Die Arschwischmaschine hat frei
Klaus wollte mich nach Oberflockenbach zum Essen einladen, damit ich ihm sein neues Iphone erkläre, doch dann kam das Iphone nicht, auf das er mittlerweile schon seit vier Monaten wartet. Er bot mir an, trotzdem nach Oberflockenbach zu fahren. Am Abend vorher hatten wir uns im Kaffeehaus ein Wenig über den Dioxin-Skandal in die Wolle gekriegt. Er war der Meinung, dass der Verbraucher durch sein naives Kaufverhalten selbst Schuld sei. Und ich verteidigte den Konsumenten. Nach dem vierten dunklen Hefeweizen vielleicht etwas zu eifrig in Lautstärke und Gestik. Ich merkte gar nicht, wie sehr ich mich aufregte.
Bei jedem Skandal, an welchem das System eine wesentliche Mitschuld trägt, wird die Verantwortung am Liebsten an das schwächste Glied weiter gereicht. Im Falle von Lebensmittelskandalen sind es die naiven Konsumenten, die dem Slogan „Geiz ist geil“ folgend durch den Einkauf von Billigprodukten erst die Lawine ins Rollen bringen, welche dann zu den verbrecherischen Mißständen fast zwangsläufig führt; und im Falle von politischem Unvermögen, wird der Wähler vorgeschoben, der die Deppen schließlich an die Macht brachte. Erst benutzt man die Basis, um an die Macht zu kommen; wenn der Karren dann im Dreck steckt, ziehen die hohen Herren den Kopf ein. Sie sondern Sprüche ab wie: „Der mündige Bürger wollte es doch nicht anders“, oder: „Wie kann man nur so dumm sein, zu glauben, was auf der Verpackung steht“. Genausogut könnte ich, nachdem ich ein Auto schuldhaft in den Graben setzte, monieren: „Scheiße, das Auto machte einfach, was es wollte!“
Solche Mogeleien regen mich immer wieder auf, und so stritt ich mit Klaus, obwohl wir wahrscheinlich gar nicht sehr unterschiedlicher Meinung sind, was das fehlerhafte System als Ganzes angeht.
Ich sagte das Unternehmen Oberflockenbach per SMS ab. Ich hatte einfach nicht den Nerv. Schon gar nicht auf weitere Diskussionen. Meist wird‘s politisch, wenn Klaus und ich zusammen sitzen.
Ich fuhr in die Stadt und holte meine Armbanduhr ab, die ich im alten Jahr in Reparatur gegeben hatte. Welle und Krone waren ersetzt worden. Der Uhrenverkäufer grüßte unerwartet freundlich, und ich trat mit meiner Uhr am Handgelenk beschwingt aus seinem Laden auf die Straße.
Im "Bierkrug" kniete der Koch in einer Ecke und bohrte. Renate sagte: „Willkommen auf der Baustelle.“ Ich setzte mich erst gar nicht und ging weiter zum „Coyote Café“.
Alte Brücke/Altstadt
Ich stieg bei der Alten Brücke aus dem 33er Bus. Die Altstadt lag düster und im Dunst vor mir. Langsam sollten die Tage wieder heller werden, wenn sie denn erstmal richtig Tag wären. Auf der Alten Brücke lief ich Spießruten zwischen den fotografierenden Touristen. Das Kopfsteinpflaster war noch übersät von den Knallkörperfetzen der Silvesternacht. Der Dreck mischte sich mit dem Schneematsch zu einem rotbraunen Brei.
Ich hatte im Bahnhof eingekauft und wollte mich nun bis zum Abend in der Stadt rumdrücken. Doch war die Stimmung allgemein noch verkatert. Einige Kneipen machten erst gar nicht auf. Im "Coyote Café", wo ich schließlich landete, waren mehr Bedienungen als Gäste. Jedenfalls anfangs. Man stand zusammen und quatschte über seine Silvestererlebnisse. Ich wedelte mit den Armen und wurde endlich wahrgenommen. Freilich habe ich Verständnis für eine solche Arbeitslaune am Neujahrstag - solange ich mein Bier bekomme. Notfalls würde ich es mir auch selbst zapfen.
Nein, der Bär war nicht gerade los. Ich langweilte mich schnell. Noch vor der Tagesschau war ich wieder zuhause. Außer dass der Jahreswechsel einige Gehirne benebelt hatte, war nichts passiert. Man macht da allgemein viel zu viel Wind drum.
So oder so muss jeder für sein Glück kämpfen. In den Schoß fällt einem selten was. Und wenn - wohl eher der Scheiß als das Glück.
Zum Neuen Jahr
„Wird‘s besser? Wird‘s schlimmer?“
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer
lebensgefährlich.
(Erich Kästner)
Oder: Apocalypse Now
Seit langem wieder „Apocalypse Now“ gesehen, lief gestern Abend auf Kabel Eins. Ich war beeindruckt von der Atmosphäre, die der Film entfaltete, und der grausamen Ironie. Als ich ihn damals im Kino sah, war ich gerade Achtzehn. Ich hatte noch nicht die Ausdauer und den Sinn für solch gutes und anspruchsvolles Kino. So ging es mir schon bei „Die durch die Hölle gehen“, was auch ein starker Antikriegsfilm ist. Mein Sinn für die feinen Zwischentöne sowie die unterschwellige Dramatik war noch nicht entwickelt. Aber ich spürte schon, dass ich saugutes Kino vor mir hatte. Zwei Jahre vorher war ich noch Fan von Bud Spencer und Terence Hill gewesen.
Mein Gott, wie jung Martin Sheen damals noch war! Und wie mager ... Er spielte wirklich gut. Er ist der ruhende Pol in „Apocalypse Now“. Und von Christian Brückner vortrefflich synchronisiert. Leider verpasste ich das letzte Drittel mit Marlon Brando. Ich schlief irgendwann ein. In den Werbepausen hatte ich auf Pro Sieben umgeschaltet, wo Michael Mittermeier bis zum Erbrechen auf der Bühne rumhampelte.
Als ich aufwachte, lief bereits „Taxi Driver“. Auch saugut. Ende der Siebziger bis Anfang der Achtziger wurden einige tolle Filme abgedreht. „Einer flog übers Kuckucksnest“ gehörte zum Beispiel auch dazu. Heute zählen diese Streifen zu den Klassikern. Aber ihre Botschaften sind zeitlos. Vieles darin sehe ich jetzt aus einem anderen, womöglich reiferen Blickwinkel. Traugig ist nur, dass sich derweil die Welt nicht gerade zum Besseren entwickelte. Und auch das Kino. 99% ist oberflächliche, kotzige Unterhaltung. Dann noch lieber die liebenswerten Raufbolde Terence Hill und Bud Spencer.
Ja, ich weiß, es gibt schon noch gute Kinofilme. Aber in der Masse geht die Qualität mehr und mehr unter. Auch hat es den Anschein, dass aufrüttelnde und verstörende Filme beim Publikum nicht besonders gut ankommen. Die Welt ist eben, wie sie ist.
Heute ist Silvester. Ich hoffe mal nicht auf ein anspruchsvolles Fernsehprogramm. Schade, dass ich gestern „Apocalypse Now“ halb verschlief. Daran waren auch diese scheiß Werbepausen schuld! Nein, ich will kein Spielverderber sein - bloß weil mir nicht nach Feiern ist.
Ich frage mich nur manchmal, was für ein Film da abläuft ..., ich meine die Realität. Das alles. Alles. Es kommt mir weder rational noch real vor. Nur irre.
Also Leute, feiert schön und laßt es so richtig krachen! Wer weiß, was morgen ist. (Neujahr - logisch.)
Ich stoße schon mal an.
PS: Ganz besonders wünsche ich allen, die in Altenheimen, Krankenhäusern, als Bereitschaftsärzte und in Rettungsdiensten, als Taxifahrer oder sonstwie heute Nacht arbeiten müssen, einen guten Rutsch und wenig Ärger und Stress!
Die Religion ist tot. Sie ist längst Kadaver. Der allerdings lebt durch die Würmer, die das Aas fressen. Die Würmer sind wir - kapitalistische Würmer, die alles zu Geld verdauen ...
Umso besser wir verdauen, desto mehr haben wir davon. Wir fressen nicht nur Religionen, wir fressen alles, was es an Ideen gibt. Gute wie schlechte. Letztlich machen wir aus allem Geld, Moneten, Kies, Asche ...
Bis die ganze Welt leer gefressen ist, verwurstet wurde für den ganzen Scheiß, den man kaufen kann. Unersättlich sind wir. Und wir vermehren uns wie Sau. Sieben Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde, sieben Milliarden gierige Seelen.
Ähnlich wie Nacktmulle - nur viel verhängnisvoller - leben wir blind in den Höhlen unserer Einbildung. Wir machten die Welt zu einem materialistischen Irrgarten. Und die Religionen sind dabei nicht mehr als schnöde Deckenbeleuchtungen. Also das, was von den eigentlichen Ideen übrigblieb. Sowieso ist es tot. Vielleicht lebte es nie wirklich oder nur kurze Zeit ...
Für mein Glück wäre es besser, wenn ich all das besser verdauen könnte, wenn ich mich besser angepasst und den Ekel übewunden hätte. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht, und frage mich, warum?
Manche Tage fühle ich mich wie innerlich leer gelutscht. Die Zeiträume schrumpfen durch Eintönigkeit. Vielleicht durch die Unschärfe. Alles wird mit dem Alter unscharf. Weil alles zu viel ist. Der Schnee schmolz zu dreckigweißen Resten. Ich träume von der Freiheit, nicht mehr tun zu müssen, was ich nicht will. Darauf kann ich wohl warten, bis ich schwarz werde. Aber wer ist in diesem Sinne schon frei? Vielleicht Buddha.
In den reichen und demokratischen Ländern der Welt sind es nicht so sehr die äußeren Zwänge - wir machen uns den Stress selbst. Nehmen wir nur mal Weihnachten. Oder den Autowahn. Tausend Dinge ließen sich aufzählen, die wir (fälschlicherweise) vom Materialismus als Wichtigkeiten adoptieren. Nur um uns von dem Abgrund unter unseren Füßen abzulenken. Und weil dieser ganze Scheißdreck Teil eines globalen Monopoly-Spiels ist. Die Gehirnwäsche ist perfekt. Einige Menschen scheinen bereits völlig entseelt zu sein. Nur noch Rudimente seelischen Lebens liegen verstreut an der Oberfläche - wie diese Schneereste, wenn ich aus dem Fenster schaue. Ihre Terminkalender sind voll von selbst auferlegten Zwängen. Auch die Liebe findet ihren Eintrag und wird abgehandelt wie ein Geschäftstermin. Immerhin findet sie noch statt. Wenn auch oft verkorkst als Sexsucht.
Am Schlimmsten empfinde ich dabei die Doppelbödigkeit. Wie krampfhaft alles schön geredet wird. Ganz besonders an Weihnachten. Nach dem Motto: wenn ich schon Opfer meiner eigenen Idiotie bin, dann ist diese Idiotie eben normal. Was die Mehrheit macht, muss doch normal und richtig sein. Nur nicht zu viel darüber nachdenken. Und die Zweifel werden einfach verschwiegen. Die lähmen nur.
Was für ein milchig trüber Tag heute. Guter Stoff für Melancholiker. Zufällig läuft Musik von „Element of Crime“ - der Titel: „Finger weg von meiner Paranoia“. Da muss ich in mich hinein grinsen ...
Alles nur Einbildung. Je nachdem aus welchem Fenster man blickt.
Zur Zeit zerbrechen mir die Dinge in der Hand: zuerst ging ein Bildhalter beim Putzen in Scherben, dann gab mein Laptop seinen Geist auf, und eine Steingutschale fiel mir über der Spüle aus der Hand ... Gestern schließlich blieb meine Armbanduhr stehen - das Stellkrönchen war abgefallen. Im Uhrengeschäft wurde ich nach der Garantie gefragt, die ich freilich nicht mehr gefunden hatte. Manche Sachen schmeiße ich zu schnell weg. Die Uhr hätte noch knapp Garantie gehabt. Ich sagte zu dem Mann, der mich bediente: „Ich kaufte sie bei Ihrem Kollegen. Er müßte sich erinnern, denn sie hat ein Saphirglas. Er hatte damals nur fünfzig Stück davon anfertigen lassen.“
„Der ist inzwischen verstorben,“ sagte der Uhren-Mann. Er war kurz angebunden.
„Oh, tut mir leid.“
Er blickte mich ungeduldig an. Als ich ins Geschäft kam, hatte ich ihn in einem Telefonat gestört.
„Es ist Ihre Entscheidung.“
„Was könnte es mich denn kosten?“
„Zwischen 20 und 40 Euro.“
„Okay, ich trug die Uhr sehr gern ... mit dem Saphirglas.“
„Dann schicke ich sie also ein.“
„Und wie lange wird es dauern?“
„Zwischen 2 und 4 Wochen.“
„Also, wird‘s wohl Neujahr werden.“
„Das ist möglich.“
Er notierte sich meine Adresse und Telefonnummer, und ich zog wieder von dannen ... hinaus in die Dunkelheit und ins Schneetreiben. Den Weihnachtsmarkt ließ ich links liegen, weil meine Blase tierisch drückte. Ich hatte erledigt, wozu ich in die Stadt gefahren war. Jetzt sollte der gemütliche Teil kommen. Im Bierkrug eilte ich zur Toilette und setzte mich zum Nachfüllen an die Theke. Der Bierkrug ist halb Kneipe, halb Gaststätte. Renate, die Inhaberin, kenne ich noch aus Schulzeiten. Sie war im Gymnasium eine Klasse über mir, das heißt: nachdem ich hocken geblieben war.
Ich trank also mein Bier an der Theke und erinnerte mich der alten Zeiten. Renate wuselte hinter meinem Rücken hin und her und deckte die Tische. Sie erwartete eine größere Gesellschaft: ein Altenheim hatte sich zur Betriebsweihnachtsfeier angekündigt ... 40 Personen. Der Koch, ein schlacksiger, wortkarger Kerl in den immerselben karierten Kochhosen stand vor der Tür und rauchte. Eingemummelt hasteten die Menschen durch die Fußgängerzone. Die Einheimischen nennen sie Idiotenrennbahn. Jetzt zur Weihnachtszeit ganz besonders ...
Ich überlegte, dass Renates Kneipe gar nicht so übel für eine Betriebsfeier war. Die Preise sind in Ordnung, und der Koch kocht gut - wird gesagt. Selbst kenne ich mich nur mit dem Bier aus. Aber es riecht schon gut, wenn Renate den Gästen an den Tischen die Mahlzeiten serviert.
„Ich werde dein Lokal für die nächste Betriebsfeier vorschlagen“, sagte ich an Renate gewand.
„... mach mal langsam. Erst mal sehen, ob das heute Abend ein Erfolg wird.“
„Wird schon klappen.“
Sie mußte noch nie eine solch große Gesellschaft an einem Abend verköstigen.
Ehrlich gesagt, hatte ich mein Angebot auch nicht sonderlich ernst gemeint. Ich hielt nicht viel von Betriebsfeiern. Da verquasselte man sich nur. Und warum sollte man mit Leuten privat abfeiern, die man bereits im Dienst schwer ertragen konnte? Die Zahl derer, die ich unter meinen Kollegen und Kolleginnen wirklich mochte, war in den letzten zwei Jahren auf eine Handvoll geschrumpft.
Ich leerte mein Bier und zog weiter.
Letzte Station auf meinem Ausflug in die Stadt war das Café Petit Paris. Von dort war es nicht mehr weit zur Straßenbahnhaltestelle.
Immer wieder hob ich meinen linken Arm und sah auf mein leeres Handgelenk. Wie man doch selbst ein solch eher unwesentliches Ding wie eine Armbanduhr vermisst! Wie schwer wiegt da erst der Verlust eines Menschen, den man viele Monate oder gar Jahre an seiner Seite hatte(?!) Immer wieder muß man mit solchen Verlusten klarkommen. Mal mehr, mal weniger tragisch. Da war zum Beispiel Klaus, dessen Frau vor wenigen Jahren an Krebs starb. Dinge ließen sich leichter ersetzen. Scheiße.
In der Straßenbahn drängelten sich die Menschen. So unangenehm nah einem die anderen waren, so unmöglich weit weg waren sie in ihren Lebenswelten. Wir standen seltsam autistisch zusammengeschoben und warteten auf unseren Ausstieg. Die Reihen lichteten sich mit zunehmender Entfernung vom Zentrum. Ich schaute mich um, suchte nach dem Menschen, den ich umarmen wollte ...
Sowieso hätte ich mich nicht getraut.
(10.12.2010)
Die Öffentlichkeit wartet auf den Schlichterspruch Heiner Geißlers zum Bahnprojekt Stuttgart 21.
Nach den Plädoyers Für und Wider zogen sich alle noch mal in ihren Kabuff zurück. Und die Journalisten füllen die entstehende Lücke mit Interviews im Umfeld der Veranstaltung.
Auch ich habe eine Lücke zu füllen. Erschreckend hell ist der Tag. Der Schnee reflektiert das Licht.
Die Gegenwart erscheint mir seltsam surreal. Sie brandet in mein Bewusstsein mit ihren Wellen, und ich lausche konsterniert. Menschen umkreisen mich auf nahen und fernen Bahnen wie Satelliten. Plötzlich wechselt der ein oder andere seine Bahn, entfernt sich von mir, und es entsteht eine Lücke. Manche Menschen entschwinden auch einfach spukhaft, als hätte es sie nie gegeben. Ich fange an zu zweifeln, ob ich dies alles überhaupt erlebte. Vielleicht war die Liebe nur ein Schwindel. Ein perfekter Schwindel.
Das gesamte Leben ist ein Irrtum. In dem Moment, wo ich zweifelte, verlor ich den Halt. Woher kommt dieser Zweifel? Warum kann ich nicht zombiegleich den Alltag verbringen? Wie können sich meine Mitmenschen derart perfekt zusammenreißen? Wie sieht es in ihrem Innern aus?
Solche Fragen stellte ich mir schon sehr früh in meinem Leben. Darum wurde die Schulzeit zur Qual. Ich sah Menschen, die gemäß ihrer Aufgaben funktionierten. Während der Pubertät sträubten wir uns dagegen, in diesen Moloch der Erwachsenenwelt überzugehen - doch nach einigen Jahren lichteten sich die Reihen. Meine Kumpels fanden peu à peu ins bürgerliche Spießertum. Und schließlich war ich allein übrig. Heute wirft man mir manchmal vor, dass ich nie richtig erwachsen wurde. Aber ich sehe es anders: ich blieb mir treu, ich wollte meine Gesinnung nicht auf die Gleise des Lebens werfen ..., ich konnte mich nicht anpassen. Die Welt ist mir fremd, wie sie die Menschen gestalten, und wie wir uns in emsiger Betriebsamkeit dem Materialismus unterwerfen.
Immerhin konnte ich mich bis heute durchwurschteln. Manchmal stand ich am Abgrund, doch die Ratio und der Überlebenswille ließen mich durchhalten. Das Leben ist total verrückt. Der Zweifel am Dasein räucherte mich aus. Während die meisten wie lebendig tot ihre Pflichten und Aufgaben erfüllen, fühle ich mich bereits tot - mit einem armseligen und skurrilen Rest Lebendigkeit, an den ich mich mal mehr oder weniger verzweifelt klammere: an eine Handvoll Menschen, meine Erfahrungen in der Altenpflege, an eine Liebe, an meine Lust und Sinnlichkeit ...
Inzwischen kann es nur noch wenige Minuten dauern, bis Heiner Geißler ans Rednerpult tritt. Alle sind gespannt darauf, was er zu sagen hat. Man sagt, er sei moralisch integer. Mal sehen.
Ich überlege mir, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll. Er ist immer noch blendend anwesend.
Gestern dieses Schneetreiben, und ich traf Klaus im Kaffeehaus. Klaus ist ein zorniger wie gutmütiger Mann Anfang Sechzig, der vor wenigen Jahren seine krebskranke Frau verlor und damals recht eigentümliche Erfahrungen mit Pflegediensten und unserem Sozialstaat machte. Wir verstehen uns gut, auch wenn mein Zorn aus einer anderen Anlage und anderen Erfahrungen entstand.
Es ist eine Weile her, dass sich in meinem Leben eine neue Freundschaft ergab. Keine Fuzzi-Sache. Und keine Verliebtheit. Sondern echte Freundschaft. Mal sehen. Ich mag Klaus.
Mein Gott, die beraten immer noch. Logisch, dass ich für die Stuttgart 21 Gegner bin. Die stehen einfach für die menschliche und ökologische Seite, während Bahn und Politik kapitalistische Interessen abseits jeglicher Vernunft durchsetzen wollen. Komisch, sogar an den Gesichtern erkannte ich diese Zweiteilung. Die Befürworter von Stuttgart 21 grinsten oft selbstgefällig und zeigten dabei echte Verbrechervisagen, während die Gegner eigentlich durch die Bank weg wesentlich sympathischer rüber kamen. Aber natürlich bin ich voreingenommen.
Es gibt selten solche wirklichen Schauspiele, wo Bürger auf die Macht treffen ..., sachlich und mit rhetorischem Vermögen.
Es dauert noch, sagt der "Flur Funk".
Die weiße Pracht taut langsam wieder ab. Der Himmel hellt sich auf. Im TV läuft die Schlichtungsrunde mit Heiner Geißler zum Bahnprojekt Stuttgart 21. Samstagvormittag - die Lebhaftigkeit der Familie im Stock unter mir dringt gedämpft an meine Ohren wie das Verkehrsrauschen auf dem nassen Straßenbelag der stark befahrenen Talstraße. Mal gespannt, wann der Tunnel Wirklichkeit wird, um endlich Entlastung für die Anwohner zu bringen. Da wird wohl vorher noch Stuttgart 21 fertig gestellt.
Ich stöbere in meinen Annalen aus den Neunzigern. Ein altes Notizbuch liegt aufgeschlagen vor mir. Damals hatte ich noch keinen Computer und schrieb tausende Seiten von Hand. Fasziniert lese ich aus den Zeugnissen meiner Vergangenheit. Schemenhaft tauchen Bilder aus dieser Zeit vor meinem geistigen Auge auf. Was habe ich mir in den vielen Jahren nicht alles von der Seele geschrieben. Fühle ich mich darum leichter? Ich weiß es nicht. Der Wortsalat drang aus mir heraus wie Lava - aus dem Refugium meines Geistes. Nun sehe ich sie erkaltet und zu seltsamen Formen erstarrt vor mir.
Minuten wurden zu Stunden zu Tagen zu Jahren, Jahrzehnten. Langsam verstehe ich den Wert von Wissenschaften, die nach unserer Vergangenheit forschen. Es ist mehr als ein Nachvollziehen vergangener Vorgänge. Wir graben dabei nach uns selbst.
Ich bin in der vorwärts drängenden Gegenwart gefangen. Noch immer labern sie in der Schlichtungsrunde. Viele gescheite Leute diskutieren unter der Aufsichtshoheit Heiner Geißlers um den heißen Brei. Interessant. Ich lasse mich ablenken. Der Schnee liegt wie Zuckerguss auf den Dächern und Gärten. Selbst wenn ich völlig erstarre, geht alles weiter. Es gibt keinen Halt. Die Liebe zu einer Frau verschwindet langsam - ohne mein Zutun. Doch bevor sie sich ganz verabschiedet, leide ich, fluche ich, kotze ich …
Alles wird kalt. Das Leben ist wie ein gewachsener Berg - aus der eigenen Schlacke. Und oben am Schlot brodelt es unaufhörlich.
Menschen finden ist ein Wenig wie Pilze sammeln, ohne Pilzkenner zu sein. Vorsicht beim Verzehr ist geboten!
Ich unterstelle Menschen wie Pilzen im Normalfall keine schlimmen Absichten, aber ... es kann ein böses Erwachen geben. Sowieso in der Liebe. Bestimmt hätte ich den ein oder anderen Krampf und Schmerz vermeiden können, hätte ich nur meinen Verstand eingeschaltet und die Zeichen nicht ignoriert. Ich bin ein unverbesserlicher Leichtfuß in der Liebe. Es widerstrebt mir einfach, eine solch emotionale Sache, fachmännisch anzugehen. Ich verfechte die alberne Meinung, dass mein Herz mich schon richtig leitet. Na ja, und in der ersten Verliebtheit sind Herz und Schwanz schwer zu unterscheiden. Landläufig sagt man, dass einem das Herz in die Hose rutscht. Jedem Vertreter schlage ich die Tür vor der Nase zu, aber eine hübsche und/oder charmante Frau hat offenbar einen Generalschlüssel ...
Es kommt, wie es kommen muss: Herz und Schwanz werden strapaziert. Mal das eine mehr, und der andere weniger. Und umgekehrt. Eine Trennung gelingt mir nur auf freundschaftlicher Basis. Kurzfristig funktioniert sogar die Konstellation: Freundschaft und Sex. Wahrscheinlich aufgrund beidseitiger Bedürftigkeit. Befriedigend finde ich dies auf Dauer allerdings nicht. Es ist wie Schauspielern. Oder wie Milch aus der Tüte. Einfach nicht echt.
Mein Herz sehnt sich nach Liebe. Bedingungslos, idealistisch, echt.
Doch da tritt mein Verstand auf den Plan - neben Schwanz und Herz die dritte wichtige Instanz meiner Persönlichkeit. Und mein Verstand sagt mir also: "Quatsch mit Soße! Junge, verlier dich nicht in Träumereien. Das Leben bedeutet Kampf. Da ist kein Platz für solcherlei Schmonzetten." Ja, mein Verstand ist ein harter Brocken ...
Meist verbünden sich Herz und Schwanz gegen ihn, denn anders ist er nicht kleinzukriegen. Hm.
Ziemlich vertrackt der Umgang mit diesem Dreigestirn. Da ich Herz und Schwanz schlecht ausschalten kann, ist es der Verstand. Ich klicke ihn einfach weg, wenn er mir nicht passt - darf nur nicht den Moment verpassen, wo ich ihn unbedingt wieder einschalten sollte.
Manchmal ergibt sich eine ganze Kaskade von Ein- und Ausklicken. Ich stehe im Strobo-Licht. Zu selten macht es richtig "Klick".
Heidelberg wolkenverhangen
Neue Uni verkleidet