"Hardcover", 20 Uhr 15, Einsfestival
bonanzaMARGOT
- 11. Aug. 12, 17:42
Ich denke an die Frau, die seit ca. 15 Jahren künstlich ernährt wird, dauerhaft liegt, durch die Dinge hindurch sieht wie ein Wachkomapatient – nun, sie dürfte etwa auf demselben Level sein. Sie bekam bereits früh die Alzheimerkrankheit, da war sie gerade Fünfzig. Inzwischen ist sie Siebzig und übertraf ihre krankheitsbedingte Lebenserwartung bereits um mehrere Jahre. Ich versuche manchmal, ihren Blick aufzufangen, aber der ist trotz offener Augen nach Innen gerichtet. Die Welt um sie herum kann sie nicht erkennen. Doch sie merkt, wenn etwas mit ihr passiert, und wahrscheinlich spürt sie ebenso die Anwesenheit einer Person an ihrem Bett. Ihre Augen zucken, wenn ich sie anfasse, aber sie beruhigt sich gleich, wenn ich sie streichele, ihre Gesichtszüge entspannen sich. Ab und zu brummt sie wie ein Tier. Und manchmal zuckt ihr ganzer Körper unwillkürlich. Sie ist allem ausgeliefert. Oft verschluckt sie sich am eigenen Schleim und hustet, dass ihr Kopf rot anläuft. Wenn es ganz schlimm ist, müssen wir den Schleim absaugen. Sie könnte ersticken. Vielleicht wird sie daran eines Tages sterben, - wenn sie nicht mehr stark genug ist, das Sekret abzuhusten, ... oder durch eine Lungenentzündung. Allein die künstliche Ernährung erhält sie am Leben. Sie bekam einige Fettpölsterchen. Früher war sie schlank und rank. Ich erinnere mich an Photos von ihr, die an der Wand hingen. Schon lange sehe ich keine persönlichen Dinge mehr in ihrem Zimmer. Die Angehörigen kommen seit vielen Jahren nicht mehr. Auch die alte Schulfreundin, die noch zu Besuch an ihr Bett kam, bleibt inzwischen weg. Vor wenigen Wochen hatte sie Geburtstag, wurde Siebzig. Ein paar Kollegen sangen an ihrem Bett „Happy Birthday“.
Sie kam im selben Jahr ins Altenheim, als ich anfing, 1995. Nun haben wir 2012. Mal sehen, wer von uns beiden früher geht. Sie überlebte bereits eine Menge Mitbewohner. Sicher ist sie ein Sonderfall, weil sie so jung an Alzheimer erkrankte.
Ich lagere sie in den Nächten, sauge sie ab, hänge am Morgen die erste Sondennahrung an. Ich empfinde Mitleid und Zuneigung – aber auch eine schier unerträgliche Traurigkeit. Es ist Routine. Ich kann meine Seele nur einen Spalt öffnen, sonst wird es zu viel.
Die Frage nach dem Sinn ergibt sich. Warum pflegen wir Menschen diese Frau elendiglich langsam zu Tode? Wäre es nicht menschlicher, sie endlich sterben zu lassen, indem man die künstliche Ernährung abstellt, und keine Medikamente mehr gibt? Ich verstehe diese Grausamkeit nicht, die wir von Gesetzes wegen an der Frau vollziehen. Niemals kann ich ganz wegschauen. Niemals werde ich die Widersprüchlichkeit menschlichen Tuns verstehen. Oft entheiligen die Mittel den Zweck. Und wir Menschen schauen einigermaßen ratlos zu, wenn es passiert …, oder wir schauen lieber weg.
Von uns Pflegekräften wird verlangt, dass wir pflegen ... auf Teufel komm raus. Wir sollen an dieser Front zwischen Leben und Tod funktionieren wie Soldaten, pflichtergeben und am Besten, ohne Fragen zu stellen. Mein Arbeitgeber bietet keine Supervision an. Aber er ist fleißig darin, Stellen abzubauen. Von den Mitarbeitern wird hohes Engagement verlangt. Sie sollen sich aufopfern – ist ja schließlich für eine gute Sache! Wir pflegen und betreuen Alte und Kranke. Es ist eine Ehre, an dieser Front kämpfen zu dürfen und sich für eine Gesellschaft der Weggucker aufzuopfern.
Die Frau aus Zimmer xxx hat keine eigene Stimme mehr. Sie ist der Idiotie unserer Welt gnadenlos ausgeliefert.