Sonntagskind


Ich könnte mit dem Heute zufrieden sein. Materiell gesehen bin ich satt. Nach allem, was in meinem Leben passierte, darf ich mich glücklich schätzen, dass ich heute (für meine Verhältnisse) gut dastehe. Ein Wunder, dass ich noch hier bin, ehrgeizlos wie ich bin – Tunichtgut, Tagträumer, faule Ratte, hoffnungsloser Trinker und Weltabgekehrter.
Womit habe ich eine liebende hübsche Frau verdient? Wie kam ich zu der Wohnung in der Mitte Berlins? Wie zu dem Job, der mir wieder ein sicheres Einkommen sichert? Warum bin ich nach den vielen Alkoholexzessen nicht schon längst am Arsch?
Ich bin ein echtes Sonntagskind. Am dritten Advent 1962 in die Welt berufen. Eigentlich hatte ich gar keinen Bock, aber der Arzt gab meiner Mutter Spritzen, damit die Wehen einsetzten. Er wollte rechtzeitig in seinen Winterurlaub starten (erzählte mir meine Mutter). Die Folge war, dass die Milch, die meine Mutter im Überfluss hatte, abgepumpt und weggeschüttet werden musste. Wegen der Spritzen war sie schlecht. So wurde ich zum Flaschenkind - und bin es heute noch.
Nein, meinen Alkoholismus will ich damit nicht entschuldigen. Blödsinn. Für alles, was ich in meinem Leben verbrockte, trage ich allein die Verantwortung. Die Umstände des Lebens kann man sich gerade als Kind nicht aussuchen. Sicher lief viel falsch. Wie in anderen Familien auch. Familiengeschichten sind eine Sache für sich…
Irgendwann hat man es geschafft und sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen. Und von diesem Zeitpunkt an sagt man sich, dass man damit leben muss, was passierte, und für sein Leben selbstverantwortlich ist. Das leuchtet doch ein, oder?
Wenn ich unzufrieden bin, liegt es allein an mir. Und ich habe verdammt noch mal keinen Grund, unzufrieden zu sein. Wozu hechte ich einer imaginären Freiheit hinterher, die ich nie erreichen kann?
Woher kommt der verfluchte Drang, von allem davonlaufen zu müssen? Ist die Welt so schlecht?

steppenhund - 07. Okt. 17, 12:47

Erstens freue ich mich über den Text. Es gibt Meditationsübungen, die sich mit der Dankbarkeit beschäftigen. Die habe ich selbst im Alter von 27 Jahren gelernt und in einer gewissen Weise wirken sie heute noch nach. (Wobei ich bei Übungen immer extrem schlampig bin, außer beim Klavierüben.)
Was die abschließenden Fragen angeht, ist das wohl die Krux des Menschseins. Jeder erlebt sie anders. Persönlich glaube ich, dass evolutionstechnisch unsere Gehirne in der Entwicklung etwas fehlgeleitet sind. (Habe ich schon früher einmal erklärt.)
Man kann aber sehen, das "primitive" Leute in manchen Ländern, wo es ihnen wirklich sauschlecht geht, fröhliche Gesichter machen und keinesfalls von diesen Fragen geplagt werden.

bonanzaMARGOT - 07. Okt. 17, 12:59

es ist ja nicht so, dass ich hier rumsitze und weine.
bestimmt mache ich dann und wann auch ein fröhliches gesicht.
menschen, die nach außen hin fröhlich sind, müssen darum keine glücklichen menschen sein.
wahrscheinlich zwingt einem die welt eine gewisse fröhlichkeit ab. keine ahnung. rätsel über rätsel.

dankbarkeit - wem gegenüber?

die evolution hat`s wohl bei mir verschissen.
iGing - 07. Okt. 17, 13:03

Die philosophischen Aspekte Deiner Innenwelt kann ich alle nachvollziehen, aber ein Flaschenkind muss man definitiv nicht werden, selbst wenn die Muttermilch durch Medikamente "verseucht" ist - die Medikamente sind nach einer gewissen Zeit (Stunden? Tage?) abgebaut und das Kind kann gestillt werden. Das muss die Mutter natürlich dann auch wollen. Dass das Kind die Brust dann nicht annehmen würde, ist ein Märchen.

Mein Bruder musste die ersten Wochen seines Lebens im Brutkasten verbringen; meine Mutter schickte die Muttermilch per Express ins Krankenhaus, wo sie ihm mit der Flasche oder Sonde verabreicht wurde. Danach war es ohne weiteres möglich, das Kind zu stillen. Leider zeigte er aber im Laufe seines Lebens dann doch auch einen übermäßigen Hang zur Flasche.

bonanzaMARGOT - 07. Okt. 17, 13:36

ich kenne mich in diesen dingen nicht aus. ich glaube aber meiner mutter. warum sollte sie mich anlügen (um ihr gewissen zu beruhigen?). sie erzählte es aus freien stücken.
meine mutter brachte mich nicht in einer gut ausgestatteten großstadtklinik auf die welt sondern in einem kleinstädtischen kabuff, welches sich kinderklinik nannte.
iGing - 07. Okt. 17, 15:01

War bei uns auch so, mit dem kleinstädtischen Kabuff, das sich "Entbindungsheim" nannte.

Ich glaube natürlich, dass deine Mutter selbst ganz überzeugt war von dem, was sie erzählte. Wahrscheinlich hat es ihr sogar eine "Fachfrau" eingeredet. Solche Zeiten gab es halt auch.
bonanzaMARGOT - 07. Okt. 17, 15:06

sowas soll`s geben, dass man als patient im gesundheitsbetrieb irregeführt wird...
niemand ist davor gefeit, damals wie heute.

(im gebäude der ehemaligen "kinderklinik" ist seit vielen jahren ein altersheim. so schließt sich der kreis.)
iGing - 07. Okt. 17, 15:33

Das scheint ja eine gängige Art der "Wiederverwertung" der Entbindungskliniken zu sein, ist bei uns nämlich auch so - verständlich, da es ja immer mehr Alte und immer weniger Kinder gibt. Irgendwann wird sich auch das wieder umkehren.
bonanzaMARGOT - 07. Okt. 17, 15:37

ja, am besten entbindungsheim, altenheim und friedhof (bestattungsinstitut + blumenladen) in einer reihe.
ich kann mir nicht wünschen, dass es wieder mehr kinder gibt. dazu habe ich eine zu negative ansicht von der welt, in die sie hineinwachsen.
rosenherz - 08. Okt. 17, 20:27

Irgendeinen Sinn wirds schon ergeben, einer imaginären Freiheit hinterher zu lechzen. Möglicherweise gibts es da in dir ein Gefühl von Freiheit in deiner Erinnerung, das du wieder zu erleben suchst.
Deine Suche erinnert mich an meine jahrzehntelange Suche nach einem bestimmten Geschmack, für den ich keinen Namen hatte.

iGing - 08. Okt. 17, 20:46

@Rosenherz:

Und, hast du den Geschmack gefunden? Was war's?
rosenherz - 08. Okt. 17, 22:58

@ Iging
Ja, gefunden. Es war der Geschmack von einem Obst aus fernen Ländern.
bonanzaMARGOT - 09. Okt. 17, 05:04

das gefühl muss sehr weit zurückliegen...
ich denke, dieser freiheitsdrang hat ähnlichkeiten mit dem fernweh, das einen menschen packen kann... ich liebe den blick zum horizont - der fehlt hier in berlin. man fühlt sich wie eine ratte im labyrinth, und der alltag mutet wie ein gefängnis an, reltativ komfortabel zwar, aber eben auch voller zwänge/abhängigkeiten und monotonie.
Lange-Weile - 09. Okt. 17, 09:46

Abhändigkeiten

Hallo Bo,..meine beiden Söhne sind Sonntagskinder, doch ihre Lebensläufe sehen anders aus, als man es Sonntagskindern nachsagt. Du kennst ja ihre Geschichten.

Der Vater meines 1. Sohnes war in seinen Verlustängsten gefangen und der Vater von meinem 2. Sohn ist an den Folgen des Alkoholismus schon mit Anfang 40 verstorben und dessen Vater wurde aus dem selben Grund auch nicht älter. Sie waren beide in einer Abhängigkeit gefangen.

Beide Söhne nahmen schon im Babyalter die innere Stimmung der Eltern auf und deren Lebensgefühl vermischte sich mit ihren. Ein Kind versteht noch nichts, aber spürt mehr als es begreifen kann.

Sohemanns Leben begann als Sonntagskind, bis man bei ihm Epilepsie feststellte. Damit ist er auch in einer Abhängigkeit gefangen, für den Rest seines Leben. Ohne Medikamente geht es nicht. Er ist von ihnen anhängig. Es sieht so als, als müsse er den Staffelstab seiner männlichen Vorfahren väterlicherseits auf seine Weise weitertragen. Bei ihm jedoch nicht über die Abhängigkeit von Alkohol sondern von Medikamenten.

Freiheit ist ein Begriff, den jeder für sich allein definiert und deshalb denke ich, dass diese nicht zwangsläufig mit den äußeren Umständen verbunden ist. Viel besser sollte man in seinem Inneren nachforschen um zu erkennen, worin man sich als Mensch selber gefangen hält und warum man das Gefühl der Freiheit nicht wirklich empfinden kann. Vielleicht steckt dahinter auch eine ganz andere Ursache als man immer glaubte.

Du schreibst von deinem Alkoholismus. Dieser lässt dir keinerlei Kontrolle darüber und in dem bereich über dich selbst. Resultiert daraus vielleicht das Gefühl, das du permanent nach der - nach deiner - Freiheit suchst?

LG La We


bonanzaMARGOT - 10. Okt. 17, 05:22

hallo lawe!

es gibt schicksale, die sich über generationen fortzupflanzen scheinen...
die sehnsucht nach freiheit steckt, glaube ich, in jedem menschen mehr oder weniger (vielleicht besonders in männern, die gern cowboyfilme gucken). nicht umsonst wirbt die ein oder andere zigarettenmarke mit dem "geschmack von freiheit" - ausgerechnet bei einem produkt, das süchtig macht.
ja, die frage ist berechtigt: sollte man als abhängiger, süchtiger, alkoholiker... nicht erstmal die freiheit vom suchtmittel erlangen, bevor man von einer anderen umfassenderen freiheit träumt? ich sehe mich allerdings trotz meines alkoholismus nicht regelrecht als behindert (oder krank) an. sicher gibt es einschränkungen, aber heute befinde ich mich in einer phase, in der ich relativ kontrolliert mit der trinkerei umgehe und selten das verlangen nach mehr habe. das mag man nun glauben oder nicht. wer in seiner familie tragische alkohol-biografien erlebte, hat verständlicherweise vorbehalte gegenüber allen menschen, die den geistigen getränken im übermaß zusprechen.
aus meiner erfahrung sage ich aber: alkoholiker ist nicht gleich alkoholiker. trinkerkarrieren können unterschiedlich verlaufen (was von vielen faktoren abhängt).
das freiheitsgefühl, von dem ich im beitrag schreibe, sehe ich unabhängig von meinem alkoholismus. es bestand bereits, als ich noch kind/jugendlicher war. ich wollte den fesseln des elternhauses und der schule entfliehen, was in der pubertät bei vielen jungen menschen so sein dürfte. als ich dann das erste mal alleine wohnte, blieb nicht viel zeit, das gefühl der gewonnenen freiheit zu genießen - es folgten die abhängigkeit zu beruf/leistung und geld... damals floh ich in den alkoholexzess als ersatzfreiheit. darüber bin ich weg, aber in mir besteht nach wie vor die sehnsucht nach freiheit...ohne diese vielen fesseln durch beruf, materielle dinge, geld, versicherung, altersvorsorge etc.
diefrogg - 16. Okt. 17, 14:48

Der Text ist mir lange ...

nachgegangen. Ich habe ihn vor einer Woche schon mal gelesen. Ich kenne es selbst, das Lechzen nach Freiheit - heute sehr viel weniger als früher. Die Frage ist, wovor man davonlaufen will, und wie man sich die Freiheit vorstellt.

bonanzaMARGOT - 17. Okt. 17, 05:15

diese sehnsucht nach freiheit steckt so tief in meiner wesenheit, dass ich immer dachte, alle anderen müssten sie auch empfinden.
ich glaube, dass sie ein bewusster geist, oder zumindest ein nach bewusstsein strebender geist, haben muss, sie also teil der bewusstheit im leben ist.
ich begreife das ganze leben als einen geistigen emanzipations- bzw. loslösungsprozess. das beginnt bei den eltern und geht weiter mit obrigkeit, religion/kirche, traditionen, standes- und karrieredenken etc.* erst wenn man das alles hinter sich lässt, ist man wirklich frei.
sowieso - die abertausend gesetze, regeln, vorschriften und bestimmungen, dazu die wahnsinnige bürokratie, erleichtern das sich frei fühlen nicht gerade.
wovor will ich davon laufen? wahrscheinlich vor all diesen beengungen/einschränkungen. seit der schule spüre ich zunehmend druck und zwang, nur um hier leben zu dürfen, ein einkommen und ein dach über dem kopf zu haben.
ich sehe unsere welt als ein "system der unfreiheiten" an - alternativlos.
ich nehme mir also so viele freiheiten, wie ich (verkraften) kann... und hadere mit der welt und dem dasein.


* all das, was wir uns selbst suggerieren und suggerieren lassen, von mode zu mode, von hype zu hype, von zeitgeist zu zeitgeist, von idiotie zu idiotie...

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