Samstag, 1. Dezember 2007

Warum ich glaube, dass es ein realexistierendes Spießertum gibt; oder: Mein Weihnachtsgeschenk an euch

Es weihnachtet sehr. Gestern Abend schlappte ich über den Weihnachtsmarkt und kaufte mir Tigerbalsam. Es war ziemlich Betrieb. Ich kam hauptsächlich wegen des feil gebotenen Kunsthandwerks, denn ich kann mich an Tüchern, Schals, Taschen und solchem Klimbim kaum sattsehen. Ich bin ein Augen- und Nasenmensch. Auch die Gerüche von Zimt und Exotik locken mich.
Aus dem Weihnachtsfest selbst mache ich mir nichts. Im Gegenteil hasse ich regelrecht das weihnachtliche Getue der Menschen, welches in Familien- und Geschenkeorgien an Heiligabend und den Feiertagen seine Krönung , seinen Climax findet. Ich halte Weihnachten für das Spießerfest schlechthin.
Bereits als Kind fand ich schnell, dass die familiäre Weihnachtsfeierlichkeit nur aufgesetzt war. Hinter der Fassade von gegenseitiger Abschleckerei und Schöngetue verbargen sich eine Menge Dämonen, die da sprachen: Hoffentlich ist der Zirkus bald vorbei; oder man war von den Geschenken so gar nicht begeistert, heuchelte aber Freude vor. Ich fühlte mich in dieser gedopten Weihnachtsheiterkeitsstimmung nie recht wohl - abgesehen von den ersten Jahren, als ich wirklich noch an Märchen glaubte.
In der Pubertät machte ich meinen Eltern klar, dass ich mit Weihnachten nichts am Hut habe; und bald saß ich ihnen zum Gefallen nur noch ein Stündchen nach der Bescherung zusammen mit der Verwandtschaft im Wohnzimmer ab. Natürlich bei einschläfernden Weihnachtsliedern; meine Mutter war der Meinung, die müssten sein. Peinlich fand ich es, wenn sie gar noch mitsang. Nachdem ich in ausreichendem Maße den Erzählungen meiner Großeltern gelauscht hatte, verzog ich mich mit den Geschenken auf mein Zimmer und legte Hard Rock auf. Als ich 18 war, ging ich mit meinen Freunden an Heiligabend auf die Piste. Fürs Taxi legten wir zusammen, wir hatten schließlich dicke Geldbörsen; uns interessierten schon lange nicht mehr die Sachgeschenke sondern die Geldumschläge, die ihnen beilagen. Sollten die Spießer doch zuhause vorm Weihnachtsbaum klönen, wir machten die Kneipen, die offen hatten, unsicher. In einigen Wirtschaften konnte man bis zum Morgen des 1. Feiertags saufen. Es ging ja auch später los, und das Geld in den Gesäßtaschen saß sehr locker.
Heute, das heißt seit einigen Jahren, verbringe ich Weihnachten einfach wie jeden anderen Tag. Manchmal habe ich im Altenheim Nachtdienst; und wenn ich zuhause bin, trinke ich gemütlich eine Flasche Wein mit mir selbst und weiß, dass in ein paar Tagen alles vorbei sein wird, spätestens nach dem irrsinnigen Silvesterkult - denn ich bin außerdem Silvestermuffel. Für mich sind solche Festivitäten Ausdruck bürgerlichen Spießertums. Nicht dass ich überhaupt nicht feiern würde. Ich lasse mir nur nicht durch doofe Traditionen vorschreiben, wann ich lustig zu sein habe und wann nicht. Zum Feiern brauche ich keinen vorgegebenen Anlass. Anstandshalber gratuliere ich einigen Menschen, die mir nahe stehen noch zum Geburtstag. Für mich zelebriere ich auch diesen Tag seit Jahren nicht mehr. Ich wüsste auch nicht, was es da zu feiern gäbe, dass man geboren wurde.
Nein, ich bin nicht destruktiv, ich bin ein lebenszugewandter Geist. Ich sage mir halt: Wenn ich schon lebe, dann will ich so frei wie möglich von all diesen gesellschaftlich und religiös auferlegten Konventionen und Bräuchen sein. Ich habe doch nur dieses eine Leben, um mich wenigstens als autonom denkender Mensch von der Masse der Spießer zu emanzipieren. Ich führe fort, was die 68er begannen - nur eben auf meine Weise. Es geht mir nicht um äußerliche Stilbrüche sondern um eine innere Befreiung. Wie viele Hippies und Punks erlebte ich, die wenigstens so spießig waren wie ihre Elterngeneration, also jene, gegen die sie eigentlich revoltierten. Nur einige wenige Originale lebten wirklich ihre "Ideologie".
Apropos Ideologie: Ich bin der Meinung, dass der Sozialismus aufgrund des herrschenden Spießertums den Bach runter ging. Außerdem glaube ich, dass der Faschismus durch Spießer erst eine "Normalität" gewinnen kann - Eichmann z.B. war ein astreiner Spießer und Bürokrat. (Der Beziehung zwischen Bürokraten und Spießern gebührt eine spezielle Betrachtung.)
Inzwischen erlebe ich in der Gesellschaft einen besorgniserregenden Rückwärtstrend, was spießige Lebensformen angeht. Es gibt viele Errungenschaften, welche die 68er, später die Friedensbewegung und die daraus resultierenden Grünen für das zivile Leben erkämpften, z.B.: Geschlechteremanzipation, Toleranz gegenüber Homosexuellen, Abnahme der Obrigkeitshörigkeit, Gewöhnung an exzentrische Erscheinungsformen in der Öffentlichkeit, Reduzierung von Vorurteilen gegenüber Fremden und Andersartigkeit ...
Ich weiß schon, dass es Generationen braucht, um verstaubte Gewohnheiten und Denkweisen abzulegen. Die Bevölkerung ist eine träge Masse, und das Spießertum scheint ihr im Blut zu liegen, bzw. in den Genen. Oder sind die "Meme" dafür verantwortlich?

An Weihnachten jedenfalls sehe ich jedes Jahr überdeutlich die Spießerfratze vor mir, die ich, solange ich atme, in mir bekämpfen werde. Ich tauge nicht zum Revolutionär alter Schule. Ich will meine Mitmenschen weder geißeln noch missionieren; niemand soll sich genötigt fühlen, nach meinen Prämissen zu leben. Ich kämpfe mit mir, da habe ich genug zu tun.
Mein "Weihnachtsgeschenk" an euch: Ein Einblick in meine Gedankenwelt.

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