Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
Die Arschwischmaschine ist krank. Und was hat sie? Die Krätze! Wir kennen alle die Milben durch die Hausstaubgeschichte. Milben sind kleine Spinnentierchen (ca.0,3 mm), und einige Sorten bevorzugen das menschliche Hautkostüm als Wirt. Zu solchen Viechern kommt man nicht wie die Jungfrau zum Kinde. Wir hatten wenigstens zwei Fälle von Krätze unter den Altenheimbewohnern. Sie überträgt sich z.B. bei engem Hautkontakt. Und der kommt schon mal vor, wenn ich die Alten nachts durch die Betten ziehe oder die Windeln wechsele.
Als die Krätze endlich bei den Bewohnern diagnostiziert wurde, hatten zwei-drei Kollegen/Kolleginnen und ich uns wahrscheinlich bereits infiziert. Bis die ersten Symptome auftreten, dauert es zwei bis sechs Wochen. Und dann denkt man ja auch nicht gleich, dass man die Krätze hat. Man will das gar nicht denken.
Nachdem sich bei mir der Hautausschlag ausweitete, und das Jucken immer dramatischer wurde, zählte ich Eins und Eins zusammen. Meine ebenso betroffenen Kollegen waren erleichtert, als ich ihnen von meinem Hautproblem erzählte. "Gott sei Dank", sagten sie, "da bin ich also nicht der einzige, den es erwischte.
Das Salbenmittel der Wahl ist, wir kannten es bereits von den Bewohnern, Infectoscab 5% und muss auf den ganzen Körper aufgetragen werden. Von den Fußsohlen bis zum Nacken schmierte ich mich also vor dem Schafen ein mit dem Zeug. Es sollte wenigstens acht Stunden einwirken, bevor man es wieder abduscht. Nach zweimaliger (korrekter) Anwendung gilt man dann eigentlich als krätzefrei. Das bedeutete aber leider nicht Beschwerdefreiheit. Der stark juckende Hautausschlag weitete sich bei mir nach der Behandlung erst richtig aus! Wenn ich im warmen Bett lag, brach die Juckhölle über meinen Körper herein, und statt zu schlafen, wälzte ich mich kratzender Weise hin und her. Die Antihistaminika, die ich parallel einnahm, bewirkten keine nennenswerte Linderung.
Zufällig hatte ich zwei Wochen Urlaub, als ich wegen der Krätze in Behandlung war. Neben den körperlichen Qualen durch das Jucken und den hässlichen, großflächigen Ausschlag wuchsen mit der Zeit die Verunsicherung durch unterschiedliche ärztliche Meinungen sowie die Nervenzerreißprobe bedingt durch Schlafentzug, den hartnäckigen Krankheitsverlauf und Schamgefühle. Der Hit war, als die PDL (Pflegedienstleitung) lapidar zu einem betroffenen Kollegen meinte, er solle die Sache nicht hochspielen - womöglich wäre das alles nur psychisch!
Meinen Urlaub verbrachte ich also mit Kratzen und Arztbesuchen. Zur Absicherung schmierte ich mir noch zwei Tuben Infectoscab auf die Haut. Und wieder wurden der Ausschlag sowie das Jucken noch schlimmer. Der (etwas ominöse) Hautarzt am Ort meinte, das seien Ekzeme bedingt durch allergische Reaktionen. Unter Umständen müsste ich die Symptome noch wochenlang ertragen. Die Krätze jedenfalls könne es nach der Anwendung mit dieser "Wundersalbe" nicht mehr sein. Schön. Ich bin gern guter Hoffnung. Nun hätte ich über Ostern Nachtdienst schieben müssen ... Fuck! Wie soll ich fünf Nächte ohne nennenswerten Schlaf durchstehen? Mein Urlaub ging schon drauf!
Drum sitze ich also heute hier, eine Woche krank geschrieben, und erzähle Euch von meiner kleinen Leidensgeschichte. Also, ich wünsche niemandem die Krätze an den Hals. Hoffentlich helfen die Kortisonpillen, die ich ab heute schlucke. Das ins Bett gehen könnte sich sonst zu einer echten Horrorvorstellung auswachsen. Womöglich träume ich von einer Riesenmilbe mit menschlichem Gesicht und riesigen Scherenhänden ...
(PS: Ich vergaß ganz zu erwähnen, dass parallel die ganze Wäsche entseucht werden muss, also täglicher Wechsel der Körperwäsche, der Bettwäsche ... Ich lebe seit Wochen zwischen Waschorgie und (Kratz-)Wahnsinn.)
Die Nächte sind gezählt, dass wir unsere nächtlichen Runden zu Zweit machen.
Vor mir liegen vier Nachtdienste, wo ich das letzte Mal die Gesellschaft meiner lieben Kolleginnen genießen darf. Danach habe ich Urlaub, und wenn ich zurückkehre, werden wir nächtlich Soloplayer im Altenheim sein. Jedenfalls ist es so geplant. Wie das Kaninchen vor der Schlange harren wir der Tatsachen, der da sind. Solange die Nächte ohne besondere Vorfälle laufen, mag es vorstellbar sein, die Arbeit alleine zu leisten. Aber wenn ich mir Notfall-Situationen vorstelle oder Sterbefälle oder einfach eine betriebsame Nacht, kommt mir das Grausen. Ich stelle mir die Frage, ob ich dann noch guten Gewissens die Bewohner in der Nacht pflegen und betreuen, ihnen die notwendige Sicherheit bieten kann.
Sie machen es an der Bewohnerzahl fest. Wenn es unter fünfzig sind, kann mit einer Nachtwache der Dienst abgedeckt werden. Ich finde es vollkommen irrational, dass es unter Umständen an einem Bewohner hängt, ob man alleine oder zu Zweit die Nachtarbeit leistet. Man reduziert doch auch den Tagdienst nicht um die Hälfte. Außerdem wandern sowieso eher die leichten und weniger aufwendigen Pflegefälle ab, während die schweren "Brocken" bleiben. Es ist also völlig absurd zu denken, dass wir mit knapp fünfzig Bewohnern weniger Arbeit haben werden als mit gut fünfzig.
Hinzu kommt die psychische Belastung, die man nachts haben wird. Auf zwei Schultern verteilt sich die Verantwortung doch leichter als auf einer. Dann gibt es Bewohner, die in ihrer penetranten Art furchtbar nervig sein können. Bisher konnten wir sagen: "Komm geh du mal zu Frau M.. Ich kann sie nicht mehr ertragen!" In Zukunft werden wir diese schwierigen Belastungen ganz alleine schultern müssen. Aber bekommen wir deswegen mehr Gehalt? Pustekuchen! Ich bin nur mal gespannt, ob sie uns dann immer noch eine dreiviertel Stunde Pause abziehen, wie bisher.
Es ist gerade so, als müssten wir ab 1. April einfach die doppelte Arbeit leisten. Aber es geht nicht darum, dass irgendein Fließband halt doppelt so schnell läuft, und sich dadurch ein höherer Ausschuss an toter Materie ergäbe; sondern wir pflegen und betreuen Menschen - wir gießen auch nicht Pflanzen oder füttern Tiere - es geht um Menschen, die ein Recht auf eine bestmögliche Versorgung, eine größtmögliche Sicherheit und eine würdevolle Behandlung haben. Die Bewohner, die wir pflegen, das könnten wir selbst sein!
Ich verstehe nicht, wie ein kirchlicher Träger einen solchen Einschnitt in die Versorgung der Alten und Hilfebedürftigen machen kann. Es ist schon jetzt schwer genug, im Sinne der Nächstenliebe die belastende Arbeit der Altenpflege zu leisten. Ich weiß, dass die Sache bereits abgemacht ist. Nächsten Montag werden sie uns in einer Besprechung vor vollendete Tatsachen stellen. Sie werden uns vor die Wahl stellen. Viele von uns sind von ihrem Arbeitsplatz abhängig. Ich habe einen unbefristeten Arbeitsvertrag, den ich ungern aufs Spiel setzen würde. Die psychische Daumenschraube ist längst angelegt. Meine Bedenken werde ich vortragen, im Sinne meiner Kollegen und Kolleginnen und im Sinne der Alten. Wie oft wurde uns doch von denselben, die diesen markanten Einschnitt vornehmen, gepredigt, dass es allein um die Bedürfnisse der Alten geht?! Die Bedürfnisse des alten Menschen stehen unbedingt im Vordergrund ...
Einmal mehr werde ich in meiner Meinung bestätigt, dass wir nicht in Deutschland sondern in "Heuchelland" leben.
Dass im Pflegealltag vieles drunter und drüber läuft, liegt (mitunter) darin begründet, dass man als verantwortliche Schichtleitung das Gefühl hat, gleichzeitig an vielen Stellen sein zu müssen: Da muss der Dienst umorganisiert werden, weil ein Mitarbeiter kurzfristig krank wurde; eine Aufnahme schneit unerwartet herein; Angehörige von Heimbewohnern wollen etwas per Telefon erfragen; wichtige Medikamente müssen bestellt werden; Behandlungspflegen sorgfältig ausgeführt werden; nebenher muss man die Mitarbeiter motivieren und ihnen ab und zu auch auf die Finger schauen; ein Bewohner braucht besondere Fürsorge, weil er krank oder depressiv ist; und die Pflegedienstleitung oder Heimleitung liegt einem auch noch mit Irgendwas in den Ohren. Passiert dann ein Fehler, dann bist du derjenige, der sich den Anschiss abholt, denn du, so sagt die PDL, hast dich gefälligst darum zu kümmern.
In letzter Zeit höre ich oft den Begriff "Multitasking" und finde (nachdem ich nachschlug, was er bedeutet), dass er haargenau auf die Arbeitssituation einer Schichtleitung im Pflegeheim zutrifft. Man weiß manchmal nicht, wo einem der Kopf steht. Am liebsten wäre man an allen Stellen gleichzeitig, würde das Denken noch für die Anderen übernehmen, steigert sich regelrecht in einen Rausch hinein - es kommt einem vor, als wäre man die wichtigste Person auf dem Planeten - die Station wird zur zweiten Haut - scheint es - dabei merkt man gar nicht, dass man einen Tunnelblick kriegt und die Kontrolle verliert, weil es einem schlicht nicht erlaubt ist, die Kontrolle zu verlieren. Es ist zwangsläufig, dass Fehler und Nachlässigkeiten passieren. Manche Sachen macht man nur halb, um Zeit und Kraft zu sparen. Von Problemen wendet man einfach den Blick ab - nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Man eiert so durch den Stationsalltag und redet sich ein, dass es gar nicht anders geht. Die Kollegen und Kolleginnen eiern schließlich genauso herum. Der Dreck wird unter den Tisch gekehrt, was gut geht, solange niemand genauer hinsieht. Kommt dann die Heimaufsicht und hat dies und jenes zu bemäkeln, ist die Aufregung groß. Die PDL hält danach wieder einen ihrer Vorträge und droht mit Abmahnungen, wenn wir in Zukunft nicht pflichtbewusster arbeiten. Wir ducken uns und kriegen rote Birnen, weil wir genau wissen, wo der Hase im Pfeffer liegt: Wir sind mit dem Scheiß Multitasking überfordert: Man hat einfach zu viel um die Ohren, um alles richtig zu machen. Und die Anforderungen wachsen noch. Die Pflegedokumentation, der Pflegeprozess und die Qualitätssicherung nehmen immer mehr Zeit in Anspruch, so dass die Schere zwischen erfüllbarer Praxis und theoretischer Anforderung immer größer wird. Arbeitsethisch fährt man mit einer solchen Einstellung den Karren unweigerlich an die Wand. Aber wir haben ja unseren Pflegeleitfaden aushängen. Darin kann man unerfüllbare Ziele nachlesen. Den Alten, den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen können unsere Probleme freilich egal sein. Sie dürfen erwarten, was im Pflegeleitfaden großspurig versprochen wird.
Als ich diesen Gewissenskonflikt und die Notlügen gegenüber z.B. den Angehörigen und den Heimbewohnern satt hatte, ging ich in die Nacht. Wobei mir egal ist, ob manche Kollegen/Kolleginnen und die Chefin meinen, wir hätten nichts zu schaffen in der Nacht. Sollen sie ...
Artikel zu Multitasking:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,491334,00.html
Die Woche ist rum. Ich stellte mir den Wecker auf fünf Uhr am Morgen, aber ich wachte immer schon vorher auf, zählte erst die Stunden, schließlich die Minuten, bis ich aufstehen musste. Das Räderwerk der Zeit begegnete dem Räderwerk des Körpers. In der Dunkelheit begrüßte mich das Räderwerk der ausklingenden Sternennacht, und nach einem Kilometer in die Pedalen treten erreichte ich das Räderwerk Altenheim, meinen Arbeitsplatz. Meine Nachtwachenkollegen/-kolleginnen warteten schon auf den Tagdienst. Sie übergaben sich in den Fluss der Dinge. Wie ruhig oder unruhig war die Nacht? Es sind immer dieselben Heimbewohner, die die Nacht zum Tag machen. Diesmal stand ich am anderen Ufer, arbeitete in den anbrechenden Tag hinein. Der Tag reißt das Leben gewaltsam an sich. Nach der Übergabe klapperten wir mit den Waschschüsseln über die Station. Wasserrauschen in den Badezimmern, die üblichen Begrüßungsformeln: Guten Morgen, Frau G., gut geschlafen? Es ist wieder Zeit ...
Diesmal war ich das Helferlein im Dienste des Tages, um die Alten zu waschen, anzuziehen und zum Frühstück zu bringen. Für sechs Bewohner hatte ich zweieinhalb Stunden Zeit. Schüchtern linste ich in die Zimmer, wo die meisten noch schlafend in ihren Betten lagen. Es war immer noch dunkel, als ich die ersten wusch. Auch ich war noch müde. Eine Nacht, die man schläft, ist kürzer als eine Nacht, die man arbeitet. Und wie hatte ich geschlafen? Denkbar schlecht - stündlich war ich aufgewacht. Was war das Leben doch für ein verrückter Traum, dachte ich, was mache ich eigentlich hier? Behutsam rieb ich den Schlaf aus den Gesichtern der Alten und war froh, dass sie nicht widerspenstig waren.
Das Räderwerk des Tages dreht sich um das Waschen, die Mahlzeiten und die Toilettengänge. Dazu kommen die Krankheiten, Probleme und Malaisen der Heimbewohner. Mit einem riesigen Dokumentations- und Pflegeplanungsprogramm versuchen wir dem Ganzen gerecht zu werden. Nach meiner Frühstückspause saß ich eine Stunde am Computer. Die Pflegedienstleitung hatte es mir verordnet, damit ich als Nachtwache mit dem Programm arbeiten lerne. Ständig gibt es Pflegeplanungen und Pflegevisiten zu überarbeiten und Anamnesen zu den neuen Bewohnern zu erstellen. Die Zielperson, also der Bewohner, wird in AEDLs (Aktivitäten und existentielle Erfahrungen des Lebens) aufgebröselt. Er wird total durchleuchtet. Aber mich beschleicht dabei das Gefühl, dass unsere Einschätzungen oft willkürlich sind und mit dem Menschen nur oberflächlich zu tun haben. Die Pflege soll optimiert und gleichzeitig sollen die Kosten minimiert werden. Leidtragende sind die Heimbewohner, die von dem absurden Räderwerk des Gesundheitssystems und dem Pflegeapparat nichts verstehen. Und in einem Gewissenskonflikt stehen wir Pfleger und Pflegerinnen, die morgens in einer halben Stunde einen alten, gebrechlichen Menschen würdig, individuell unter Berücksichtigung aller Defizite und Ressourcen zu versorgen und zu aktivieren haben. Wir müssen selbstverständlich auf Hygiene achten, Standards einhalten und die Behandlungspflegen sorgfältig durchführen. Da ich noch nie erlebte, dass das Unmögliche dadurch möglich wird, indem man den Druck erhöht, passiert stets das Wahrscheinliche: Es entstehen Heuchelei, Lügen, Ausreden, fadenscheinige Kompromisse, geschönte Bilanzen ...
Mit müden Augen saß ich, die Nachtwache im Tagdienst, nach meiner Frühstückspause am Computer und beschäftigte mich mit dem Pflegeprogramm, das meinen Vorgesetzten so ungeheuer wichtig ist. Ich machte meine Arbeit, so gut ich konnte. Ich erlebte das Altenheim bei Tage mit all meinen Kollegen und Kolleginnen, denen ich sonst nur kurz bei der abendlichen und morgendlichen Übergabe begegne; ich erlebte die Alten außerhalb ihrer Betten mit ihren Tagesnöten aber auch sehr lebendig und teilnehmend ; ich erlebte die Hektik und die vielen Stimmen des Tages, das menschliche Durcheinander, das Chaos ...
Wichtig war für mich, dass ich die Zuneigung zu den Menschen spürte. Kein Räderwerk kann mir dieses Gefühl kaputt machen. Die Menschenliebe besteht neben der Technokratie.
Vierzehn Uhr hatte ich Feierabend, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr hinunter ins Dorf. Im Kaffeehaus saß ich erleichtert an der Theke und philosophierte mit dem Barkeeper. Er erzählte mir aus einem anderen Leben. Draußen spukte ein Novembertag, der früh sein Licht ausknipste.
21.11.08
Ich war überrascht, als die über neunzigjährige Frau anfing lauthals zu lachen. Erst verstand ich nicht, worum es ging, bis mir meine Kollegin erklärte, dass Frau M. wohl vor siebzig Jahren als junge Frau eine zeitlang geschauspielert hatte. Sie imitierte den französischen Akzent einer feinen Dame und lachte hernach köstlich. "Und nun Sie, und nun Sie", forderte sie uns auf. Wir mussten nur ein paar französische Worte sagen, und die Greisin explodierte förmlich vor Lachen in ihrem Rollstuhl. "Ich hatte die Geschichte längst vergessen, Felix, können Sie sich das vorstellen?" sagte sie, "und plötzlich kam es über mich!" Sie wurde gar nicht fertig darüber, derart unglaublich erschien ihr das Ganze. Ich freute mich für sie, denn zu oft wurde die Greisin von schlechten Erinnerungen geplagt, oder sie äußerte sich verzweifelt über das Altwerden und das beschissene Leben im Altenheim, wenn man auf Hilfe angewiesen war. An diesem Abend aber strahlte das ganze Zimmer vor guter Laune, als wir sie ins Bett packten. Ihr herzhaftes, zahnloses Greisenlachen werde ich so schnell nicht vergessen.
Eine andere bereits hundertjährige, der wir nachts öfter auf den Toilettenstuhl helfen müssen, hat ihren Humor auch nicht verloren. "So, und nun packen Sie meine Rosette wieder ein", sagte sie und lachte, als ich ihr die Einlage wieder anlegte und die Unterhose hochzog. Diesen Spruch erwartete ich nicht, denn die alte Dame erschien alles andere als ordinär.
Allzu Menschliches - Erlebnisse wie diese prägen sich nachhaltig ein. Ich bedaure es, dass wir viel zu oft im Stress sind, um die Alten, diese Urgesteine des Lebens mit ihren Wesensarten besser wahrzunehmen und zu verstehen. Man könnte sich viel mehr geben.
Der Arzt war ein Komiker und quatschte viel. Meine Kollegin und ich warfen uns amüsiert Blicke zu. Wir drehten den Toten, und der Arzt begutachtete den leblosen Körper. Er schaue nach Einstichstellen, sagte er ironischerweise, und als er am Hals war, meinte er: "Aha, alle Spuren vom Strick entfernt."
"Wir sind halt Profis", erwiderte ich. Der Tote war käseweiß, wie man sich typischerweise eine Leiche vorstellt, an den Auflagestellen bereits leicht blaurötlich angelaufen, marmoriert, wie man sagt.
Ich fand ihn gleich nach Dienstbeginn, als ich durch alle Zimmer ging, um zu kontrollieren, ob sie noch alle da waren. Ich sah auf den ersten Blick, dass er tot war. Seine Augen sahen aus wie bei einer Puppe, als wären sie eingesetzt. Das Fenster zur Seele war nur noch ein Fenster, dahinter wohnte niemand mehr. Es war einer jener Todesfälle, wo man im Grunde seines Herzens Erleichterung empfand. Der alte Mann war in den letzten Monaten zum schweren Pflegefall geworden. Jede pflegerische Verrichtung wurde zur Qual. Er erbrach das wenige, das man ihm mit Mühe noch einflößen konnte. In den Jahren meiner Altenpflegetätigkeit hatte ich ein Gefühl entwickelt, wann die Zeit für einen Menschen gekommen war. Trotzdem war ich überrascht, als ich den Toten fand. Sterbefälle bleiben etwas besonderes.
Ich war froh, dass die Angehörigen, eine Nichte und ihr Mann, die Todesnachricht gefasst aufnahmen. Es bleibt nicht viel zu sagen. Man druckst herum und kommt schnell auf die Formalitäten zu sprechen.
Nachdem ich die Angehörigen informiert hatte, bestellte ich über den ärztlichen Bereitschaftsdienst jemanden für die Leichenschau. Der Arzt, der kam, machte einen lockeren Eindruck. Er mochte so alt sein wie ich (Mitte vierzig - er bestätigte dies im Verlaufe seines Besuchs), hatte einen Pferdeschwanz und sah insgesamt nicht besonders ärztlich aus. Ich hätte mir gut vorstellen können, mit ihm ein paar Bier trinken zu gehen.
Nachdem wir bei dem Toten waren, stellte er die Papiere aus. Der Verstorbene wurde Achtzig. "Das ist bereits die Generation meiner Eltern", sagte ich, "Gott sei dank sind die noch rüstig". "Weißt Du", entgegnete der Arzt, "es wird unheimlich, wenn ich bei meiner notärztlichen Tätigkeit immer mehr Todesfälle erlebe, die etwa mein Jahrgang sind"; und er erzählte meiner Kollegin und mir, wie man auch in "unserem Alter" sterben könne. Bei Erkrankungen wie z.B. Demenz mache man am Besten selbst Schluss, solange man noch könne, sagte er, was mit gewissen Mittelchen ganz einfach ginge; und er nannte uns einige tödliche Medikamentencocktails. Meine Kollegin sagte lachend: "Nein, das ist nichts für mich, ich habe Kinder, die will ich noch aufwachsen sehen." Dieser Arzt war wirklich eine Type. Mit einer Flasche Whiskey und Paracetamol könne es auch klappen, sagte er, oder einen Liter destilliertes Wasser trinken. Während er die Papiere für den Toten ausfüllte, erklärte er uns mannigfaltige Methoden, wie man sich ins Jenseits befördern könne, und wie besser nicht.
"Noch Fragen?" sagte er, als er alles gefaltet in einen Umschlag steckte. "Nein", antworteten meine Kollegin und ich fast wie aus einem Munde. Seine Ausführungen hatten uns prächtig amüsiert. Als er gegangen war, tranken wir einen Kaffee - die Nacht war noch jung.
Ich finde es immer wieder faszinierend, auf Menschen zu stoßen, die scheinbar unüberbrückbare Grenzen überwinden; Menschen, die mutig und engagiert ihre Träume in die Tat umsetzen.
Nicht erst seit der Bankenkrise versuche ich mir ein Leben ohne Geld vorzustellen. In einer Welt, in welcher Geld beinahe wie ein Naturelement gehandelt wird, scheint dies unmöglich zu sein. Man lernt von Kindesbeinen an, dass Geld das Mittel der Wahl ist, welches einem Tür und Tor öffnet; welches unbedingt notwendig ist, um sich seine kleinen und großen Wünsche zu erfüllen; ja, unabdingbar für das Überleben ist. Menschen stehlen und morden für Geld. Ganze Kriege werden für Geld geführt. Menschen werden für Geld gehandelt, oder sie verkaufen sich selbst. Ein Menschenleben hat seinen Preis. Selbst ideelle Werte scheinen ihren Preis zu haben. Der Mammon unterminiert Kirchen und Gesetz. Das Geld scheint über die Menschheit zu regieren. Es ist darum völlig absurd, ein Leben ohne Geld realistisch in Erwägung zu ziehen. Würde ich dies z.B. auf einer belebten Fußgängerzone ausrufen, würde man mich einen Spinner heißen oder mich gütig belächeln. Ich überlege mir folgendes Szenarium: Ein Stand in der Fußgängerzone, wo plakatiert ist, man solle sich all seines Geldes entledigen, um die Seele zu erleichtern - Slogan: "Lebe ohne Geld - Lebe leichter!" ... oder: "Geld ist Teufelsmaterial!"; am Abend solle man dann gemeinsam einer rituellen "Geldverbrennung" beiwohnen ...
Okay, ich sehe schon, Ihr lächelt. Ich werde Euch nicht dazu bringen, Euer Geld abzugeben; und als Guru bzw. Sektenführer tauge ich nicht. Ich bin viel zu schüchtern und bescheiden. Aber stellt Euch mal dieses Riesenfeuer vor - wir würden uns von einem echten Dämonen befreien - glaubt Ihr nicht?
Nein, nicht so richtig, gel?. Und wenn ich ehrlich bin, glaube ich mir selbst nicht. Zu groß ist die Verführungskraft, die vom Geld ausgeht; zu normal auch der Gebrauch - beinahe scheint es, als wären wir mit dem Geld verwachsen.
Anfang der Woche, ich hatte Nachtdienst, wir schauten nach unserem Rundgang fern. Es lief eine dieser vielen Talkshows - Kerner oder Beckman, egal. Jedenfalls saß dort in der Runde Heidemarie Schwermer, ehemals Psychotherapeutin, die ihre Praxis aufgab und seitdem ohne Geld lebt. Leider konnte ich nicht die ganze Sendung verfolgen, um Näheres zu erfahren, und notierte mir ihren Namen in der Hoffnung, etwas im Internet über sie zu finden. Meine Kollegin frotzelte darüber, aber ich meinte, dass ich so was fantastisch finde - vielleicht ergäbe sich ja eine echte Alternative zu der Altenpflegemaloche. Ich kann mir nämlich kaum vorstellen, bis zum Rentenalter als "Arschwischmaschine" zu funktionieren. Jedwede Alternative weckt meine Neugierde.
Hier nun der Link zu Heidemarie Schwermers Website:
http://projekte.free.de/gibundnimm/
Selbst wenn ihre Idee nicht auf mich passt, ich find`s toll!
Ab Vierzig sollte man rückwärts zählen. Ist man dann wieder Zwanzig, kann man jedes Jahr wieder dazurechnen bis Vierzig, um dann engültig abwärts zu zählen. Somit würde man wenigstens numerisch nie die Vierzig überschreiten. Mit etwas Glück wird man nach dieser Rechnung zweimal Vierzig, und im Greisenalter von Hundert wäre man zum zweiten Mal Zwanzig. Danach geht`s zurück in die Kindheit.
Somit werde ich dieses Jahr 34. Damit kann ich leben, und ich wäre meinem gefühlten Alter näher.
Viele Alten im Altenheim wären gerade das zweite Mal in meinem Alter. Wir säßen zusammen auf einem spiralförmigen Karussell, zweireihig, das sich nach innen dreht, ich neben ihnen in der äußeren Reihe, in der Mitte ein diffuses Schwarzes Loch, das alles verschlingt.
Okay, denke ich, bevors endgültig abwärts geht, habe ich noch eine Umdrehung.
An meine Küchenwand über die Spüle klebte ich einen Spruch von einem Abreißkalender aus dem Altenheim. Die Tagesweisheiten darauf sind zu über 90 % dämlich. Aber ab und zu ist doch etwas Nachdenkenswertes dabei, und ich schneide es mir aus.
Wenn unsere Chefin morgens früh zum Dienst kommt, und wir haben das Kalenderblatt nicht abgerissen, motzt sie uns deswegen blöde an - das nur nebenbei.
Hier also der Sinnspruch, um den es mir geht, von Franz von Assisi:
"Tu erst das Notwendige,
dann das Mögliche,
und plötzlich
schaffst du das Unmögliche."
Ich denke, dass es auf unserer Welt bereits beim Notwendigen hängt. Offensichtlich gibt es unter den Menschen sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was notwendig ist.
Die SPD beerdigt sich selbst. Schon faszinierend, wie man sein eigenes Grab schaufelt. Schaufel für Schaufel. Man kann wohl nicht mehr zurück.
Im Altenheim bin ich gerade Zeuge und leider unfreiwillig Mitwirkender eines solchen Auflösungsprozesses. Es ist grauenhaft, wie sich die Leute gegenseitig zerfleischen. Ich verstehe es nicht. Selbst die guten Worte werden zu Gift.