Die Frau aus Zimmer xxx
Ich denke an die Frau, die seit ca. 15 Jahren künstlich ernährt wird, dauerhaft liegt, durch die Dinge hindurch sieht wie ein Wachkomapatient – nun, sie dürfte etwa auf demselben Level sein. Sie bekam bereits früh die Alzheimerkrankheit, da war sie gerade Fünfzig. Inzwischen ist sie Siebzig und übertraf ihre krankheitsbedingte Lebenserwartung bereits um mehrere Jahre. Ich versuche manchmal, ihren Blick aufzufangen, aber der ist trotz offener Augen nach Innen gerichtet. Die Welt um sie herum kann sie nicht erkennen. Doch sie merkt, wenn etwas mit ihr passiert, und wahrscheinlich spürt sie ebenso die Anwesenheit einer Person an ihrem Bett. Ihre Augen zucken, wenn ich sie anfasse, aber sie beruhigt sich gleich, wenn ich sie streichele, ihre Gesichtszüge entspannen sich. Ab und zu brummt sie wie ein Tier. Und manchmal zuckt ihr ganzer Körper unwillkürlich. Sie ist allem ausgeliefert. Oft verschluckt sie sich am eigenen Schleim und hustet, dass ihr Kopf rot anläuft. Wenn es ganz schlimm ist, müssen wir den Schleim absaugen. Sie könnte ersticken. Vielleicht wird sie daran eines Tages sterben, - wenn sie nicht mehr stark genug ist, das Sekret abzuhusten, ... oder durch eine Lungenentzündung. Allein die künstliche Ernährung erhält sie am Leben. Sie bekam einige Fettpölsterchen. Früher war sie schlank und rank. Ich erinnere mich an Photos von ihr, die an der Wand hingen. Schon lange sehe ich keine persönlichen Dinge mehr in ihrem Zimmer. Die Angehörigen kommen seit vielen Jahren nicht mehr. Auch die alte Schulfreundin, die noch zu Besuch an ihr Bett kam, bleibt inzwischen weg. Vor wenigen Wochen hatte sie Geburtstag, wurde Siebzig. Ein paar Kollegen sangen an ihrem Bett „Happy Birthday“.
Sie kam im selben Jahr ins Altenheim, als ich anfing, 1995. Nun haben wir 2012. Mal sehen, wer von uns beiden früher geht. Sie überlebte bereits eine Menge Mitbewohner. Sicher ist sie ein Sonderfall, weil sie so jung an Alzheimer erkrankte.
Ich lagere sie in den Nächten, sauge sie ab, hänge am Morgen die erste Sondennahrung an. Ich empfinde Mitleid und Zuneigung – aber auch eine schier unerträgliche Traurigkeit. Es ist Routine. Ich kann meine Seele nur einen Spalt öffnen, sonst wird es zu viel.
Die Frage nach dem Sinn ergibt sich. Warum pflegen wir Menschen diese Frau elendiglich langsam zu Tode? Wäre es nicht menschlicher, sie endlich sterben zu lassen, indem man die künstliche Ernährung abstellt, und keine Medikamente mehr gibt? Ich verstehe diese Grausamkeit nicht, die wir von Gesetzes wegen an der Frau vollziehen. Niemals kann ich ganz wegschauen. Niemals werde ich die Widersprüchlichkeit menschlichen Tuns verstehen. Oft entheiligen die Mittel den Zweck. Und wir Menschen schauen einigermaßen ratlos zu, wenn es passiert …, oder wir schauen lieber weg.
Von uns Pflegekräften wird verlangt, dass wir pflegen ... auf Teufel komm raus. Wir sollen an dieser Front zwischen Leben und Tod funktionieren wie Soldaten, pflichtergeben und am Besten, ohne Fragen zu stellen. Mein Arbeitgeber bietet keine Supervision an. Aber er ist fleißig darin, Stellen abzubauen. Von den Mitarbeitern wird hohes Engagement verlangt. Sie sollen sich aufopfern – ist ja schließlich für eine gute Sache! Wir pflegen und betreuen Alte und Kranke. Es ist eine Ehre, an dieser Front kämpfen zu dürfen und sich für eine Gesellschaft der Weggucker aufzuopfern.
Die Frau aus Zimmer xxx hat keine eigene Stimme mehr. Sie ist der Idiotie unserer Welt gnadenlos ausgeliefert.
bonanzaMARGOT
- 11. Aug. 12, 14:39
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
Ein Fluch
ja..die arme Frau - gefangen in einem Körper mit minimal funktionierenden Geist - ein Fluch. Wer von solch einem Schicksal hört oder liest, wird sich vom TOD, wenn er dann schon an seiner Schwelle steht, das er sofort seine Sense über die letzten Stunden des Leben zieht und es mit einem kurzen Ruck beendet. Zumindest geht es mir so.
Wäre ich gläubig, würde ich Gott jeden Tag für seine Gnade danken, die er für mich übrig hat und mich körperlich und geistig gesund im Leben lässt.
Sicher hast du von dem genialen Mann auch im TV gesehen und gehört, dessen Körper komplett verkrüppelt ist, er nur maximal in der Lage ist, mit den Augen zu zwinkern. Doch sein Geist ist gesund, denn sein fast bewegungsloser Körper brachte ihn sozusagen in eine Zwangsmeditation. Also ein Leben ohne Hetze und Termindruck, wie wir es manchmal kennen. Aus ihm ist ein genialer Wissenschaftler geworden und eine Familie konnte er auch gründen.
Da kann man wieder sehen, welche herausragende Rolle ein funktionierender Geist für einen Menschen inne hat. Spielt der Geist nicht mehr mit, liegt der Körper brach. Umgekehrt kann es zu einer Genialität führen.
Ich glaube, in den Medien wird gegenwärtig über Sterbehilfe disskutiert. Ich denke, dieses Thema wird mit den weiter fortschreitenden medizinischen Fähigkeiten immer wichtiger.
Nicht selten kann die Medizin einen Menschen über lange Zeit an seinem nahen Abgrund halten, ja er kann sogar schon frei darüber schweben und die Medizin hat immer noch ein Ass im Ärmel, um dem Übergang zum endgültigen Sterben hinaus zu zögern und das ist nicht immer im Sinne des Erkrankten, wie im Falle der 70 jährigen alten Dame. Sie hätte sich sicher ein anderes Ende gewünscht, als so lange in einem Zwischenstadium aufgehalten zu werden. Würde sie sich bewegen können, hätte sie schon etwas zombiehaftes.
Ich weiß nicht, ob es vor 20 Jahren schon Patientenverfügungen gab. Vor 20 Jahen beschäftigte ich mich mit dem Thema Lebensende noch nicht.
Aber das Beispiel der alten Dame zeigt wieder, wie wichtig es ist, damit der Fluch des halbtoten Daseins den wehrlosen Körper nicht überschattet.
Auf der anderen Seite frage ich mich, wer sollte bei dieser Dame jetzt den Stecker ziehen? Ich glaube, selbst wenn es erlaubt wäre, ein Freiwilliger würde sich nur schwer finden. Dazu gehört Mut und die Fähigkeit zum beherzten Handeln.
LG LaWe
liebe lawe
aber wir können personalbedingt nur das nötigste tun. solche menschen bräuchten eine speziell ausgerichtete pflege, die wir aus personalmangel und aufgrund dem fehlenden hintergrundwissen gar nicht leisten können.
kein mensch zahlt das. außer du bist reich und selbstzahler. dann kannst du deinen angehörigen in einer speziellen einrichtung mit allem pi pa po unterbringen.
das dahinvegetieren wie im falle dieser frau finde ich menschenunwürdig und grausam. unserem geliebten haustier hätten wir schon längst den gnadentod gegönnt.
ich kann die angehörigen verstehen, die nicht mehr zu besuch kommen. es muss für sie unerträglich schmerzhaft sein, ihre mutter in diesem zustand "leben" zu sehen.
es wäre sicher ein langer juristischer kampf, das absetzen der künstlichen ernährung durchzusetzen, wenn kein patiententestament vorliegt. nicht jeder kann die kraft und das geld dafür aufbringen.
die sterbehilfe-debatte ist ein dauerbrenner. es ist natürlich ein haariges thema, wenn man an die euthanasie-geschichte der ns-zeit denkt. ich weiß auch keine allgemeingültige lösung.
mit dem patiententestament ist man schon mal einen schritt weiter in richtung selbstbestimmtes sterben.
auch heute kann ich mir einen mißbrauch von sterbehilfe vorstellen - wenn auch aus anderen gründen wie damals in der ns-zeit. wie bei dem transplantations-skandal ginge es ums liebe geld und um status.
ja, solange man noch einen gesunden geist hat, da kann die technik wie im falle des physikers stephen hawking ein segen sein.