Sonntag, 27. Februar 2011

Und kitzelt mich niemand, kitzele ich mich selbst


... nach längerer Zeit wieder am Hören von The Who - „Quadrophenia“. Ich strapaziere die Zimmerlautstärke und hoffe, dass die Vermieterfamilie, die unter mir wohnt, dadurch nicht belästigt wird. Mein Gott, die Platte kam 1973 raus! Ende der Siebziger sah ich den Film „Quadrophenia“ im Kino und war begeistert - auch jetzt, mehr als drei Jahrzehnte später, habe ich noch dieses Gänsehaut-Gefühl. Meiner Meinung nach ist solche Musik einfach zeitlos!
Jedenfalls passt die Rockmusik von The Who wunderbar in einen Sonnntag des deutschen Spießerwunderlands. Es wäre sonst fast Friedhofsstille hier im Haus. Was sagte damals in der Eichbaumstube ein älterer behäbiger Barkeeper desöfteren: „Und kitzelt mich niemand, kitzele ich mich selbst.“ Ist auch schon ein gutes Weilchen her, und normalerweise kann ich mir Sprüche nicht merken - aber dieser prägte sich mir ein. Jetzt darf ich nur nicht losheulen bei dieser Musik und all den Erinnerungen ...
Die Eichbaumstube war in Stadtnähe, eine Flasche Export kostete dort nur ca. die Hälfte von dem, was man in den Cafés im Zentrum bezahlen musste. Ich machte damals die Ausbildung zum Altenpfleger, berufsbegleitend, und vor dem Nachmittagsunterricht ging ich in diese abgerissen wirkende Kneipe, trank ein paar Bierchen und studierte meine Unterlagen - wenn z.B. eine Prüfungsarbeit anstand. Nüchtern ging ich selten in den Unterricht. Mit Mitte Dreißig nochmal die Schulbank zu drücken, war nicht gerade nach meinem Geschmack. Doch war es so gekommen - dies zu erörtern, vielleicht ein andermal.
Die drei Jahre zogen sich ganz schön in die Länge. Richtig motiviert blieb ich nur im ersten Ausbildungsjahr. Irgenwie war ich während meiner gesamten Schulzeit selten länger als ein Jahr durchgehend motiviert. Wenigstens hatte ich als Erwachsener ein ganz anderes Selbstbewusstsein, und war nicht mehr so scheu wie als Kid in Grundschule und Gymnasium. (Das lag nicht nur am Bierkonsum in der Eichbaumstube.) Ab und zu ließ ich es die Lehrkräfte spüren, was mir im Nachhinein schon etwas leid tut. Vieles, was man über die Altenpflege lernt, ist bis heute einfach zu abstrakt und wird dem tatsächlichen Pflegealltag und den Problemen nicht gerecht - eben der uralte Konflikt zwischen Theorie und Praxis.
Trotz meiner kritischen Haltung und meiner Besäufnisse blieb ich lange Zeit der Klassenbeste. Erst im dritten Jahr ließ ich etwas nach, weil ich zunehmend die Schulstunden schwänzte. Einige schmissen die Ausbildung vorzeitig (berufsbegleitend ist nicht gerade Zuckerschlecken), so dass wir gegen Ende nur noch 16 waren, ich als einziger Mann unter einer Schar gackernder Hühner. Lediglich zu einer Frau, die im Unterricht neben mir saß und das ganze ähnlich locker sah, hatte ich ein besonderes Verhältnis. Sie hatte den Charme und die große Klappe dazu, fast alle Lehrer, insbesondere die männlichen (vorallem den Gerontologielehrer) um den Finger zu wickeln. Sie war einfach ungeheuer ungezwungen in ihrem Auftreten und dem Zeigen ihrer fraulichen Reize - die sie hatte ... wow!
Wir hielten Händchen und kokettierten miteinander, während der Gerontologielehrer seine endlosen Tafelanschriebe verfasste. Eigentlich hätten wir früher oder später im Bett landen müssen, aber da funkte mir ein Typ aus der Parallelklasse dazwischen, mit dem sie ständig Dope rauchte und ein Verhältnis einging.
Als 1998 die letzten Prüfungen überstanden waren, nahm ich nicht an der Abschlussfeier teil und sah meine Mitschülerinnen nie wieder. Ähnlich wie nach den Abiturprüfungen fühlte ich mich gar nicht sonderlich besser. Es war etwas rum, was mir sowieso lange keinen Spaß gemacht hatte. Es fiel von mir ab wie ein schon vorher abgestorbenes Körperteil.
Die Eichbaumstube besuchte ich dann auch immer seltener. Neben des Spruchs des beinahe greisen Barkeepers („Und kitzelt mich niemand, kitzele ich mich selbst.“) erinnere ich mich an die „Drei Affen“, die als kleine goldene Figur auf dem Regal gegenüber dem Tresen standen und an die griechische Chefin, die immer hautenge Hosen trug, dazu ein verdammt weites Dekolleté ...

Noch drei Songs von „Quadrophenia“. Ich weiß, dass ich damals im Kino bei den letzten Titeln „The Real Me“ und „I Am The See“ die Tränen nicht zurückhalten konnte.

Nein, es gibt kein Happy End.

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