeder Mensch einmal alt und pflegebedürftig wird und sich doch dann selbst sein Grab damit schaufelt, wenn er über das Alles hinwegsieht. So auf die schnelle fällt mir da auch nur ein heimlich gedrehtes "Schockvideo" ein, wo dann eben diese Gewalt mal aufgezeigt wird?

bonanzaMARGOT - 11. Dez. 07, 11:49

Hi irie,

seit vielen Jahren ist bekannt, dass Gewalt in Heimen und in der Pflege kein Ammenmärchen ist. Sie ist auch keine Einzelerscheinung, wie vorallem die Heimbetreiber uns immer wieder weis machen wollen. Gerade die subtilen Übergriffe im Pflegealltag, wie ich sie aufzähle, gibt es in nahezu jeder Pflegeeinrichtung. Ebenso wie die Gewalt gegen Kinder ein Skandal ist, ist die Gewalt gegen wehrlose Alte ein Skandal, von dem wir immer nur die Spitze des Eisberges erkennen. Es ist eine Schande, dass unsere Gesellschaft nicht in der Lage ist, ihre schwächsten Mitglieder ausreichend zu schützen und sie würdevoll zu behandeln. Es ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit!
Während man die Privatbereiche wirklich schwer einsehen kann, so könnte man doch wenigstens die vielen Pflegeheime besser kontrollieren. Ich wäre z.B. dafür, dass jedes Pflegeheim sporadisch und unangemeldet Besuch von der Heimaufsicht bekommen kann - besser noch wäre es, wenn man in auffällige Heime einen Mitarbeiter einschleusen würde, der die "wahren Zustände" direkt in der Arbeitssituation des Pflegepersonals wahrnehmen könnte. Außerdem vermisse ich in vielen Heimen die Möglichkeit der Supervision. Supervision sollte Pflicht sein. Ebenso sollten regelmäßige Fortbildungen Pflicht sein.
Die Arbeitgeber wollen das Heim voll haben und gleichzeitig am Personal sparen. Jedem klar denkenden Menschen dürfte aufgehen, dass darunter die Qualität der Pflege leidet. Und es ist ebenso klar, dass die gewaltsamen Übergriffe mit den schlechten Arbeitsbedingungen korrelieren. Ich würde behaupten, dass die meisten Gewalthandlungen und verbalen Entgleisungen aus einer Überforderungssituation der Pflegenden resultieren. Dazu kommt dann der Charakter, die Persönlichkeit des Einzelnen. Leider gibt es unter den Pflegenden auch Sadisten und Menschen, die für den Beruf absolut nicht geeignet sind.
Der geborene Altenpfleger bin ich sicher auch nicht. Ich bin bestimmt kein Engel. Doch ich gebe mir große Mühe, dass ich meine menschliche Sicht bewahre und die Alten mit Güte und Respekt behandle, so weit es mir möglich ist ... auch meine Geduld hat ihre Grenzen, auch ich bin manchmal überfordert, und meine Nerven werden auch nicht besser. Ich würde mir für mich und meine Kollegen/Kolleginnen mehr Unterstützung von unserem Arbeitgeber wünschen, in Form von Supervision, besserer Organisation, besserem Personalschlüssel, besserem Material, mehr Fortbildungsangeboten und auch einem besserem Gehalt - kurz: Alles sollte besser werden.
Mein Arbeitgeber würde mich auslachen, wenn ich diese Forderungen stellte ... denn freilich gibt`s für alles kein Geld, und er würde mir erklären, dass man sogar noch Abstriche machen müsse, wir sollten doch froh sein, dass wir noch auf einem relativ hohen Niveau pflegen ...; und meine PDL (Pflegedienstleitung) würde seinen Worten beipflichten und zum zigsten Male ihren Spruch wiederholen: "Bald wird hier ein rauherer Wind wehen!"
So ist es jedesmal bei den Dienstbesprechungen - wie geprügelte Hunde verlassen wir die Veranstaltung; und ich sage dem Heimleiter und der PDL noch zum Abschied: "Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eklatant auseinander, wie soll man unter diesen Bedingungen gut pflegen?" Meine PDL schaut mich an, als wolle sie sagen: "Du Idiot! Ich habe dich für intelligenter gehalten." Und der Heimleiter sagt achselzuckend: "Dafür ist die Politik zuständig. Wir müssen den Laden am Laufen halten. Es sind eure Arbeitsplätze."
Nach solchen Dienstbesprechungen habe ich immer große Lust mich zu besaufen. Offensichtlich muß man sich in die Tasche lügen, denn der Kampf für eine menschlichere Pflege erscheint wie ein Kampf gegen Windmühlen.
Viele meiner Kollegen und Kolleginnen haben sich längst mit der Situation im Heim abgefunden - aus Selbstschutz.
Und die Alten haben keine Stimme - es zählen die belegten Betten.
Auch ich mache nichts anderes als reden. Ich möchte ... ach, was weiß ich, was ich will ... ich bin ziemlich desillusioniert.

F.
erbsenrot - 12. Dez. 07, 23:49

Danke

Ja, es stimmt was du schreibst, bon ... so erlebe ich es auch. Es ist grausam und traurig. Ein Teufelskreis, der ohnmächtig und verzweifelt immer weiter rotiert. Wer oder was kann ihn aufbrechen?

Dein Text gehört auf die ersten Seite der größten Tageszeitung Deutschlands!

bonanzaMARGOT - 13. Dez. 07, 13:03

Danke dir Erbsenrot,

dass du die Mißstände und die Lügen auch siehst. Denn manchmal habe ich das Gefühl, mir vielleicht alles nur einzubilden oder zu übertreiben ... . Es ist schwer auszuhalten, wenn man darüber nachdenkt.

Lieben Gruß

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