Der Schreihals aus Zi 317
Unter dem Dach in Zimmer 317 wohnt ein Schreihals. Ich höre ihn schon kreischen, wenn ich mit dem Fahrrad vor dem Altenheim einbiege. Er hat eine kräftige Stimme. Wenn er etwas will, schreit er, als würde er abgestochen. Auf die Frage, warum er denn schreie, antwortet er oft ganz unschuldig: "Ich habe nicht geschrieen." Wie ein Walross liegt er im Bett. Ich kann ihm nicht böse sein. Er ist ein Riesenbaby, um die Siebzig, das wir umhegen und pflegen. Dreimal in der Woche wird er frühmorgens zur Dialyse abgeholt und muss von den Nachtwachen gewaschen werden. Ich fordere ihn auf, Oberkörper und Gesicht selbst zu waschen und stülpe den Waschlappen über seine wulstigen Finger. Er fährt damit kurz über sein Gesicht und reicht ihn mir mit einem auffordernden Blick zurück. Stirnrunzelnd frage ich ihn, ob er es nie gelernt hätte sich zu waschen. "Nein", antwortet er mir knapp. Er ist überhaupt wortkarg. Die Waschprozedur kann ihm nicht schnell genug gehen, denn er interessiert sich nur für das Frühstück, das mein Kollege für ihn zubereitet. Es ist kurz nach fünf. Müde wie ich bin, will ich mit meiner Arbeit vorankommen. Nach 15 Minuten sitzt der knuffige Kerl komplett angezogen und rasiert vor seinem Frühstück.
Im Pflegearbeitsraum, der auch unter dem Dach liegt, beginnen mein Kollege und ich mit unseren Eintragungen am PC. Kaum sitzen wir, höre ich jemanden wie am Spieß schreien. Als ich das Zimmer des Schreihalses betrete und frage, was los sei, sagt der mit marmeladeverschmiertem Mund: "Ich bin fertig." "Okay", grinse ich bei seinem Anblick und räume das Frühstückstablett ab.
Im Pflegearbeitsraum, der auch unter dem Dach liegt, beginnen mein Kollege und ich mit unseren Eintragungen am PC. Kaum sitzen wir, höre ich jemanden wie am Spieß schreien. Als ich das Zimmer des Schreihalses betrete und frage, was los sei, sagt der mit marmeladeverschmiertem Mund: "Ich bin fertig." "Okay", grinse ich bei seinem Anblick und räume das Frühstückstablett ab.
bonanzaMARGOT
- 29. Sep. 07, 17:20
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
AbendGLÜCK
Gruß von Amaretta
Lass das besser
Im Altenheim werden nur jene Bewohner "glücklich", die wenig Ansprüche stellen und sich gut eingewöhnen. Für einige ist das Altenheim der Rettungsanker heraus aus der Verwahrlosung und Vereinsamung zuhause. Die meisten allerdings, und damit meine ich besonders die oben angeführten Demenzkranken und schweren Pflegefälle, werden vernachlässigt und als Last empfunden.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich arbeite in einem Armenhaus - mit dem Unterschied, dass wir zu einem guten Teil schwere Pflegefälle zu versorgen haben und mit Begriffen wie "Qualitätssicherung", "Fehlermanagement", "Pflegeprozeß" etc. um uns werfen. Mit einem großen Dokumentationsaufwand werden allerdings die eigentlichen (menschlichen und fachlichen) Mängel kaschiert und keineswegs offengelegt.
Für Typen wie den Schreihals, die in ihrem Leben nie selbständig waren, ist der Aufenthalt bei uns wahrscheinlich nicht das Schlechteste. Sie kennen es nicht anders.
Wer die Asche hat, sollte sich zuhause pflegen lassen oder sich in eine dieser Luxus-Seniorenresidenzen einkaufen.
Schönen Sonntag
F.
Hi bon
Die Erzählung war auch mit Sympathie für den Menschen "Schreihals" geschrieben, so kam sie jedenfalls bei mir an. Das hat mir gefallen.
Danke für den Tipp, ich werde schon mal anfangen zu sparen.
Herzlichen Gruß von Amaretta
An jedem Menschen gibt es etwas reizvolles zu entdecken - genug um ihn zu mögen. Genug, um ihm seine Würde zu lassen. Genug für etwas Verständnis.
Nein, ich würde mich nicht für meine Mitmenschen aufopfern, und ich glaube auch nicht, dass ihnen das gut täte.
F.