Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
Der Schleim brodelte und spritzte bei jedem Hustenanfall aus der gebogenen Tracheakanüle. Wir mussten den Bewohner häufig absaugen. In den Nachtdiensten ließ ich seine Zimmertür offen, damit ich die Atemgeräusche hören konnte. Vor drei Tagen verstarb er. Wir waren auf dem Windelrundgang gewesen, und als wir zu seinem Zimmer kamen, um ihn zu lagern und zu versorgen, sagte meine Kollegin, die in der Tür stand: "Felix, komm mal ..." Wie meine Kollegin sah ich auf den ersten Blick, dass Herr H. gestorben war. Ich sah es nicht nur , ich spürte es irgendwie. Es war diese "Ruhe".
Nein, er war nicht erstickt. Seine Augen waren geschlossen, seine Gesichtszüge entspannt.
Ich war dem Leben dankbar, dass es diesen Menschen nicht mehr plagte. Niemals werde ich seine aus Angst aufgerissenen Augen vergessen, seinen verzweifelten Blick, wenn wir ihn windeln mussten, ihn drehen mussten. Oft lag er bereits blau angelaufen in seinem Schweiß und wäre fast an seinem Schleim erstickt. Niemals werde ich dieses Brodeln, sein Ringen nach Luft vergessen, sein blaurotes Gesicht und die Schweißperlen auf seiner Stirn. Mein Mitleid half ihm nicht viel. Es war ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn ich ihn in den Arm nahm, wenn ich ihn streichelte, ihn beruhigte, um ihm die Angst zu nehmen. Man gewöhnt sich auch an das Leid. Man gewöhnt sich an die Grausamkeit des Lebens.
Oft fragen wir uns, warum manche Menschen derart leiden müssen. Wir haben keine Antworten.
Die Angehörigen hoffen oft noch auf Besserung. Wer soll es ihnen verdenken? Im Falle von Herrn H. war der Tod eine Erlösung. Ich glaube, ich darf das sagen. Er schlief ein. Vielleicht ist er jetzt an einem Ort, wo er Antworten auf all die quälenden Fragen des Seins erhält.
Ich werde noch viele Menschen sterben sehen. Und auch die Angst, die Verzweiflung und die Ohnmacht dabei erleben. Und die Suche nach Trost.
Der Dezember entwickelte sich mit den Jahren für mich mehr und mehr zum Unmonat.
Drei Termine, die sich mit meiner Lebenseinstellung schwer vereinbaren lassen: Geburtstag, Weihnachten, Silvester.
Den Geburtstag feiere ich nicht, weil ich spätestens, seit ich altersmäßig die Mitte des Lebens überschritt, mir Jahr für Jahr bewusster wird, wie elend das Leben ist. Die Träume gehen den Bach runter, und das Ableben rückt unweigerlich näher. Warum soll ich einen Tag feiern, der das alles sozusagen eröffnete?
Weihnachten ist für mich der Inbegriff gesellschaftlicher Doppelmoral. Man macht auf Friede-Freude-Eierkuchen, während die ärmsten der Armen quasi vor der Haustüre verrecken. Die Familien schließen ihre Türen ab und feiern ihre ganz eigenes Fest der Liebe, das Fest der unsinnigen Geschenke, des Kommerzes und der Völlerei. Und die Kirchen sind wenigstens einmal im Jahr übervoll.
Mich erfasst Ekel, wenn ich an Weihnachten denke. Dies ist nicht meine Ethik!
Silvester bildet den krönenden Abschluss, als müssten die Menschen mit der Knallerei landein, landaus noch eins draufsetzen, als hätten sie noch nicht genug abgefeiert und gefressen, als müssten sie sich selbst zeigen, wie stolz sie auf ihre Leistungen sind. Schlimmer geht`s nimmer, würde ich sagen.
Silvester ist auch der Tag der guten Vorsätze und Wünsche für`s nächste Jahr. Ich wünsche mir, dass dieser Irrsinn und diese Verlogenheit endlich aufhörten, denn jedes Jahr wird mir übler, nicht nur im Unmonat Dezember.
Insofern bin ich ganz froh, dass ich heute am Silvestertag Nachtdienst im Altenheim schiebe. Die meisten Alten sind demenzkrank und verschlafen Silvester. Die Knallerei könnte manche verängstigen - sie fühlen sich an den Krieg erinnert. Wie jede Nacht hoffe ich, dass ich den Notarzt nicht brauche und die Bewohner am nächsten Morgen noch alle lebendig in den Betten liegen. Ich spüre nichts besonderes mehr, wenn die Uhr Zwölf schlägt. Aus Höflichkeit stoße ich mit meiner Kollegin an und wünsche den Alten, die wach sind, ein Gutes Neues Jahr.
Da ich schon mal dabei bin: Liebe Blog-Leser, auch euch einen guten Rutsch. Bleibt gesund und werdet nicht so kauzig wie ich.
Ich werde mich mit dem Tod und dem Sterben nie abfinden. Es ist nicht die Trauer. Die Verluste schreibt nicht nur der Tod. Wenn ich nach ein paar Tagen Frei ins Altenheim zurückkomme und in den Betten mancher Bewohner(innen) liegen fremde Gesichter; Gesichter, die mir bald ebenso vertraut sind wie die der Verstorbenen - so ist das an sich nichts Ungewöhnliches im Altenheim, sogar staune ich über die Alltäglichkeit des Todes - warum ich mich mit ihm nicht abfinden will, ist die Absurdität der Existenz, welche mir durch sein Auftreten wie ein überdimensionales Fragezeichen ins Bewusstsein rückt. Wozu die ganzen Mühen und Qualen, wozu der Ehrgeiz und das Suchen nach Glück, wenn der Tod allem mit einer fahrigen Handbewegung schlicht ein Ende setzt, als wäre nichts von alledem von Bedeutung, höchstens als Durchhaltestrategie ersonnen. Wozu? Wie viele Menschen sah ich sterben in den 20 Jahren Altenpflege? Zahllose Gesichter und Namen sehe ich vor mir. Einige starben wie vom Blitz getroffen und andere warteten Monate, sogar Jahre an der Rezeption des Todes. Kein Flehen und kein Bitten half, der Tod wollte sie lange nicht zu sich holen, als hätte er sie vergessen, oder als hätten sie etwas abzubüßen. Und als wir es schon gar nicht mehr erwarteten, nahm er sie doch zu sich. Wie viel Leiden sah ich in diesen Jahren? Menschen litten grausam, ohne dass sie eine Sprache hatten. Ich stand an ihren Betten und fragte mich: Wozu? Der Tod und das Sterben machen das Leben absurd. So denke ich, weil ich ein Mensch bin. Nur Menschen schreiben darüber Gedichte.
Ich arbeite an der Rezeption des Todes. Das ist ein Ort, an dem es nicht wirklich eine Zeit gibt. Der Tod ist grausam, wenn er die Menschen warten lässt. Das Leben ist nur ein Haus. Und der Tod rückt vor. Das eine Mal plötzlich und das andere Mal wie ein Schatten, der sich beinahe unmerklich ausbreitet. Wenn ich ihn wachsen sehe in den Menschen, wie seine Hand in ihnen wühlt - als würde er sie bei lebendigem Leibe ausweiden - dann wird mir klar, wie klein ich bin, und wie achtlos und dumm als Mensch ... . Auch ich werde eines Tages an der Rezeption des Todes ankommen, ohne Dienstkleidung, nackt, alt, krank und gebrechlich. Dann soll er mich nehmen, der Hund! Wozu sich wehren?
Bis dahin sehe ich mit an, wie die Anderen sterben, und grübele ..., und erinnere mich an ihre Wärme und den Glanz ihrer Augen, so wunderbar, jedes Leben.
"... der Rettungssanitäter sagte, dass er am Wochenende neun Tote hatte, alles Selbstmorde. Auch hatte sich eine alte Frau auf ihren Balkon gelegt in der Absicht zu erfrieren."
"Bei uns (im Altenheim) sind sie wenigstens nicht allein", sagte ich zu meiner Kollegin.
Wir hatten morgens um vier Uhr den Notarzt gerufen, weil eine Bewohnerin akute Atemnot hatte. Sie war bereits blau im Gesicht, und ihre Hand, als ich sie berührte, kalt. Sie brodelte und konnte kaum sprechen. An den Mundwinkel und Nasenlöchern hatte sich Schaum gebildet. Wir säuberten sie und gaben ihr Sauerstoff, bis der Notarzt kam. Meine Kollegin kümmerte sich darum, während ich den Rest vom Windelrundgang erledigte. Die Frau wurde abtransportiert. Der junge Notarzt war sehr ungehalten. Er kannte unsere Bewohnerin schon. "Es ist immer dasselbe", sagte er, warum wir nicht den Hausarzt angerufen hätten. Meine Kollegin zuckte mit den Schultern. Es war 4 Uhr in der Nacht. Wir waren ziemlich müde, denn wir hatten viel Lauferei und einige Betten zu beziehen. Bestimmt riefen wir nicht aus Jux und Tollerei den Notdienst.
Der Rettungssanitäter erzählte meiner Kollegin von den sich häufenden Selbstmorden zur Weihnachtszeit. Währenddessen wechselte ich die letzten Windeln und machte einen Einlauf ... .
Der Mond war hinter dem Haus aufgegangen, direkt über dem Krankenwagen.
der Mensch fällt wie ein Puzzleteil aus dem Bild / wo ist mein Bild? / nichts passt mehr / die Zeit erlischt wie eine Kerze / die Orte fremd / dein Gesicht ist ein lachender Stern / deine Hand legt sich auf meine Seele / wo bin ich? / seit wann bin ich hier? / du führst mich und bist sehr freundlich / ich bin dir dankbar / wo bin ich? / seit wann bin ich hier? / auch grobe Hände kommen zu mir / und Gesichter wie Teufel / in meinem Niemandsland / in meinem Labyrinth bin ich verloren ohne die Liebe / die Nacht macht mich besonders verloren ...
Neben dem Waschbecken war eine senkrechte Verstrebung. Die alte, ausgezehrte Frau hing in ihrem Nachthemd, das der Pfleger hochgezogen hatte und mit der Stange verknotet hatte. Sie trat auf der Stelle, knurrte vor sich hin, während er sie unten herum abschrubbte. Er gehörte zu den älteren Semestern unter den Pflegekräften, ca. fünfzig, ein kerniges Mannsbild, echte deutsche Kernseife, kerngesund. Wie hieß er noch mal? "Die Sau bleibt nicht ruhig stehen", erklärte er mir seine Maßnahme. Ich war Zivi in der ersten Woche und lief morgens mit ihm mit. Ich werde das Bild nie vergessen, wie die alte Frau in ihrem Nachthemd an der Stange hing und schäme mich noch heute dafür, dass ich damals nicht eingriff.
Ein anderes Erlebnis fieser Art hatte ich, als ich im selben Altenheim als Nachtwache arbeitete, um meine Studentenkasse aufzufüllen. Ich hatte mit einer älteren Krankenschwester Dienst, die einen Hass auf Männer hatte, ganz besonders auf Alkoholiker. Sie war von der Marke "alte Jungfer", und es machte ihr Spaß, besonders die männlichen Bewohner zu ärgern, die ihr Leben versoffen hatten und deswegen im Pflegeheim gelandet waren. Klaus war ein besonders armseliges Exemplar; er konnte nur noch heißer krächzen, man verstand ihn kaum. Sein ganzer Körper war von eitrigen Geschwüren übersät. Wir mussten ihm nachts die Windel wechseln, und wenn das eine Frau machte, kriegte er schon mal eine Erektion. Meine Kollegin verzog dann angewidert das Gesicht und schüttete ein Glas Wasser über seinen Schwanz. Mir war das Ganze nur peinlich.
Eine andere Altenpflegerin, mit der ich manchmal nach Feierabend ausging, hatte dagegen Mitleid mit Klaus und erzählte mir einmal, schon etwas angesäuselt, dass sie es ihm mit der Hand besorge ...
Das ist nun zwanzig Jahre her, und ich bin inzwischen selbst Altenpfleger, nachdem es mit dem Studieren nicht klappen wollte. Tagtäglich erlebe ich die viel subtileren Formen der Gewalt gegen Bewohner(innen) in Altenheimen. Dazu gehören die Vernachlässigung, die Verletzung der Intim- und Privatsphäre, verbale Einschüchterungen, unerlaubte und unsachgemäße Fixierungen, das Eintrichtern von Trinken und Essen, unsanfte Transfers (z.B. vom Rollstuhl ins Bett), unsanftes Drehen im Bett (so dass der Bewohner z.B. mit dem Kopf gegen die Wand knallt), Duschen und Baden gegen den Willen des Bewohners, das nächtliche "Kaltstellen" von Bewohnern, indem man im Winter die Fenster aufreißt (wörtliche Aussage einer Kollegin: "Mit frischer Luft schläft es sich besser"), Bewohner(innen) nachts "abtopfen" und sie im kalten Zimmer halbnackt auf dem Klostuhl sitzen lassen, Bewohner(innen) willkürlich in andere Zimmer verlegen, Bewohner(innen), die aufmucken, werden mit Medikamenten ruhig gestellt ...
Die Liste der Gewalt in Altenheimen ist lang. Unter den Mitarbeitern herrscht ein Schweigegelübde. Oft sind jene Pflegekräfte, die hart durchgreifen, bei ihren Chefs besonders beliebt, weil bei ihnen die Alten kuschen, und es keine Pflegeprobleme gibt. Mit der Zeit lässt dann auch die Sensibilität gegenüber solcherlei Übergriffen nach, und man hält es für vollkommen normal. Außerdem will man es nicht mit seinen Kollegen verderben; und ich erlebte bereits Fälle, wo diejenigen gehen mussten, die Gewalt am Bewohner beim Chef meldeten und nicht etwa der (mutmaßliche) Täter. Die Täter streiten natürlich den Vorwurf ab, und die Opfer sind meist die Demenzkranken, die sich nicht mehr äußern können ...
Es wäre schön, wenn sich die Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik etwas mehr über diese Missstände Gedanken machten. Ich stehe ohnmächtig vor dieser Problematik, und vielen Kollegen/Kolleginnen geht es ebenso. Auch gegen das Personal gibt es eine subtile Form der Gewalt, indem man mit dem Arbeitsplatz droht, oder indem man unbequemen Mitarbeitern durch dienstliche Schikanen das Leben erschwert.
(Mist, ich muss los, habe noch eine Nachtwache ...)
Bereits die 3. Nacht nach dem Urlaub. Alles beim Alten. Etwas gelangweilt. Die Arbeit wie immer ätzendes Windeln-Wechseln. Gut tun die menschlichen Berührungen.
Die Alten, die Kolleginnen und Kollegen. Ab und zu gibt`s auch was zu lachen. Das Fernsehprogramm weniger.
Der Kühlschrankinhalt auch nicht.
Wir ächzen uns durch die Nächte. Mitunter müde und tranig. Manchmal auch eilig. Das beste draus machend.
Seit kurzem müssen wir, die Nachtwachen, den Schreihals unterm Dach jeden Morgen und nicht nur an seinen Dialysetagen waschen und anziehen. Der Tagdienst drückte ihn uns auf die Backe. Es war abzusehen, da der Nachtdienst sowieso unter dem Generalverdacht steht, er hätte jede Menge Zeit und sich an der Aufgabenbewältigung stärker zu beteiligen. Das Stellen der Medikamente sowie das Überprüfen der Apothekenlieferungen und Einräumen der Medizin in die Bewohnerboxen wurde uns außerdem vor einiger Zeit aufgebürdet. Ich möchte kein Klagelied der Nachtwachen anstimmen, aber ich finde die Haltung einiger Kollegen und Kolleginnen gegenüber der Leistung des Nachtdienstes schlicht unverschämt und diskriminierend. Wir sind in der Nacht zu Zweit für das gesamte Haus verantwortlich - die Versorgung der Pflegefälle aufgrund von Inkontinenz (Wechseln der Windeln) und Immobilität (Lagerungen) ist kein Zuckerschlecken; zudem haben wir für die Sicherheit der altersverwirrten/dementen Bewohner zu sorgen, die zu gern die Nacht zum Tage machen. Von den möglichen Notfällen ganz zu schweigen ... . Nach etlichen Jahren im Nachtdienst sehe ich das Hin und Her zu unseren Pflichten in der Nacht etwas gelassener. Doch als mir bei der Übergabe (ganz nebenbei) gesagt wurde, dass wir Herrn LB nun jeden Tag zu waschen hätten, schwollen mir die Halsschlagadern.
Eine für mich nachvollziehbare Begründung wurde mir nicht geliefert. Nicht mal von meiner PDL.
Immerhin fügte sie hinzu, dass wir Herrn LB, falls er fest schliefe, nicht aus dem Schlaf reißen müssten.
"Das ist doch selbstverständlich", sagte ich nur. Mir ist klar, dass eine Weigerung des Nachtdienstes nur dazu führen würde, dass uns die PDL andere Arbeiten zuweisen würde (wie z.B. Rollstühle reinigen). Da wasche ich lieber den Schreihals um fünf Uhr und ärgere ihn ein bisschen damit, dass er sich selbst Gesicht und Arme waschen soll - er kann das nämlich - wir nennen das aktivierende Pflege.
Seine Faulheit amüsiert mich. Erst heute Morgen meinte er, während ich ihm den Hintern wusch: "Wie lange?" Ihm geht es nämlich nicht schnell genug. Ich antwortete: "Bis Sie sauber sind, Herr LB."
(PDL - Pflegedienstleitung)
boMA träumt in einem Gedicht von einem kreuzfahrenden Altenheim. Das wäre dann die MS Abendglueck. Nicht schlecht die Vorstellung, in meiner Freizeit aufs Meer zu blicken - die Welt bereisen und mit den Alten, die noch transportfähig sind, Landausflüge machen.
Eine hochbetagte Dame (über 90), die erst seit wenigen Monaten bei uns Bewohnerin ist, erzählte eines Abends meiner Kollegin und mir, dass sie mit ihrem Lebensgefährten zusammen die letzten 20 Jahre auf Kreuzfahrtschiffen über alle Weltmeere schipperte, bis aufgrund ihrer Gesundheit ein Krankenhausaufenthalt in der Heimat nicht mehr aufschiebbar war . Obwohl sie schon das ein und andere durcheinander bringt, schwelgte ich schnell mit ihr in ihren Erinnerungen und abenteuerlichen Erzählungen. Ein ganzes Jahrhundert sprudelte aus der alten Frau! Meine Kollegin und ich hörten gebannt zu, bis uns die Pflicht in Form einiger Klingeln wieder auf den Plan rief.
Manchmal erinnert mich mein Arbeitsplatz Altenheim an ein Schiff, eine Arche, die gestrandet am Berghang liegt. Die Bewohner sind verdammt, bis an ihr Lebensende an Bord zu bleiben. Das Altenheim ist zu einer ganz eigenen Welt geworden, und das Personal fährt mit auf den vielen letzten Reisen - begleitend, helfend aber auch oft ohnmächtig und beinahe verzweifelt. Der Tod ist das Meer um uns herum ... dieses Jahr holte er sehr viele unserer Bewohner und Bewohnerinnen zu sich.
"Es geht immer weiter", sagte ich zu meiner Kollegin.
"Und wir sind dabei."
"Ja, auf alle Fälle ..."
Mein Kollege hatte mir schon bei Dienstanfang im Telegrammstil angekündigt: "0 Uhr, Land of the Dead." Ich verstand ihn erst nicht, weil er im hiesigen Dialekt nuschelt und oft ohne Bezug eine Aussage in den Raum stellt.
"Was?"
"Der Zombiefilm", entgegnete er.
"Ach so. Könnte hinhauen. 0 Uhr dürften wir mit dem Rundgang fertig sein." Ich nahm meinen Kaffeebecher und wanderte zur Übergabe.
Mir ist egal, was in der Glotze läuft. Hauptsache, ich habe eine Ablenkung, einen Hingucker, wenn ich zwischendurch die Beine hochlege.
Ein paar Minuten vor Zwölf waren wir pünktlich zum Film fertig und richteten es uns im Aufenthaltsraum ein. Ich schmierte mir in der Küche ein Leberwurstbrot und pflanzte mich in einen Sessel. Mein Kollege holte sich zwei Joghurt aus dem Kühlschrank. Er hatte mir erzählt, dass er einige dieser Splatter zuhause hat und sie ab und zu ganz gern schaut.
Na gut, in meiner Teenagerzeit hatte ich auch eine Phase, wo mich Gewalt in Filmen seltsam berauschte. Es konnte nicht heftig genug sein. Eine Mischung aus Neugierde und sadistischem Genuss. Mit der ersten Liebe gab sich das Gott sei Dank. Nach etlichen Jahren sollte ich also im Altenheim wieder einen Zombiefilm sehen: Den Zombies wurden ordentlich die Köpfe weggeschossen, und sie revanchierten sich, indem sie die Lebenden, die sich in einer Schutzzone verschanzt hatten, angriffen und abschlachteten. Soviel zur Handlung. Die Gewaltexzesse waren derart überzogen, dass ich bei manchen der blutrünstigen Szenen unwillkürlich grinsen musste. Wir Altenpfleger sind ja bekannt für unseren etwas derben Sinn für Humor - wie auch Chirurgen, Rettungssanitäter und Bestatter.
Als es klingelte, bewegte ich mich schlafwandlerisch weg von dem Gemetzel auf der Mattscheibe hin zu den Bewohnern in ihren Zimmern. Die Alten erschienen mir merkwürdig fremd - wie skurrile Figuren in einem Zwischenreich, dem Tod näher als dem Leben. Das künstliche Licht und die Schatten der Nacht verstärkten das Gefühl einer ganz eigenen Atmosphäre: Man war abgeschnitten vom Rest der Welt! Die Untoten lagen bei uns im Altenheim! Nur waren sie nicht so blutrünstig wie die Zombies in dem Splatter. Doch vielleicht würden sie eines Tages bzw. Nachts zu neuem Leben erwachen, aus ihren Betten klettern, um uns zu massakrieren ... . Ich kehrte zum TV zurück. Ein Zombie fraß gerade an einem Unterarm wie an einem Hühnerschenkel. "Stell dir vor - unsere Alten als Zombies", sagte ich.
Mein Kollege lachte und brummelte etwas unverständliches. Der Film ging nicht mehr lange. Schnell hatte uns wieder der ganz normale Altenheimwahnsinn im Griff.
Alle überlebten die Nacht.