Dienstag, 15. Februar 2011

Am Ende nahm ich ein Taxi


Ich bin müde. Wahrscheinlich macht die Leber langsam schlapp. Die Frühjahrsmüdigkeit kann‘s noch nicht sein, obwohl auch gestern wieder verführerische Sonnenstrahlen lockten. Ich zog den leichten Trench-Coat über. Auf der Neckarbrücke fröstelte es mich dann im kalten Wind.
Im Café Petit Paris las ich die letzten Seiten von Knoflachers „Virus Auto“. Der Mann hat ja so recht! Aber ich glaube, dass das Auto nicht der einzige Virus der technisierten Welt ist. Da sind z.B. noch das Handy oder Smartphone, der Fernseher, der PC zuhause, die Spielautomaten ...
Ob in der Straßenbahn, in den Kneipen oder in der Fußgängerzone - überall sehe ich Menschen, die an ihren Smartphones rumspielen oder mit ihnen telefonieren. Vorallem immer jüngere Menschen, kaum im Teenageralter, haben solche Dinger dabei. Man gewöhnte sich inzwischen dran. Ich erinnere mich, dass noch Anfang der Neunziger (des letzten Jahrhunderts) die Menschen die Nase rümpften, wenn jemand in Bus oder Straßenbahn sein Handy zückte. Inzwischen hat wenigstens ein Drittel aller Insassen Ohrstöpsel im Ohr. Immerhin - manche sieht man noch lesen. Heidelberg ist Universitätsstadt. Als Student kommt man auch in den heutigen Zeiten der elektronischen Medien nicht ganz um das Buch herum.
Der Barkeeper spendierte mir wie immer einen Ouzo (oder zwei). Er ist Türke und hat für einen Mann sehr hübsche und strahlende Augen - mitte Zwanzig, schätze ich ihn.
„Wie geht‘s Ihnen?“ fragte er.
„Na ja“, ich zögerte, „ich muss bald wieder arbeiten.“
„Man muss froh sein, wenn man heute Arbeit hat.“
„Stimmt!“ entgegnete ich knapp und vertiefte mich wieder in meine Lektüre. Einige Stellen strich ich mir an. Knoflachers Gedankengänge finde ich faszinierend. Sie könnten von mir sein. Nur hat er dazu den wissenschaftlichen Überbau.
Ich prostete mit dem Ouzo dem freundlichen Barkeeper zu. Er unterhielt sich gerade mit einer Kollegin darüber, wie sie mit der Straßenbahn zu ihrem Wunsch-Friseur kommt, und wie lange das dauert mit Umsteigen.
„Also, da würde ich gleich das Auto nehmen“, sagte er, „oder ein Taxi“, und lachte:“Dreißig Euro für Taxi plus dreißig Euro für den Friseur ... macht sechzig Euro!“
In der Gasse vor dem Café war inzwischen auch was los: Ein PKW hatte eine Torausfahrt halb zugeparkt. Ich sah einen verärgerten,bärtigen, älteren Herrn, der um das Auto herumschlich, und kurze Zeit später im Café nachfragte, ob das Auto von einem Gast sei. Nein, war es nicht.
Ich hatte noch ein paar Seiten. Neugierig blickte ich zwischendurch in Richtung Gasse, ob der PKW dort noch als Ärgernis stand. Außerdem überprüfte ich den Posteingang meines Iphones und trank von meinem Bier. Zur Zeit stehe ich auf dunkles Hefeweizen.

Knoflacher:
Die Antwort auf die Frage „Wo stehst du“ - „Zwei Gassen weiter im Halteverbot.“ - wird nicht als Realitätsverlust erfahren, sondern als normal empfunden, obwohl das befragte Gegenüber kaum zu übersehen ist. Es entsteht der Eindruck, dass nicht der Mensch gefragt wurde, sondern das Virus Auto selbst, und dabei vorausgesetzt wird, dass der Mensch als dessen Sprecher fungiert.

Und ein paar Seiten weiter:
So wie die Weiterentwicklung eines Lebewesens, das von Krebs befallen ist, nicht mehr möglich ist, wird die Evolution der Menschen durch das Auto blockiert. Doch dieser Zerstörungsprozess wird von den Ideologen des Energierauschs unserer Zeit weder erkannt noch in seinen Auswirkungen verstanden. Ganz im Gegenteil - sie geben sich der Illusion hin, man könne die Menschen in beliebig großen Einheiten aufgehen lassen, ohne das Bestehende zu erhalten. Schon die Ideologen des Kommunismus sind mit dieser Vorstellung gescheitert. Sie alle übersehen nämlich die Grundvoraussetzung, die für jede Gemeinschaft erforderliche Solidarität. Diese ist in der Bindekraft kleinerer Einheiten verankert und kann nur auf diesen aufbauen, und nicht auf isolierten Einzelelementen.
Bei der Nutzung fossiler Energie für die Automobilität hört aber jede Solidarität auf. Selbst die mit den eigenen Kindern wird aufgegeben, denen man Bewegungsräume zugunsten des Autoverkehrs wegnimmt.


Ich schaute mich um. Es war gerade früher Nachmittag. Keine neuen Mails auf dem Iphone. Das Café war mäßig gefüllt. Einige Gäste aßen noch zu Mittag. Der Barkeeper servierte mir den zweiten Ouzo. Ich bedankte mich. Endlich kam der Besitzer des PKWs vor der Toreinfahrt. Kein Showdown. Beinahe schade. Als er die Ausfahrt frei gemacht hatte, fuhr der ältere, bärtige Mann mit einem protzigen Geländewagen davon, und der Missetäter stellte seinen Wagen wieder zurück vor das Tor. Offensichtlich hatte man sich irgendwie geeinigt.
Ich gähnte, und als ich mit Knoflacher abgeschlossen hatte, setzte ich mich, zweibeinig, in Bewegung Richtung Fussgängerzone. Der Nachmittag zog sich in die Länge.

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