Freitag, 21. November 2008

Als Nachtwache im Tagdienst

Die Woche ist rum. Ich stellte mir den Wecker auf fünf Uhr am Morgen, aber ich wachte immer schon vorher auf, zählte erst die Stunden, schließlich die Minuten, bis ich aufstehen musste. Das Räderwerk der Zeit begegnete dem Räderwerk des Körpers. In der Dunkelheit begrüßte mich das Räderwerk der ausklingenden Sternennacht, und nach einem Kilometer in die Pedalen treten erreichte ich das Räderwerk Altenheim, meinen Arbeitsplatz. Meine Nachtwachenkollegen/-kolleginnen warteten schon auf den Tagdienst. Sie übergaben sich in den Fluss der Dinge. Wie ruhig oder unruhig war die Nacht? Es sind immer dieselben Heimbewohner, die die Nacht zum Tag machen. Diesmal stand ich am anderen Ufer, arbeitete in den anbrechenden Tag hinein. Der Tag reißt das Leben gewaltsam an sich. Nach der Übergabe klapperten wir mit den Waschschüsseln über die Station. Wasserrauschen in den Badezimmern, die üblichen Begrüßungsformeln: Guten Morgen, Frau G., gut geschlafen? Es ist wieder Zeit ...
Diesmal war ich das Helferlein im Dienste des Tages, um die Alten zu waschen, anzuziehen und zum Frühstück zu bringen. Für sechs Bewohner hatte ich zweieinhalb Stunden Zeit. Schüchtern linste ich in die Zimmer, wo die meisten noch schlafend in ihren Betten lagen. Es war immer noch dunkel, als ich die ersten wusch. Auch ich war noch müde. Eine Nacht, die man schläft, ist kürzer als eine Nacht, die man arbeitet. Und wie hatte ich geschlafen? Denkbar schlecht - stündlich war ich aufgewacht. Was war das Leben doch für ein verrückter Traum, dachte ich, was mache ich eigentlich hier? Behutsam rieb ich den Schlaf aus den Gesichtern der Alten und war froh, dass sie nicht widerspenstig waren.
Das Räderwerk des Tages dreht sich um das Waschen, die Mahlzeiten und die Toilettengänge. Dazu kommen die Krankheiten, Probleme und Malaisen der Heimbewohner. Mit einem riesigen Dokumentations- und Pflegeplanungsprogramm versuchen wir dem Ganzen gerecht zu werden. Nach meiner Frühstückspause saß ich eine Stunde am Computer. Die Pflegedienstleitung hatte es mir verordnet, damit ich als Nachtwache mit dem Programm arbeiten lerne. Ständig gibt es Pflegeplanungen und Pflegevisiten zu überarbeiten und Anamnesen zu den neuen Bewohnern zu erstellen. Die Zielperson, also der Bewohner, wird in AEDLs (Aktivitäten und existentielle Erfahrungen des Lebens) aufgebröselt. Er wird total durchleuchtet. Aber mich beschleicht dabei das Gefühl, dass unsere Einschätzungen oft willkürlich sind und mit dem Menschen nur oberflächlich zu tun haben. Die Pflege soll optimiert und gleichzeitig sollen die Kosten minimiert werden. Leidtragende sind die Heimbewohner, die von dem absurden Räderwerk des Gesundheitssystems und dem Pflegeapparat nichts verstehen. Und in einem Gewissenskonflikt stehen wir Pfleger und Pflegerinnen, die morgens in einer halben Stunde einen alten, gebrechlichen Menschen würdig, individuell unter Berücksichtigung aller Defizite und Ressourcen zu versorgen und zu aktivieren haben. Wir müssen selbstverständlich auf Hygiene achten, Standards einhalten und die Behandlungspflegen sorgfältig durchführen. Da ich noch nie erlebte, dass das Unmögliche dadurch möglich wird, indem man den Druck erhöht, passiert stets das Wahrscheinliche: Es entstehen Heuchelei, Lügen, Ausreden, fadenscheinige Kompromisse, geschönte Bilanzen ...
Mit müden Augen saß ich, die Nachtwache im Tagdienst, nach meiner Frühstückspause am Computer und beschäftigte mich mit dem Pflegeprogramm, das meinen Vorgesetzten so ungeheuer wichtig ist. Ich machte meine Arbeit, so gut ich konnte. Ich erlebte das Altenheim bei Tage mit all meinen Kollegen und Kolleginnen, denen ich sonst nur kurz bei der abendlichen und morgendlichen Übergabe begegne; ich erlebte die Alten außerhalb ihrer Betten mit ihren Tagesnöten aber auch sehr lebendig und teilnehmend ; ich erlebte die Hektik und die vielen Stimmen des Tages, das menschliche Durcheinander, das Chaos ...
Wichtig war für mich, dass ich die Zuneigung zu den Menschen spürte. Kein Räderwerk kann mir dieses Gefühl kaputt machen. Die Menschenliebe besteht neben der Technokratie.
Vierzehn Uhr hatte ich Feierabend, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr hinunter ins Dorf. Im Kaffeehaus saß ich erleichtert an der Theke und philosophierte mit dem Barkeeper. Er erzählte mir aus einem anderen Leben. Draußen spukte ein Novembertag, der früh sein Licht ausknipste.


21.11.08

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