Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
Die Oberschwester schaute von ihrem PC plötzlich zu mir herüber und erhob ihre raue Stimme:
"Felix, was meintest du eigentlich, als du zu L. sagtest: Sollen die erstmal ihre Arbeit gescheit machen, dann mache ich auch gute Arbeit?" Ihr schmaler Blick traf meinen feierabendmüden Geist wie eine Sense. Es haute mich fast vom Stuhl. Tatsächlich hatte ich mich etwas verärgert gegenüber dem Stationsleiter L. wegen einer Dienstanweisung geäußert, die mir ohne weitere Erläuterung bei meinem Dienstantritt nach meinem Urlaub vorgelegt wurde. Den genauen Wortlaut meiner Schimpfe wusste ich selbst nicht mehr. Ich meinte, dass "die", also unsere Chefs, doch erstmal ihre Arbeit gut machen sollten, dann könnten sie auch erwarten, dass ich bzw. wir unsere Arbeit gut machten. Ich ahnte nicht, dass Stationsleiter L. brühwarm meine Worte an die Oberschwester weitergeben würde. Eigentlich hatten wir bis dato ein gutes Arbeitsverhältnis. Und ihn meinte ich schließlich nicht.
Natürlich würde ich die Dienstanweisung akzeptieren, verteidigte ich mich und versuchte die Situation meines Ärgernisses zu erklären - dass ich niemanden persönlich damit angreifen wollte und lediglich irriert über die Art und Weise war, wie mir die Dienstanweisung vorgelegt wurde. Die Oberschwester giftete indessen weiter: "Ich kann ein solches Verhalten nicht mehr dulden. Ich werde das zu Protokoll nehmen, und du kannst dich bei der nächsten Nachtwachensitzung rechtfertigen." Meine Nachtwachenkollegin war inzwischen kleinlaut aus dem Dienstzimmer geschlichen. Zurück blieben meine Chefin, eine Kollegin vom Tagdienst und ich. Die Kollegin fungierte als Zeugin für die Oberschwester. Wir diskutierten noch ein paar Minuten herum, in denen ich meinen müden Geist anstrengte, hinter den Sinn der morgendlichen Zurechtweisung zu kommen. Ich war mir keines wirklichen Vergehens bewusst. Sie dagegen geiferte in gewohnter Manier, dass sie andere Seiten aufziehen würde, vor allem dem Nachtdienst gegenüber; und sie sei froh darüber, dass ihr Stationsleiter L. meinen Ausspruch übermittelte ... mir rauschten die Ohren - wahrscheinlich stieg mein Blutdruck über 200.
Stocksteif verabschiedeten wir uns - noch ein kurzer Blick in ihre wässrigen Augenschlitze.
Ich war derart in Gedanken wegen dieses Vorfalls, dass ich am Ausgang vergaß abzustechen. Ich werde wohl ein Formblatt über meine Dienstzeit ausfüllen müssen. Als Begründung könnte ich schreiben: "Nach Kritikgespräch mit der Oberschwester kopflos das Altenheim verlassen und vergessen abzustechen - darum Rhythmusfehler." Das Formular werde ich zusammen mit der unterschriebenen Dienstanweisung in ihren Briefkasten werfen. Mal sehen, wie ich Stationsleiter L. das nächste Mal begegne. Die Angelegenheit bescherte mir einen schlaflosen Tag.
Heute morgen, als ich aufwachte, lief im TV eine Doku über eine Trauminsel - North Island liegt in den Seychellen - eine Urlaubsinsel für VIPS und Superreiche. Wie schön die Menschen dort leben - paradiesisch, ohne Verkehr, ohne Lärm, unter Kokospalmen, am weißen Sandstrand, in der Nachbarschaft lediglich ein Paar kopulierende Riesenschildkröten. Den reichen Gästen liest ein persönlicher Butler, der rund um die Uhr zur Verfügung steht, jeden Wunsch von den Lippen ab. Währenddessen werden Technik und Logistik im Verborgenen abgewickelt; das Ambiente der Inselbehausungen ist der natürlichen Landschaft angepasst; das ca. 100köpfige Personal wohnt in einem Dorf in der Inselmitte.
Für gestresste Manager, Politiker, Schauspieler, Popstars der ideale Ort, um in der Natur bei höchstem Lebensstandard anonym zu relaxen mit dem sinnlichen Erlebnis von Meer, Wind und Sonne vor der Terrasse sowie einer intakten Inselökologie. Selbst das Personal scheint zufrieden und in völliger Harmonie zu leben - lediglich die Einsamkeit, das Leben weg von der Familie, macht einigen zu schaffen.
Ich stelle mir vor, wie ich auf dieser Insel als Dichter und Künstler lebe. Nach dem Luxus hätte ich kein Verlangen. Ich würde bei dem Personal wohnen, einige kleinen Arbeiten übernehmen und in meiner Freizeit schwimmen, schnorcheln, schreiben oder malen. An einem solchen Ort würde ich die Zeit vergessen, ich wäre frei wie die Natur und würde mir vorstellen, so alt wie die Riesenschildkröten zu werden - der Pascha unter ihnen ist 150 Jahre alt.
Die Bilder von der Insel zerren an meinem Herz. Schöne Träume können weh tun. Im Dokumentationskanal diskutierte man inzwischen über das Für und Wider des Autos in unserer Gesellschaft und über die tragischen Schicksale von Eigenheimbesitzern vor und nach der Pleite. Ich nippe am Morgenkaffee und schiebe die Gedanken an den bevorstehenden Nachtdienst möglichst weit von mir. Es ist vertrackt - beinahe unerträglich, dass es etwas wunderschönes wie North Island gibt.
http://www.north-island.com/
Was ist, wenn man es satt hat, alte und kranke Menschen zu pflegen?
Was ist, wenn ich ihre Exkremente nicht mehr riechen kann?
Was ist, wenn ich ihr Sterben, ihr Siechtum einfach nicht mehr ertrage?
Was ist, wenn ich ihr Jammern nicht mehr hören will?
Was ist, wenn mich ihre Verzweiflung nur noch wütend macht?
- Wütender und wütender auf die ganze Welt und auf mich -
Was ist, wenn ich nicht mehr verdrängen kann, was ich sehe?
Was ist, wenn mir mein Gewissen einen Strich durch die Rechnung macht?
Was ist, wenn ich sage, was ich denke?
Was ist, wenn mich die Kraft verläßt?
Wer hilft mir, wenn ich am Boden bin?
Die Frau verabschiedete sich mit einem Seufzer, zog die Arme überkreuz an ihre Brust und ließ sie wieder sinken. Ihr Gesicht lief kurz blau an, und ein paar einzelne Tränen perlten aus ihren Augenwinkeln. Ihre Augen waren geschlossen, sie war nicht mehr zu sich gekommen. Ihr Puls flatterte noch. Meine Kollegin sagte: "Sie atmet nicht mehr ..." Wir schauten uns mit betretenen Mienen an.
Ich hatte die Frau am frühen Morgen besinnungslos in ihrem Bett vorgefunden. Sie war im Unterzucker. Mit dem Finger strich ich ihr Honig in den Mund. Sie war unfähig zu schlucken und hätte sofort aspiriert, wenn ich versucht hätte, ihr Zuckerwasser einzuflößen. Binnen einer viertel Stunde war es vorbei. Der Tod war auf der Überholspur gewesen und hinterließ uns fassungslos am Bett.
Benommen verließ ich das Zimmer. Die ersten Kollegen der Tagschicht würden gleich eintreffen. Ich war dabei gewesen. Ich war Augenzeuge. Ich hatte die Schattenhand gesehen, die sich die Frau packte und mit sich nahm. Hätte ich noch helfen können? Hätte ich nur früher nach ihr geschaut ... und einen anderen verrückten Gedanken hatte ich: Vielleicht war ich der Auslöser, als ich die Zimmertüre öffnete - vielleicht hätte die Frau ihren Tod einfach verschlafen? Vielleicht verhält es sich ebenso irrwitzig wie mit "Schrödingers Katze" ...
Meine Kollegen zerstreuten meine Bedenken. Die allgemeine Betroffenheit hielt sich in Grenzen. Die Frau war nicht sehr beliebt bei den Kollegen. Sie schauspielerte gern und hetzte über das Personal hinter dessen Rücken. Der letzte Akt aber war kein Schauspiel.
Meine Chefin knallte mir 13 Nächte in 17 Tagen rein. Ich bin verdammt froh, dass die Nachtwachen zur Zeit nicht zu stressig sind. Aber das kann sich bei den Alten schnell ändern, mindestens so schnell wie das Wetter im Hochgebirge - sie werden von heute auf morgen krank oder kriegen die Spinneritis. Nun, und auch der Tod kündigt sich nicht immer lange vorher an. Bei einigen Hochbetagten steht er bereits in der Tür. Manchmal steht er ziemlich lange auf der Schwelle, so dass wir ihn fast übersehen ... bis er eines Tages, eines Nachts seinen schwarzen Umhang mit einer fahrigen Bewegung über den Greis / die Greisin wirft ... als wolle er uns überraschen oder uns einen makabren Streich spielen.
Eine meiner Kolleginnen - und jetzt komme ich auf das, was ich heute eigentlich ansprechen wollte - ist seit Kurzem doppelt gebeutelt. Ihrer Mutter musste ein Unterschenkel amputiert werden, und zu allem Übel wird sie zusehends altersverwirrt, also demenzkrank. Als Tochter und Altenpflegerin befindet sie sich in der außerordentlichen Bredouille, ihrer Familie, hauptsächlich ihrem Vater zu erklären, dass sie die Pflege der Mutter kräftemäßig nicht schultern kann. Der Vater, der die Demenz und die wohl bleibende Pflegebedürftigkeit seiner Frau noch nicht akzeptieren kann, lässt kaum eine Gelegenheit aus, meiner Kollegin vorzuhalten, was denn die Nachbarn und Bekannten darüber denken, dass die Tochter, die doch Altenpflegerin ist, jetzt nicht für ihre Mutter da sei - er schäme sich für sie. Dieser psychische Druck durch die Familie ist immens. Jeder normale Mensch bekommt angesichts solcher Vorwürfe Schuldgefühle, und diese Schuldgefühle sind nicht ohne ...
Als mir meine Kollegin davon erzählte, wurde mir gleichzeitig warm und kalt, denn ich dachte natürlich daran, dass meine Eltern auch nicht mehr die Jüngsten sind. Früher oder später würde ich mit einer ähnlichen Situation konfrontiert werden, und ich will nicht in eine solche "moralische Zwickmühle" rasseln!
Als ich vorgestern mit meiner Mutter telefonierte, versuchte ich ihr meine Befürchtungen und Ängste nahe zu bringen. Ehrlich, ich fühlte mich beschissen dabei. Wer will schon seine Eltern auf die Eventualitäten ihrer kommenden Pflegebedürftigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten ansprechen? Das ist in etwa so, als ob ich jemandem sage, dass er ein Auslaufmodell sei, dass es jetzt um die Schadensbegrenzung ginge.
Nein, so sollte es nicht klingen. Ich wünsche mir, dass wir uns zusammensetzen und darüber reden: über meine Ängste und die Erwartungen meiner Eltern. Ich verdenke es ihnen nicht, dass sie nicht täglich an die Morbidität des Alters erinnert werden wollen, dass sie einfach ihr Leben leben wollen, wie es ihnen hoffentlich noch lange vergönnt sein wird. Trotzdem reden wir besser jetzt miteinander als zu einem Zeitpunkt, wo das Schicksal uns mit schierer Endgültigkeit überholt, wie meiner Kollegin geschehen.
Mein Gott, ich bin froh, wenn ich dieses Gespräch hinter mir habe. Ich liebe meine Eltern, aber der Gedanke, sie pflegen zu müssen, macht mir große Angst. Ich bin Altenpfleger. Ich will nicht für meine Eltern der Altenpfleger sein ... die Vorstellung ist grauenhaft. Am liebsten würde ich manchmal davonrennen. Aber die Eltern kann man nicht abschütteln. Ich hoffe, sie lassen mich ein letztes Mal frei.
Noch vier Nächte, dann endlich eine größere Verschnaufpause über Pfingsten. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Ausruhen. Zeit für den Frühling.
Mein Gott, ich gähne wie ein Löwe mitten in den Tag. Im TV läuft die Nachbesprechung des GP von Barcelona. Ferrari wieder auf dem Siegertreppchen, und Niki Lauda, der Günther Netzer des Rennsports, bringt seine Analysen vor. Als sie einen Rennunfall zeigen und besprechen, kommt mir spontan ein alter Lindenberg Song in den Sinn: "Ricki Masorati mit dem Bleifuß fährt als Formel 1 Pilot, in jeder Kurve kichert der Tod ... rauscht er gegen die Balustrade, hat er angebrannte Ohr`n ..." (Den Titel lud ich erst vor Kurzem herunter.) Ich rauschte mit meiner Kollegin durch die letzte Nacht im Altenheim: Ganz ungefährlich in zwei Runden. Wenn der Morgen dämmert, neigt sich "unser Rennen" dem Ende. Durch die offenen Fenster dringt Vogelgezwitscher an unsere Ohren. Das Dunkel der Nacht verabschiedet sich mit einem Fest, einer Symphonie und wunderbarem, sphärischem Licht. Als ich die mit Windeln prall gefüllten Abfallsäcke in den Container wuchte, sauge ich die kühle frische Morgenluft gierig ein. Der Wald steht noch wie eine dunkle Wand hinter dem Haus. Wir gönnen uns einen Kaffee aus dem Automaten. Die Ziellinie liegt greifbar nah vor uns. Es wird schnell heller, und wir begrüßen freudig die eintrudelnden Kollegen. "Gab`s was?", fragen sie. Wir müssen diesmal nicht viel erzählen.
Trallala, es grünt so schön ... welche Überraschung, als ich aus dem Traumland erwachte und aus dem Fenster blickte. Da hing bereits ein grüner Pelz über den Terrassengärten mit allerlei Farbtupfen. An den Tagen, die ich aufgrund des Nachtdienstes verschlafen hatte, bemerkte ich die Wandlung der Natur nicht. Das Leben schlug gewaltig zu - die Bäume schlagen aus: Ein Sternenmeer junger Triebe an den Zweigen. Wenn das nicht Musik für die Herzen ist! Der Frühling kam auf leisen Pfoten wie ein Kater und schlug mir seine Tatze wider Erwarten in die Brust ... welch süßes Sterben: Das Sterben der Nacht, hinein in das volle, trotzige Grün.
Trallala, ich tanze mit dir, geliebtes Leben, für heute bin ich gerettet.
Wie soll ich es sagen? Ich fühle mich beschissen, wenn ich sie debattieren höre im Bundestag; oder zuschaue, wie sie sich in zig Talkrunden erklären, jeder mit seiner eigenen politischen Farbenlehre im Kopf - und sonst nichts. Ich fühle mich beschissen im Sinne von "betrogen", und ich fühle mich beschissen, weil mir schlecht wird, wenn ich ihren Ausführungen folge. Und müde werde ich dabei. Begriffe wie "soziale Marktwirtschaft" und "soziale Gerechtigkeit" werden hin und her geschleudert, nachdem sie ein jeder im Mund hatte und mit seinen schleimigen, politischen Vorstellungen besabberte. Die Moderatorin in der Mitte sieht nicht übel aus, denke ich, warum macht sich keiner an sie ran? Stattdessen fliegen Schleimbrocken durchs Studio wie bei einem imaginären Ballspiel. Jeder kämpft für sich, und am Ende fühlt sich jeder als Gewinner, nur dem Zuschauer geht`s schlecht, zumindest mir. Ich klatsche auch nicht. Ich frage mich sowieso, ob das Publikum nicht bei solchen Polittalks vom Sender fürs Klatschen bezahlt wird. Ich bin hinterher so klug als wie zuvor. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich ärgere mich über meine Biografie - warum ich Arschwischmaschine wurde und nicht Politstar und Arschkriecher in Personalunion. Blöder als diese Figuren, die da auf dem Bildschirm ihre Statements abgeben, bin ich bestimmt nicht; und außerdem sehe ich dazu noch besser aus als die meisten. Ich sollte doch noch in die Politik gehen. Ich bin Mitte Vierzig, "reifer wird`s nimmer". Die Linke formiert sich gerade in Westdeutschland. Vielleicht könnte ich bei denen einen Fuß in die Tür kriegen ... Ja, ich würde dann auch große Reden schwingen zur Frage der sozialen Gerechtigkeit, und ich könnte dazu noch aus dem Nähkästchen plaudern von meiner Zeit als Arschwischmaschine. Ich würde ihnen erzählen, wie beschissen man sich fühlt, wenn man ihren Reden zuhört; und wie demütigend sich für einen Kleinverdiener, der ohne Rücklagen leben muss, der sich den sauer verdienten Urlaub vom Munde absparen muss, wie demütigend sich in seinen Ohren ihre Plattitüden anhören. Ich würde mit diesen feinen Herren Tacheles reden ... So oder ähnlich gerate ich ins Träumen, während auf dem Bildschirm immer noch die imaginären Schleimbrocken herumfliegen. Es herrscht eine gute Stimmung. Die Moderatorin ist auch zugeknöpft sexy, und das Publikum applaudiert bei jedem Treffer. Noch zutreffender als ein Ballspiel ist das Bild einer Schneeballschlacht. Die Beteiligten haben schon ganz rote Ohren. Vorallem Lafontaine. Der ist gar nicht so schlecht, wie er hingestellt wird. Ich bin müde und drehe mich rum, muss sowieso gleich vorbei sein. Die Moderatorin stellt die letzte Frage: "Wer von Ihnen würde mich sofort hier im Studio flach legen?" ... Träumen darf man.
...
Die 96jährige bewohnt mit ihrem ein Jahr älteren Lebensgefährten das letzte Zimmer unterm Dach. Sie war lange im Krankenhaus, TB, und kam vor wenigen Tagen zurück, ganz die Alte. Ihr stechender Blick und trockener Humor sind etwas gewöhnungsbedürftig. Sie klingelte für ihre Schlaftablette und ließ sich von mir Trinken und eine Chipstüte ans Bett reichen. Sie hatte eine Menge zu erzählen.
Die Greisin spricht stets etwas hastig und nervös. Ihr ausgezehrter Körper bringt gerade noch 32 kg auf die Waage. Bei ihr sei alles kaputt, der Arzt hätte gesagt: "Sie sind nicht krank, Frau B., Sie haben alles."
Ja, meinte ich, solange man es mit Humor nehmen könne. Ich stand am Fußende ihres Bettes und wollte mich langsam entfernen.
"Sind sie empfänglich für Witze?" fragte sie da, und ich antwortete, dass ich schon Humor hätte.
"Dann hören Sie zu ... eine Frau wartet auf die Rückkehr ihres Mannes, der auf Jobsuche ist. Sie steht auf dem Balkon und sieht ihn rufend näherkommen: Liebling, ich habe eine neue Stellung! Worauf sie erwidert: Hättest du besser eine Arbeit! ..."
Ich lachte. Nicht nur aus Höflichkeit. Nicht nur wegen des Witzes. Ich fand die alte Frau einfach köstlich. Obwohl ich ihr noch gerne etwas Gesellschaft geleistet hätte, riß ich mich los und wünschte ihr eine gute Nacht.
Heute Vormittag war das Gesundheitsamt im Haus. Das ganze Personal wird wegen Frau B. auf TB getestet. Ich verschlief. Keine zehn Pferde hätten mich aus dem Bett gekriegt. Da werde ich wohl extra beim Gesundheitsamt antanzen müssen. Die Nächte schlauchen, obwohl die Arbeit nicht mehr wird. Ich werde alt und müde.
...
Während meiner Nachtdienste im Winter lebe ich im Halblicht. Morgens fahre ich im Dunkeln nach Hause, und wenn ich am Nachmittag aufwache, dämmert es bereits wieder. Nach vier Nächten wache ich an einem sonnigen Sonntag auf. Ich freue mich auf die freien Tage und sollte guter Laune sein. Als ich den Rollladen hochziehe, blinzle ich verschlafen in die Wintersonne. Der ganze Raum ist auf einen Schlag ausgeleuchtet. Trilliarden Staubpartikel tanzen in der Luft. Meine Haut ist bleich. Erstmal einen Kaffee trinken, denke ich. Ich traue mich noch nicht in den Spiegel zu schauen. Dafür sehe ich eine dünne Staubschicht auf allen Oberflächen: auf dem Schreibtisch, dem Desktop, dem Dielenboden, auf den Regalen ... . Während das Kaffeewasser kocht wische ich mit der flachen Hand über einige Flächen und sammele Staubflocken ein. Es ist zu viel! Ich nehme das Staubtuch und fange an, einiges oberflächlich abzustauben. Umso mehr ich mache, desto mehr rückt in mein Blickfeld! Vorallem hinter den Dingen, in den Winkeln, den dunkleren Ecken, auf den Leisten und Kanten, unter dem Bett, an den Stuhlbeinen, zwischen und auf den Büchern. Der Staub klebt an den Dingen: an den Strom- und Verbindungskabeln, alter Staub, verkrustet, fossil, an den Bilderrahmen und in den Winkeln mit Spinnenhuddeln. Ich raufe mir die Haare. Ich schüttle das Staubtuch ein paarmal aus. Ich wische feucht nach. Ich schmeiße mit Krümeln und Haaren vermengte Klumpen Staubs in Abfluss und Abfalleimer. Stühle und andere Möbel werden verrückt; auf den Knien robbe ich über den Fußboden und sehe, was ich gar nicht sehen will.
Der Kaffee ist längst kalt. Wie ich diese Sisyphusarbeiten hasse! Die Sonne wanderte inzwischen hinter den Bergrücken. Meine Wohnung ist wieder in weiches Halblicht getaucht. Der Staubspuk ist vorbei. Für heute soll es genug sein! Natürlich ist mir bewusst, dass mein Putzanfall gleich einem Tropfen auf den heißen Stein war. Ich kann mich einfach nicht aufraffen, jeden Tag artig Staub zu putzen und zu saugen. Ich verstehe nicht, wo der ganze Dreck herkommt. Viel zu viele Dinge stehen herum und ziehen den Staub an. Ekelhaft. Ganz von alleine. Es zeigt mir, wie alles unweigerlich dem Zerfall ausgeliefert ist, wenn man es nicht erneuert. Nach wenigen Jahren Nichtputzens und Nichtaufräumens könnte ich mich als Archäologe in meinen eigenen vier Wänden betätigen.
Kaum aufgestanden bin ich bereits wieder müde. Der Tag nach den Nachtwachen ist seltsam. Kraftlos sitze ich am PC. Mein Tagewerk bestand aus einer Stunde Staubwischen. Wozu? Ich schlurfe zum Kühlschrank und öffne mir ein Bier ...