Sonntag, 18. September 2011

Der lange Abschied


Wie sehr die Eltern von ihren Kindern auf den Sockel gehoben werden, erlebe ich oft im Altenheim. Die erwachsenen Söhne und Töchter können den körperlichen und geistigen Abbau ihrer Eltern oft nicht akzeptieren. Ist z.B. ihr Vater oder ihre Mutter offensichtlich demenzkrank, ignorieren sie dies einfach. Sie können die Veränderungen nicht hinnehmen, weil sie zu sehr von dem Bild abweichen, welches sie von ihren Eltern haben. Dieses Bild scheint wie eingebrannt zu sein. Die Nichtakzeptanz der Realität äußert sich dann durch eine Rollenumkehr. Die Kinder wollen ihre Eltern erziehen. Sie schimpfen mit ihnen, als wären diese Kinder, und sie schämen sich für sie, wenn sie bei den Mahlzeiten mit dem Essen spielen oder in die Hose machen ...
Eine Altenheimbewohnerin, die ich abends noch ins Bett bringe, beklagte sich wiederum bei mir: "Meine Tochter kapiert nicht, wie hinfällig ich bin ..., dass ich das alles nicht mehr kann. Die denkt immer noch, ich könnte rumspazieren, dabei sitze ich schon lange im Rollstuhl."
Die Söhne und Töchter sehen immer nur einen kleinen Ausschnitt vom Pflegealltag, wenn sie zu Besuch sind. Da sitzen ihre Eltern (normalerweise) geschniegelt und gestriegelt am Kaffeetisch. Von den vielen notwendigen pflegerischen Verrichtungen kriegen sie kaum was mit; und ich hege den Verdacht: viele wolle es auch nicht mitkriegen.
Irgendwann können sie es dann doch nicht mehr leugnen, dass ihre Eltern nicht mehr die sind, die sie bis dahin kannten und ehrten, die über Jahrzehnte unantastbare Autoritäten für sie gewesen waren. Das ist für viele schmerzlich. Nicht alles schaffen es, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Auch Ängste vor dem eigenen Alt-Werden mögen dabei eine große Rolle spielen. Jedenfalls stellen manche ihre Besuche ein oder kommen mit der Zeit immer seltener.
Wir pflegen z.B. eine Frau, die sehr früh an der Alzheimer Demenz erkrankte. Vor 15 Jahren war die Tochter noch manchmal bei ihr - ich erinnere mich. Dann kam nur noch eine alte Schulfreundin - selten aber regelmäßig - ein paar Jahre lang zu ihr ans Bett. Die Frau wird schon lange enteral ernährt und ist völlig immobil. Wie eine überernährte Heuschrecke liegt sie mit ihren Kontrakturen im Bett, hustet Schleim ab und zuckt manchmal unwillkürlich. Sie stöhnt und stößt tierisch anmutende Laute aus. Eigentlich hat sie ihre krankheitsbedingte Lebenserwartung bereits um einige Jahre überschritten, aber durch die künstliche Ernährung und durch die Antibiotika-Gabe bei Infektionen "durfte" sie noch nicht gehen ... In meinen Augen ein ethisches Fiasko!
Die Angehörigen, sie hat einen Sohn und eine Tochter, die nicht allzu weit weg wohnen, schrieben sie vor Jahren schon ab. Welcher Knoten würde da wohl platzen, wenn sie heute der Anruf aus dem Altenheim erreichte, dass ihre Mutter verstorben sei? Vielleicht könnten sie dann erst richtig Abschied nehmen. Oder sie nähmen auch dies einfach nur noch am Rande wahr, weil sie ihre Mutter längst in ihren Köpfen und Herzen beerdigten ...
Geht denn das? frage ich mich. Ach, was weiß ich schon von deren familiären Verhältnissen?! Ich will ihr Verhalten nicht werten. Wer weiß, was alles dahinter steckt? Außerdem ist es ein Extremfall aus der Praxis. Im Großen und Ganzen fühlen sich die Kinder der Alten schon verpflichtet, regelmäßig zu kommen. Auch wenn einige mit dem Zustand ihrer Eltern nicht klarkommen - was sie oft am Pflegepersonal ablassen, indem sie aus einer Überfürsorglichkeit oder Hilflosigkeit ständig nach uns rufen.
Das Leben ist grausam. Am grausamsten ist die Hilflosigkeit, die wir im Pflegealltag beinahe permanent spüren. Dazu kommt die Überforderung durch zu wenig Personal ... Oft reagieren wir genervt, sind ausgepowert und können den Menschen nicht mehr das angemessene Mitgefühl entgegen bringen. Das tut mir leid. Irgendwie stecken wir alle in der Predouille: die Alten, die Angehörigen, die Ärzte, das Pflegepersonal. Immer wieder werden wir mit Grenzerfahrungen und Tabuthemen konfrontiert.

Ich würde gern eine Pause einlegen.

Auch ich habe Eltern. Sie gehen auf die Achtzig zu. Mein Vater hat eine beginnende Demenz. Ich liebe ihn. Vom Sockel stürzte ich ihn bereits vor vielen Jahren.
Manches ist mit Worten nicht zu sagen.

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