boMAs Gedichte und Texte
Die Barhocker standen auf dem Tresen und den Stehtischen Spalier, als ich reinkam. Die Reinemachefrau putzte bereits fleißig. Es roch nach Salmiakgeist, und der Boden vor dem Eingang glänzte. „Darf ich?“ fragte ich. „Klar“, antwortete sie lachend, „am besten schweben“. Zügig überwand ich die gewischte Fläche und setzte mich weiter hinten an einen der Tische. Cria, die Thailänderin, bediente; ein einzelner Gast saß zusammengesunken zwischen den hochgestellten Barhockern und schlief, neben sich ein halbvolles Bierglas. Zwei Handwerker tranken an einem Stehtisch Kaffee. Sie treffen sich vor ihrer Arbeit in der Bierbar, sowieso nach der Arbeit, und wahrscheinlich auch zwischendurch. Ich nahm von Cria mein Bier entgegen und legte mein Schal ab. Ich schaute durch die Fensterfront auf die Passanten und den Verkehr. Die Hausfassaden leuchteten in der Morgensonne.
Ich erwische meist die Zeit, wo die Reinemachefrau den Laden durchputzt. Sie macht es täglich zwischen Sieben und Acht. Die Übergabe von der Nacht- zur Frühschicht ist dann gerade gelaufen. Ich genieße mein Bier vor der Schule und schaue raus auf die Sonnenallee oder sitze an der Bar, je nachdem. Es gibt Gäste, denen ich lieber nicht nahekomme.
Diesmal war es angenehm ruhig, vom Schnarchen des an der Bar schlafenden Gastes abgesehen. Die Reinemachefrau hatte ihre Arbeit fast geschafft und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Alle machten sich über die Schnarchnase lustig. Schließlich rüttelte die Reinemachefrau den Mann sanft an der Schulter. „Süßer, du solltest langsam aufwachen…!“ Offenbar war er ihr Partner, und sie wollte ihn mit nach Hause nehmen. Der Mann richtete langsam seinen Oberkörper auf. Ich sah ihn nur von hinten, aber ich stellte mir vor, dass er sein verschlafenes Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. Dann griff er sich das halbvolle Bierglas und trank es in einem Zuge leer. Der Mann wandte sich an Cria und ließ ein paar Anzüglichkeiten vom Stapel, u.a. dass Thailänderinnen gut im Bett seien. Die Reinemachefrau hatte inzwischen ihre Sachen gepackt und wartete geduldig. „Süßer, wenn du guten Sex haben willst, kommst du jetzt besser mit!“ Wir lachten.
Die Uhr zeigte kurz vor Acht. Für mich wurde es Zeit. Vorbei an der Reinemachefrau eilte ich hinaus auf die Sonnenallee. Der Tag war viel zu schön, um ihn in der Schule zu verbringen…
Die Zeit breitet ihre großen Schwingen über dir aus. Sie hebt dich sanft empor gleich einer Raubtiermutter, die ihr Junges in Sicherheit bringt. Du hast keine Angst, dabei trägt sie dich in scheinbar atemberaubendem Tempo fort. Wenn du nach oben blickst, siehst du nur einen Ausschnitt ihrer riesigen Umrisse. Die Reise geht in schwindelerregende Höhen: Städte und Landschaften verwandeln sich in Gemälde. Seltsam ist, dass du keinen Luftzug wahrnimmst, und du hörst keinen Ton außer einem beruhigenden Rauschen. Du assoziierst damit das Flüstern der Bäume, vielleicht in einer lauen Sommernacht, wenn der Wind auffrischt.
Seit dich die Zeit davontrug, kannst du nicht mehr sagen, wie viel Zeit eigentlich verging. Viele schöne Momente aus deinem Leben kommen dir in den Sinn, Zeiten von Liebe und Glück. Du fühlst dich unsagbar geborgen in den Fängen der Zeit. Himmel und Erde, Tag und Nacht lösen sich auf. Offenbar gibt es eine Dimension abseits von allem Irdischen. Inzwischen schrumpfte die Welt zu einer Ahnung. Du bemerktest gar nicht, dass die Zeit dich hier absetzte - am sorgenlosesten Ort, den du dir vorstellen kannst.
Stell dir vor, du befindest dich außerhalb deines Körpers, wie es von Menschen mit Nahtoderfahrungen erzählt wird, mit dem Unterschied, dass du quicklebendig bist. Du blickst also nicht auf deinen toten Körper, sondern siehst dich ganz normal bei den täglichen Verrichtungen. Du hängst wie ein Luftballon an einem unsichtbaren Faden über dir. Natürlich fragst du dich, wer denn in deinem Körper haust, da du eigentlich da oben schwebst. Wurdest du von einer fremden Seele rausgeschmissen? Aber umso länger du dich beobachtest, desto stärker wächst die Gewissheit, dass du es unveränderlich selbst bist. Du siehst dich morgens aufstehen, den Kaffee trinken, du siehst dich zur U-Bahn laufen… Anfangs ist es ziemlich gewöhnungsbedürftig – in der Tat erschreckend, sich selbst von außen zu beobachten. Du siehst dich das Bier im Bierbaum trinken und zur Schule eilen…, du siehst dich zwischen den „Hühnern“ im Klassenraum am Computer sitzen, du siehst in dein gelangweiltes Gesicht. Mit der Zeit macht es dir nichts mehr aus. Du überlegst dir, in was für einem seltsamen Zustand du dich befindest: Wenn diese Person du bist, wer bist dann … du? Es erscheint außerdem unerklärlich, wie du dir in diesem Zustand Gedanken machen kannst. Du hast keinen Einfluss auf die Figur, die dich im Leben repräsentiert. Bald nennst du sie dein Alter Ego…
Endlich habe ich auch die Bewerbungsfotos. Das Foto-Shooting erwies sich als regelrechte Folter, obwohl die nette Dame ihre Sache gut machte. Als sie mir die Bilder zeigte, war ich ganz schön geschockt, wie scheiße ich aussehe: Bin ich dieser grinsende, alte Sack mit den Hamsterbacken?
In der Schule fragten meine Mitschülerinnen schon, ob ich auf einer Fahndungsliste stünde, weil ich mich vor den Fototerminen immer drücke. Heute war es wiedermal soweit, ein Huhn hatte Geburtstag, und da musste freilich ein Gruppenfoto her. Erneut wurde ich gefragt und musste ablehnen. Dafür durfte ich auf den Auslöser drücken. Die Hühner empfinden keinerlei Scheu, sich in ihrer ganzen Pracht ablichten zu lassen. Danach teilen sie die gemachten Bilder über WhatsApp und machen sich Komplimente. Ich frage mich, wer von uns die größere Macke hat.
Na ja, jeder ist, wie er ist. Oder niemand kann aus seiner Haut.
Vielleicht bin ich deswegen ziemlich einzelgängerisch. Mir ist das alles oft zu viel. Die Menschen um mich herum betrachte ich am liebsten aus sicherer Distanz. Nichtsdestotrotz mag ich sie – es ist nur diese furchtbare Penetranz, die mich abschreckt. Ich komme mir dann vor wie auf der Flucht. Ständig soll ich irgendwem gerecht werden. Schon in meiner Jugend fühlte ich mich unter meinen Mitmenschen als Fremder. Auf meine vielen Fragen fand niemand befriedigende Antworten.
Ich wurde zwar älter, aber im Großen und Ganzen blieb mein Verhältnis zur Welt gleich. Scheiß Diskrepanz zwischen dem, was man in sich fühlt, und dem, was man (dann und wann) zu Gesicht bekommt. Absolut nicht stimmig! Richtig fies und ungerecht! Außerdem anstrengend… Ständig muss man nachbessern. Dabei nutzt es nicht viel. Die Tatsachen schreien einen geradezu an, und der Zerfall ist gnadenlos.
Machen wir das Beste draus – aber nicht unbedingt Fotos* von uns.
(* Was wollen wir damit dokumentieren?)
Einfach nur zu existieren, ist bereits immens anstrengend. Jedenfalls fühle ich mich gerade danach. Die Abreise O.s und das überlange Weihnachtswochenende zogen mich runter. Es fiel mir total schwer, mich zu irgendwelchen sinnvollen Aktivitäten aufzuraffen. Abends fraß ich mich voll und ging früh zu Bett. Der Blues des Lebens schlug zu. Mitten in der Nacht lag ich wach und erstellte eine Liste mit meinen Ängsten, in alphabetischer Reihenfolge. Ich kam nur bis „D“… D wie Darmverschluss, Demenz und Durst…
Am Sonntagnachmittag ging ich zum Breitscheidplatz, um wenigstens einmal vor der Tür gewesen zu sein. Mir fiel nichts Besseres ein: Eine Runde um die Gedächtniskirche drehen, einen Glühwein mit Schuss trinken, vielleicht an einem der vielen Fressstände für zuhause was zu futtern mitnehmen und in einer Kneipe sitzen, um ein paar Postkarten mit Neujahrsgrüßen zu schreiben.
Ich fand in einer Nebenstraße zum Kudamm eine Altberliner Bierkneipe. Als ich eintrat, waren da nur der Wirt und eine Dame, die schon bessere Jahre gesehen hatte. Ich setzte mich an die Bar. In der Ecke lief eine Glotze. Die Kneipe war größer, als es von außen den Anschein hatte. Fast auf jedem Tisch stand ein Reserviert-Schildchen, wie ich auf dem Weg zur Toilette feststellte. Die Küche machte gerade erst auf. Überall grinsten mich von den Wänden Berliner Zeugnisse an, teils bereits vergilbt. Die Wirtschaft machte insgesamt einen leicht heruntergekommenen Eindruck. Auf den Fenstersimsen in der Toilette standen Plastikblumen. Na ja, als Gast bekam man selten seine Wunschkneipe. Hauptsache, ich konnte in Ruhe mein Bier trinken und die Karten schreiben.
Inzwischen stand die Wirtin hinterm Tresen. Sie schaute sich mit ihrem Mann zusammen eine dieser halbdokumentarischen Sendungen an, in der ein Gastronomieprofi einem abgehalfterten Betrieb wieder Leben einhauchen sollte. Die Wirtsleute der Altberliner Kneipe amüsierten sich, obwohl ihre Kneipe fast alle Kriterien erfüllte welche der Gastronomieprofi im TV bemängelte. Offensichtlich waren sie betriebsblind. Die ersten Gäste, ausnahmslos Touristen, kamen. Ich verlangte die Rechnung und glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Fünf Euro Dreißig für ein gezapftes 0,4 Berliner Kindl! Einen solch horrenden Bierpreis erwartete ich nicht in dieser Kneipe.
Die Sonne hatte sich längst hinterm Kudamm verabschiedet, als ich die Rückfahrt antrat. Mit der U2 sind es nur drei Haltestellen. Beim Spätkauf besorgte ich mir schnell noch drei Flaschen Sternburg. Nur für alle Fälle. Mein Durst war bereits gestillt.
Ameisengewimmel am Alexanderplatz. Gesichter rauschen massenhaft vorbei, ohne dass ich sie wahrnehme. Ich tanze durch die Menge. Ich schaue in den Himmel und glaube die Marionettenspieler zu erkennen. An einem der unsichtbaren Fäden hänge ich. Halb lasse ich mich tragen, halb gehe ich selbst. Wohin ich mich auch umdrehe: es heißt immer Vorwärts.
Der Herbst lässt es Blätter regnen. Sie tanzen durch die Luft, bis sie auf dem Pflaster liegen bleiben und von Millionen Füßen zertreten werden. Ich muss achtgeben, dass ich auf der schmierigen Masse nicht ausrutsche…
Der Tanz geht weiter durch die Straßen, durch U-Bahn und S-Bahn, durch den Supermarkt. Die Flut drängt mich nach vorne zur Kasse. Die Kassiererin ist nett. Meine Augen, meine Schläfen und meine Stirn eilen mir voraus…
Es dämmert bereits, als ich auf dem Weg zurück zur Wohnung bin. Ich schiebe Kohldampf. Niemand kann sagen, was ich hier mache. Ich brauche es nicht zu wissen. Ich weiß, dass es mir gut geht. Alles andere erledigt sich wie von selbst.
Erneut erkenne ich die Marionettenspieler über mir, diesmal im Dunkeln. Sie reden über mich und mein Leben:
„Ich denke, dass er die nötige Punktzahl wieder nicht erreichen wird.“
„Ja, wir werden ihn nochmal ins Rennen schicken müssen…“
Ich drehe den Schlüssel im Schloss um und öffne die Haustür. Ich fühle mich wohl in meinem... in unserem Zuhause. Eine der vielen Illusionen muss die Wirklichkeit sein.
Das Leben erscheint mir komplett mit Frau und Wohnung in Berlin. Ich sitze in einem freundlichen Herbstwochenende. Das Tageslicht sanft, ein Laubteppich liegt vor der Tür.
Auch mit der Fortbildung läuft alles gut. Alles schreitet unaufhaltsam voran wie eine Armee, angeführt von einem irren General… Wir wissen, wo der Weg hinführt. Man treibt Scherze mit den Schicksalsgenossen und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.
Gut so. Ich greife mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Inzwischen zähle ich zu den erfahrenen Kämpfern. Ich sehe den Überschwang der Jugend, die drauflos stürmt, und lächele darüber. Viele sind sicher gute Kerle…
Der Winter 2015 steht vor der Tür. Ich höre einen Song von AC DC, bewegungslos – aber in mir rockt es. Die Rockmusik fließt wie das Bier direkt in meine Seele. Ich umarme das Leben. Ich umarme meine Liebste.
Ich schaue auf mein Leben. Ich schaue auf die Straßen. Ich habe keinen Überblick. Aber hier bin ich und funktioniere. Mein Herz schlägt. Die Hormone ficken mich – in die ein oder andere Richtung. Berlin-Neukölln zeigt mir zuhauf den lebendigen Ausschuss unserer Spezies. Die Lehrerin erklärt einen Tag lang das Gehirn. Wozu denken wir über unser Gehirn nach? Ich verstehe nichts.
Die Luft ist schwanger von Feuchtigkeit. (Wo verlor ich meinen Regenschirm?) In Schlangenlinien laufe ich um die Menschen herum in der U-Bahn Station. Auf der Erde braune, matschige Blätter.
Die Ärztin sagt mir, dass meine Herzklappen nicht richtig schließen. Ach so, denke ich, warum sprach dann der Kardiologe (nur) von einem hyperkinetischen Herz? Warum fühle ich mich nach einem Arztbesuch schlechter als vorher?
Die Straße begrüßt mich mit Gleichmut. Der graue Himmel liegt wie ein fetter, fauler Leviathan über der Metropole. Nachdem ich in der Apotheke das Rezept einlöste, gehe ich ins naheliegende Pub. Das Bier ist ein alter Trost, der nur bedingt wirkt. Ob die Erde auch Angst hat? Müsste man nicht allein aus der Tatsache heraus, dass man lebt, verrückt vor Angst werden? Ich kann dieses „Juppheida!“ der gnadenlosen Lebensbejaher nicht nachvollziehen. Im Pub sitzen eine Menge Gestalten, die sich aneinander und am Bier festhalten. Es spielt dabei gar keine Rolle, was gerade Thema ist. Ich sitze in Gedanken etwas abseits. Ich mochte noch nie dazugehören.
Im Kindesalter tickt die Lebensuhr noch andersrum, hin zu Stärke, Größe und Vollkommenheit. Die Vergänglichkeit des eigenen Lebens rückt darum in jungen Jahren nicht in unser Blickfeld. Wir begreifen das Sterben und den Tod (noch) nicht als etwas, was auf uns selbst zukommen wird. Der Tod ist eine Märchengestalt – wie Gott. Die kindliche Phantasie schafft dafür Räume, in denen keine rationalen Gesetzmäßigkeiten herrschen. Wunderbare, tröstliche Landschaften entstehen. Aber die Wirklichkeit lässt dies nicht immer zu: viele Kinder müssen zu schnell erwachsen werden, und andere wiederum werden nie „groß“…
Ganz genau kann man es nicht wissen. Irgendwann sind wir alle unzweifelhaft erwachsen, zumindest was unser Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit angeht.
Es gibt Dinge, bei denen ich denke, dass ich zu sehr erwachsen bin, und andere, bei denen ich gern erwachsener wäre. (Nein, ich komme jetzt nicht mit Beispielen.) In jeglicher Hinsicht erwachsen zu sein, stelle ich mir furchtbar vor. Als Kind dachte ich eine Zeit lang, dass es diese perfekten Erwachsenen wirklich gibt. Sie benahmen sich vor uns Kindern, als wären sie unangreifbar und hätten alles immer unter Kontrolle. Wahnsinn, wie sich mit den Jahren die Perspektiven verschieben… Heute weiß ich, dass das Erwachsenwerden im Großen und Ganzen ein Mythos ist.
Meine Lebensuhr tickt bereits ein Weilchen Richtung Vergänglichkeit und Tod. Ich will und muss niemandem mehr etwas beweisen. (Na ja, beinahe.) Ich frage mich oft, was wohl viele meiner Artgenossen umtreibt, wenn sie nach Macht, Ansehen und Geld streben. Sind es ihre niedrigen Instinkte? Gehört ein solches Streben etwa zu ihrem Erwachsensein? In was für einer Welt lebe ich?
Fakt ist, dass die Eieruhr des Lebens unweigerlich abläuft. Wie man die verbleibende Zeit ausfüllt, ist jedem selbst überlassen. Wer will den Lebensentwurf eines Menschen bewerten? Ich kann immer nur sagen, was ich davon halte – ohne Diffamierung oder Verurteilung. Die meisten Erwachsenen finde ich scheußlich, einige erträglich und sehr wenige richtig sympathisch... Ich hasse niemanden.
Jeder ist, wie er ist.