Freitag, 10. August 2012

"Erhörte Gebete" von Truman Capote (Wahrheit und Illusion)


...
"Wenn etwas wahr ist, so heißt das nicht, dass es überzeugend ist, weder im Leben noch in der Kunst. Denk an Proust. Würde die Suche nach der verlorenen Zeit so wahr klingen, wie sie es tut, wenn er sich buchstabengetreu an die historischen Umstände gehalten hätte, wenn er nicht das jeweilige Geschlecht, die Ereignisse, die Namen abgewandelt hätte? Wenn er sich strikt an die Tatsachen gehalten hätte, wäre sie weniger glaubwürdig gewesen, aber" - ein Gedanke, der mir oft durch den Kopf gegangen war - "vielleicht besser. Weniger verdaulich, aber besser." Ich entschied mich doch für noch einen Drink. "Das ist die Frage: Ist die Wahrheit eine Illusion, oder ist die Illusion Wahrheit, oder sind sie im Grunde ein und dasselbe? Ich meinerseits, mir ist völlig egal, was jemand über mich sagt, solange es nicht wahr ist."
"Vielleicht solltest du diesen zweiten Drink weglassen."
"Findest du, ich bin betrunken?"
"Nun ja, du schwafelst."
"Ich bin entspannt, weiter nichts."
Woodrow sagte freundlich: "Du hast also wieder angefangen zu schreiben. Einen Roman?"
"Einen Bericht. Ich lege Rechenschaft ab. Ja, ich werde es einen Roman nennen. Falls ich es jeh zu Ende bringe. Natürlich bringe ich nie irgendetwas zu Ende."
"Hast du schon einen Titel?" Oh, Woodrow traf genau ins Schwarze mit seinen Cocktailparty-Fragen.
"Erhörte Gebete"
Woodrow runzelte die Stirn. "Das habe ich doch schon mal gehört."
"Nur, falls du einer von den dreihundert Dusseln warst, die mein erstes und einziges gedrucktes Werk gekauft haben. Das hieß auch Erhörte Gebete. Aus keinem besonderen Grund. Aber diesmal habe ich einen Grund."
"Erhörte Gebete. Ein Zitat, nehme ich an."
"Von der heiligen Theresia. Ich habe es selbst nie nachgeschlagen, also weiß ich nicht genau, was sie gesagt hat, aber es war so etwas wie: Es werden mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen als über nicht erhörte."
Woodrow sagte: "Mir geht ein Lichtlein auf. Dieses Buch ist über Kate McCloud plus Clique."
"Ich würde nicht sagen, dass es über sie ist - obwohl sie und andere darin vorkommen."
"Worüber ist es dann?"
"Über Wahrheit als Illusion."
"Und über Illusion als Wahrheit?"
"Ersteres. Das Zweite ist ein anderes Projekt."
Woodrow wollte wissen, wieso, aber der Whisky tat seine Wirkung, und ich fühlte mich zu taub, um es ihm zu sagen; doch was ich gesagt hätte, war: Da es Wahrheit nicht gibt, kann sie niemals etwas anderes sein als Illusion - aber Illusion, das Nebenprodukt enthüllender Kunstfertigkeit, kann die Bergkuppen erreichen, die dem unerreichbaren Gipfel der vollkommenen Wahrheit am nächsten kommen. Zum Beispiel Damenimitatoren. Der Imitator ist in der Tat ein Mann (Wahrheit), bis er sich als Frau neu erschafft (Illusion) - und von diesen beiden ist die Illusion die wahrere.

(aus "Erhörte Gebete" von Truman Capote)

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