Die Arschwischmaschine hat frei

Freitag, 22. März 2013

Die Hoffnung stirbt zuletzt

oder: Was ist wahrscheinlich?


Seit langem füllte ich mal wieder einen Lottoschein aus. Sechs Tipps. Zwei Wochen Laufzeit. Ich kreuzte die Felder intuitiv an. Wahrscheinlich rausgeschmissenes Geld. Noch liegt der Lottoschein auf meinem Schreibtisch und harrt der Dinge, die da kommen. Haha, wahrscheinlich fallen meine Zahlen, wenn der Schein abgelaufen ist. Damit ich mich nicht schwarz ärgere, sollte ich nur in den nächsten zwei Wochen die Ziehungen verfolgen. Irgendwann kommt jede Zahlenkombination an die Reihe. Es ist nichts anderes als Würfeln mit einem Würfel, der 13,9 Millionen Seiten hat. Wenn also 13,9 Millionen Menschen jeweils einen anderen Tipp abgäben, hätte sicher einer die sechs Richtigen. Es ist über 375 tausendmal wahrscheinlicher im Roulette zu gewinnen, wenn man dort alles auf eine Zahl setzt.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich bin kein Zocker. Der Zufall lässt sich nicht überlisten. Außer man manipuliert. Jedenfalls ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass ich am Wochenende eine Braut abschleppe, als dass ich mit meinen Lottozahlen Erfolg habe. Gar keine so schlechte Vorstellung.
Und wenn ich wider Erwarten im Lotto gewänne, würden mich die Bräute abschleppen ...
Wie ich mich kenne, kriege ich bestenfalls drei Richtige, und es bleibt beim Flirt.
Aber verdammt, ich werde diesen Lottoschein abgeben! Vielleicht hat der Namenlose ein Auge drauf. Man kann noch so sehr Atheist sein, irgendwie glaubt man doch an eine überirdische Macht. Und die soll einem gefälligst wohlgesonnen sein! Obwohl ich mit dem positiv Denken so meine Schwierigkeiten habe, ziehe ich doch in Erwägung, dass Wunder passieren könnten. Jeder neue Tag ist ein Wunder. Ein alltägliches Wunder halt.

Langsam dringt zu mir durch, dass die Sonne scheint. Ich werde mich mit dem Fahrrad in die Stadt aufmachen. Haha – es ist viel wahrscheinlicher, dass ich unterwegs einen Unfall habe, somit den Lottoschein gar nicht abgeben kann, als dass ich vorhin wirklich die sechs Richtigen ankreuzte. Ich stelle mir folgendes vor: Ich verunglückte tödlich, und ausgerechnet bei der morgigen Samstagsziehung kämen wirklich meine Zahlen!
Nun, wir werden sehen.

Donnerstag, 21. März 2013

Betriebsarztbesuch


Der Betriebsarzt wechselte, und ich musste nach einem Jahr wieder hin dackeln. Wieder wurde mir Blut abgenommen; wieder wurde festgestellt, dass mein Blutdruck zu hoch ist. Wen wundert`s.
„Das können wir nicht so lassen“, sagte er, „wir wollen doch, dass Sie noch eine Weile bei uns arbeiten.“
„Noch 17 Jahre“, erwiderte ich, „in diesem Beruf.“
„Sie wollen das Rentenalter auf 69 erhöhen“, sagte der Betriebsarzt und blickte kalt durch seine Brille. Es gibt Menschen, in deren Anwesenheit ich mich unbehaglich fühle. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
„Grüßen Sie Herrn P von mir, wenn Sie ihn sehen“, meinte er abschließend. Herr P ist mein Chef. Die passen gut zueinander, dachte ich im Rausgehen.
Ich statte Ärzten ungern Besuche ab. Sie entdecken immer was, und die wenigsten sind mir sympathisch. Verdammt, das ist doch mein Körper! Den stelle ich ungern zu Untersuchungszwecken aus. Ich finde die Sichtweise der Ärzte auf den Menschen meist entwürdigend. Man wird zur Sache degradiert. Dieser schien mir zu jener Sorte zu gehören, die an der menschlichen Seite wenig bis gar nicht interessiert ist. Dummerweise braucht man die Quacksalber dann doch irgendwann.
Also werde ich brav bei meinem Hausarzt einen Termin wegen der Hypertonie ausmachen, - um mir sagen zu lassen, was ich sowieso weiß. Und wenn ich schon mal dabei bin, kann ich gleich noch bei meinem Zahnarzt anrufen. Eine Plombe fiel mir aus einem Weisheitszahn. Ich hasse es, wenn mir ein Fremder im Mund herumfuhrwerkt. Hoffentlich lässt sich die Prozedur auf einen Zahnarztbesuch beschränken.
Mit solch unangenehmen Gedanken verließ ich das Krankenhaus, in dem der Betriebsarzt sein Büro hat. Es regnete leicht. Es war kalt. Es war auf den Tag genau Frühlingsanfang. Als ich vor einem Jahr den Betriebsarzttermin hinter mich gebracht hatte, war mein Schritt beschwingter. Ich war frisch verliebt. Eine Fehldiagnose, wie sich schmerzhaft herausstellte. Nun hatte mich die kalte Realität im Griff. Der neue Betriebsarzt gehörte dazu. Wenigstens könnte wirklich endlich Frühling werden. Alle Menschen reden davon. Wäre es möglich, dass ein Jahr ganz ohne Frühling vergeht?
Ich drehte eine Runde durch die Stadt. In einem Buchantiquariat schaute ich nach einem Buch von Allen Ginsberg, fand aber keins. Stattdessen erstand ich von Friedrich Glauser „Beichte in der Nacht – und andere Erzählungen“. Auch nicht schlecht. Eine broschierte Ausgabe aus Zürich von 1967.
In einer Kneipe las ich Bukowskis „Ein schlampiger Essay über das Schreiben und das verfluchte Leben“. Hat sich schnell gelesen. Genau die richtige Länge für ein Bier. Über Ginsberg schreibt er darin: „Seit Whitman hat uns in der amerikanischen Dichtung keiner mehr so die Augen geöffnet wie Allen Ginsberg. Und dieser kleine jüdisch-kommunistische Homo, wie ihn mal ein rotznäsiger Kritiker genannt hat, schreibt 99,8% von euch angeblichen Schwergewichtlern jederzeit an die Wand.“
Wird Zeit, dass ich mir ein Buch von diesem Ginsberg zulege. Ich freue mich auf Bücher, die meinen Geist anregen und nicht langweilen. Davon gibt es nicht viele. Man muss den Betriebsärzten, den Herrn Ps und den Liebeslügen dieser Welt etwas entgegenstellen.

Mittwoch, 13. März 2013

Der Gespensterzug


Leise rieselt der Schnee. Ich denke öfter an Kärnten, als mir gut tut. Durch den Schnitt kommt es mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Beinahe so, als hätte ich alles nur geträumt.
Ich stand in Weinheim auf dem Bahnsteig und wartete auf einen Regionalexpress. Da fuhr plötzlich vor meiner Nase der Eurocity Frankfurt-Klagenfurt ein. Er kam von Klagenfurt. Seine Waggons waren total verdreckt von der langen Fahrt. Ich schaute auf die Wagen-Nummern. Ich saß meist in den Nummern 259-261. Das Stahlmonster wirkte wie ein Leviathan aus ferner Vergangenheit, - tauchte kurz vor mir auf, schnaubte und setzte seine Fahrt fort. Ich blieb wie konsterniert auf dem Bahnsteig zurück: Wie viele Stunden hatte ich im letzten Jahr auf meinen Reisen in ihm verbracht? Ich weiß die Haltestellen auswendig. Ab München hatte ich die deutschen Großstädte hinter mir. Dann am Chiemsee vorbei, Salzburg … Knapp acht Stunden dauerte eine Reise. Ich kannte inzwischen das ein oder andere Gesicht vom Bordpersonal. Manchmal fuhr ich gleich nach dem letzten Nachtdienst, damit wir so viel wie möglich Tage miteinander verbringen konnten. Natürlich war ich erst mal kaputt, wenn ich ankam. Umso öfter ich in dem Zug saß, desto lästiger wurde die Zugfahrerei. Es bestand nicht mehr dieselbe Spannung wie am Anfang. Ich wollte einfach nur ankommen. Zurück war es dasselbe. Ich zählte meine Besuche nicht. Aber ich fuhr in den 9 Monaten unserer Beziehung wenigstens 1-2x im Monat hin und her.
Man macht verrückte Dinge, wenn man verliebt ist. Und hinterher fragt man sich, warum; obwohl man weiß, warum.
Ich stand auf dem Bahnsteig und sah dem Eurocity hinterher. Es war ein Gespenster-Zug. Wie ganz Kärnten eine Gespenster-Region für mich ist. Die Tränen lassen sich in solchen Momenten nicht zurückhalten. Nein, ich möchte kein Mitleid erwecken. Ich kenne den Schmerz gut, wenn etwas vorbei ist. Das Leben selbst ist eine Zugreise. Wir wissen nicht, wer zusteigt. Wir wissen nicht, wer in unser Abteil kommt – und für wie lange.
Ich blicke aus dem Zugfenster und sehe die Alpen, diese massigen schneebedeckten Berge. Ich sitze in einem Spielzeug-Zug, der sich durch die Täler schlängelt, einer Hoffnung entgegen …, einer anderen Welt und Zukunft entgegen.
Ein einziger Abend zerstörte alles. Eine Lawine erfasste den Zug und begrub unsere gemeinsamen Hoffnungen und Wünsche auf immer.

Dienstag, 12. März 2013

Kaffee im Bierglas


Es war wirklich eine Art Zeitreise, und um es vorwegzunehmen: keine sehr angenehme. Ich erkannte einiges ihres Mobiliars wieder. Auch der eigentümliche Geruch stieg mir sofort in die Nase. Ihre Begabung, möglichst vieles in einer 1-Zimmerwohnung unterzubringen, hatte sie nicht eingebüßt. Ähnlich wie ich wohnt sie am Stadtrand mit einem schönen Blick in die Natur.

Kaum war ich angekommen, prasselten unaufhörlich Wörter auf mich nieder. Sie redete ohne Pause. Nur manchmal, wenn sie aus dem Fenster heraus rauchte, war kurz Ruhe. Ich brauchte einige Bier, um mich zu betäuben und auch mal zum Zuge zu kommen. Mir schien, dass ihr Charakter mit den Jahren noch extremer geworden war. Sie ließ an ihren Mitmenschen kein gutes Haar. Tausende Namen und Geschichten tischte sie mir auf – wild durcheinander. Die Protagonisten waren ausnahmslos Psychopathen, Betrüger, Alkoholiker und Drogensüchtige.

Wir unternahmen einen Spaziergang hinunter ins Weinstädtchen. Die frische Luft wirkte wie ein Lebenselexier. Es regnete leicht. Im „Hexenstüble“, einer Rock-Kneipe, kehrten wir ein. Die Musik lenkte ab. Ich schaute mich um und fühlte mich nicht mehr derart ihrem Redeschwall ausgesetzt. Keine einzige ihrer Geschichten könnte ich korrekt nacherzählen. Lediglich einzelne Wortfetzen verhakten sich in meinem Kopf: Sexlover, Tilly, Negerin, Vermieter, Rolli, der Koch, der arme Hund, Psychopath, Knochenschmerzen …; und immer wieder sagte sie, dass sie nichts mehr schocken könne.

Sie konnte unmöglich noch Zeit zum Denken haben. Wie hatte ich sie damals eigentlich ertragen? Niemand konnte mit dieser Frau lange klarkommen. Sie war nicht nur eine Quasselmaschine – sie wurde nach und nach aggressiver und beschimpfte ihre Partner. Keine Ahnung, was sie für eine Persönlichkeitsstörung hat. Warum war ich bei ihr zu Besuch? Eigentlich wollte ich mal mit einer lebenden Seele über meinen Scheiß quatschen. Hatte ich verdrängt, wie sie ist? Beruhigend war wenigstens der Umstand, dass ich jederzeit die Flucht ergreifen konnte.

Per Taxi fuhren wir am späten Abend zurück. Ich übernahm die Rechnung. Sie lebt schon seit ewigen Zeiten von der Grundsicherung. Eine Lebenskünstlerin ist sie – das muss man ihr lassen. Die Müdigkeit überfiel mich. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und ich wollte nur noch auf ihrer Couch einschlafen.
Aber sie gab keine Ruhe. Sie schoss sich auf mich ein. Zwecklos, in diesem Zustand mit ihr zu diskutieren. Ich musste einen Brüller fahren lassen. Es dauert für gewöhnlich sehr lange, bis ich auf Hundertachtzig bin. Sie hatte es wieder geschafft. Endlich war Ruhe. Der Gedanke, in die Nacht hinaus zu flüchten, hatte mich nicht gerade entzückt. (Notfalls hätte ich sie geknebelt und ans Bett gefesselt.)

Am Morgen tranken wir noch Kaffee. Sie servierte mir einen im Bierglas. Ich versuchte, ihre Stimme an mir abprallen zu lassen, was nur bedingt funktionierte.
„Schön, dass du da warst. Melde dich mal wieder“, sagte sie zum Abschied - in dem für sie typischen Sing-Sang, der einem nicht mehr so schnell aus den Ohren geht. Ich sagte nichts darauf. Wir umarmten uns kurz.

Die Frau ist eine echte Plage, dachte ich, als ich im Bus saß, ein Wunder, dass sie noch niemand um die Ecke brachte. Ein kalter, grauer Montag nahm mich in Empfang. Ich wollte nur schnell nach Hause und den Hummelschwarm in meinem Kopf loswerden.

Sonntag, 10. März 2013

Sonntagslethargie


Zwei Tage zuhause abgehangen. Erst zu müde. Dann kein Antrieb. Die Vögel zwitschern. Die Sonne blinzelt. Ausgehfertig sitze ich in meiner Bude und warte auf den Bus. Eine kleine Fahrt in die Vergangenheit. Bei einer alten Bekannten vorbeischauen. Wir kennen uns aus einem anderen Leben. Aber was heißt das schon. Es gibt nur ein Leben. Man lebt es irgendwie in Kapiteln.Wege trennen sich. Wege kreuzen sich. Jahre vergehen, und man fragt sich, ob es die anderen von damals noch gibt. Wenn man sie nicht anriefe, könnten sie genauso gut tot sein. Und ihnen wird es ebenso gehen. Wir leben in Parallelwelten. Jeder in seiner Lebenswelt. Es ist schon ein paar Jahre her, dass wir uns das letzte Mal sahen. Ihre Stimme am Telefon die von früher. Alles wird sein wie früher – und doch nicht. Ein paar Stunden zusammensitzen und quatschen. Wären die gemeinsamen Erinnerungen nicht, man wäre sich fremd. Vielleicht sogar zu fremd.

Donnerstag, 7. März 2013

Wir können es uns nicht aussuchen


Klaus kommt mir auffällig oft entgegen geschlappt, wenn etwas besonderes in meinem Leben anliegt. Und dann kann es sein, dass ich ihn wochenlang nicht zu Gesicht kriege.
„Wohin des Weges?“ fragte er.
„Zur Beerdigung meines Vaters“, antwortete ich. Klaus wollte ins Kaffeehaus. Und ich eilte zur Straßenbahnhaltestelle in entgegengesetzter Richtung. Er wünschte mir viel Kraft, und jeder ging seiner Wege.
Ein sonniger Tag. In der Stadt stieg ich in ein Taxi um. Zufällig erwischte ich ein schwarzes. Es war früher Nachmittag. Als ich den Friedhof erreichte, sah ich niemanden. In der kleinen Friedhofskapelle spielte bereits die Orgel. Sargträger, die draußen warteten, fragte ich nach der Beerdigung, um die es ging. Ich wollte keine fremde Veranstaltung stören – doch es war mein Vater, der zu Grabe getragen werden sollte.
Eine Pastorin sprach über meinen Vater, und zwischendurch wurden Kirchenlieder gesungen. Ich hatte hinter meiner Mutter einen Platz gefunden. Sie war umrahmt von der anderen Verwandtschaft. Ich konnte mich der andächtigen Stimmung nicht erwehren, obwohl ich solcherlei Zeremonien hasse.
Als wir draußen waren, sagte meine Mutter zu mir: „Schön, dass du noch gekommen bist.“ Ich hielt ihre schwache Hand am Griff des Rollators auf dem Weg zur letzten Ruhestätte. Die Pastorin sprach das Vaterunser, der Sarg mit Vater wurde herab gelassen. Jeder Trauergast trat vor und schmiss Blütenblätter oder Sand auf den Sarg hinab. Wir hatten mit Blütenblättern angefangen, und darum machten die meisten mit Blütenblättern weiter. Diese Prozedur dauerte ein Weilchen.
Meine Mutter bedankte sich bei der Pastorin. Wir schritten zurück zum Parkplatz. Im Altenheim war Kaffee und Kuchen vorbereitet. Ich sagte meiner Mutter, dass ich lieber alleine bleiben wolle und verabschiedete mich von der Verwandtschaft.

Ich ging eine Strecke durch meinen Geburtsort. Überall roch es nach Erinnerungen, auch wenn vieles erneuert war. Ich ging vorbei am alten Bahnhof, vorbei am Kiosk am Bach, wo wir Kinder Wundertüten kauften, vorbei an dem Mietshaus, wo ich meine Kindheit verbrachte, vorbei am Jugendkeller „Loch Ness“, wo ich mein erstes Bier trank (für eine Mark damals), vorbei an dem ersten Kaufhaus der Stadt, vorbei an einigen Geschäften, die überdauerten, und an vielen, die neu waren … Alles sah sehr proper aus. Etwas zu viel für meinen Geschmack. Aber in dieser Atmosphäre wuchs ich auf.
Wenn ich meine Eltern besuchte, redete Vater oft darüber, wie sich die kleine Stadt gemausert hatte. Der Wohlstand war überall sichtbar. Leider etwas auf Kosten des Charakters der Stadt. Aber das ist nur meine Meinung. Dasselbe dürfte auf viele deutsche Kleinstädte zutreffen: Sie sind bieder und langweilig - spiegeln die Geisteswelt ihrer Einwohner wider.
Trotz allem bleibt Heimat Heimat und Familie Familie. Es entsteht ein Gemisch ganz unterschiedlicher Gefühle. Ich wusste, dass ich nie zurückkehren konnte. Ich ging auf Bildern der Vergangenheit spazieren. Dabei lagen hier meine Wurzeln. Ich suchte nach bekannten Gesichtern, aber fand keine. Ich war inzwischen ein Urgestein dieser Stadt, das kurz als Gespenst zurückkehrte.

Mein Vater wurde gestern beerdigt. Der Tod war gnädig. Menschen sterben nicht einfach. Sie werden in unseren Erinnerungen weitergereicht. Sie leben in unseren Genen.
Wir können es uns nicht aussuchen.





Innenstadt

Dienstag, 5. März 2013

Gespenstische Aussichten


Die Vergangenheit ist ein ständig wachsender Müllschlucker, auf dessen Rand sich unser gegenwärtiges Leben abspielt. Eines Tages wird alles in der Vergangenheit konserviert sein. Das Universum wird zum Nichts erstarren. Die Zeit eingefroren, als hätte es sie nie gegeben.
So stelle ich mir auch den eigenen Tod vor. Ein Windstoß wird mich von der Kante wehen, und ich werde mit all den anderen Lebewesen und Dingen, die täglich sterben, in einem Strudel unter dem Horizont des Müllschluckers verschwinden. Wir verschwinden im Nichts. Die Vergangenheit lebt nur für die Lebenden, während die Toten einfach nur tot sind.
Aber wer kennt schon die Gesetzmäßigkeiten der Dunkelheit (?) Vielleicht ist es wie ein sehr tiefes Meer mit Strömungen und Gezeiten. Und manchmal spült es die Toten wieder an die Oberfläche oder an das Ufer, wo sie die Lebenden am Strand der Gegenwart erschrecken.
Wer kennt schon diese Wesen, die lange tot sind und irrtümlich wieder ans Licht kommen. Gespenstisch und fremd. Und auch jene, die nicht ruhen können, die es zurückzieht ins Leben. Sie begleiten die Menschen schattenhaft. Sie erscheinen in ihren Träumen und erzählen von der Unruhe. Ihr hört sie flüstern, wenn ihr genau hinhört.

Eines Tages werde ich ebenso ein solches Gespenst sein. Ich stelle mir vor, dass ich die ahnungslosen Menschen ein wenig ärgern werde. Schon im Leben sind mir meine Mitmenschen reichlich suspekt. Ich weiß nicht, woran das genau liegt. Sie kleben wie die Motten am Licht, und rennen wie die Lemminge dem Abgrund entgegen.
Es gibt nicht wenige Tage, an denen ich mich bereits als Gespenst fühle, wenn ich mich zwischen euch bewege. Ich bin weit weg von eurer Lebenswelt, euren Wünschen und Zielen, euren ehrgeizigen Plänen, euren Umtrieben … Genauso gut könnte ich bereits tot sein.

Die Sonne scheint. Es ist wahr – ich lebe! Auch muss ein Gespenst nicht aufs Klo.

Donnerstag, 28. Februar 2013

Im Bann des Todes


Ich traf Klaus auf dem Weg ins Kaffeehaus. Er kam gerade vom Kaffeehaus. Als ich ihm vom Tod meines Vaters berichtete, ging er noch mal mit. Dafür spendierte ich ihm ein Baby-Weizen.
Klaus ist Anfang Sechzig und steuert auf die Rente zu. Er erzählte mir von einem Vortrag in der Stadtbücherei, der ihn sehr betroffen machte: Sven Kuntze (Journalist im Ruhestand und Buchautor) redete über das Altern. Wer wünscht sich nicht einen schönen letzten Lebensabschnitt? Nur machen einem oft Alterserkrankungen, Vereinsamung und Armut einen Strich durch die Rechnung. Es ist nur eine Frage der Zeit. Meine Eltern hatten immerhin fünfzehn Jahre, die sie gemeinsam in ihrem kleinen Häuschen mit Garten genießen konnten. Aus meiner Betrachtung war es ihre entspannteste Zeit, und ich hätte ihnen noch viele schöne Jahre gewünscht. Aber in nur wenigen Monaten überschlugen sich die Ereignisse … An Klaus gewandt:„Weißt du noch, es ist ein Jahr her, da fuhrst du mich zu Vaters achtzigstem Geburtstag. Die Demenz war zwar schon merkbar, aber im Großen und Ganzen war Vater wohlauf.“ Während ich das sagte, dachte ich daran, was im letzten Jahr alles passierte – an Schönem und Schrecklichem. Ich erzählte Klaus vom Ende meiner Liebe in Kärnten. Er war noch nicht auf dem neuesten Stand. Ich hatte mich bisher darum gedrückt. Klaus klopfte mir auf die Schulter und meinte, dass es so besser wäre. „Stelle dir vor, ihr hättet euch erst nach deiner Übersiedlung getrennt“, sagte er, „da hättest du ganz schön blass ausgesehen!“ Dem konnte ich nicht widersprechen. „So oder so, es ist eine persönliche Niederlage“, entgegnete ich und bestellte mir noch ein dunkles Weizen. Klaus musste dann gehen, und ich blieb alleine zurück an der Bar mit meinem Bier und einem gedankenschweren Kopf.

Vater ist tot. Ich versuche zu begreifen, was dies mit mir macht. Eine alte Mail-Freundin schrieb mir folgendes Zitat des Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry :

„Der Tod ordnet die Welt neu.
Scheinbar hat sich nichts geändert,
und doch ist die Welt anders geworden.“


Sonntag, 24. Februar 2013

Vortasten im Nebel des Selbst


Ich behaupte: die meisten Menschen gehen gedanklich nicht an ihre Grenzen. Lieber erklimmen sie Berge, stürzen sich mit dem Fallschirm in Schluchten oder lassen sich ins All katapultieren.
Ich las Autoren, die gedanklich an ihre Grenzen gingen. Nicht alle hielten es aus. Einige schossen sich in den Kopf – was als das Naheliegende erscheint.
Klar, wir Menschen sind unterschiedlich, und darum testet jeder andere Grenzen aus.
Mich interessiert schon immer die Eroberung des Geistes, weil ich glaube, dass ich nur darüber zu neuer Erkenntnis über mein Dasein in der Welt gelangen kann. Was bringt es mir, wenn ich auf dem Mount Everest stehe, und gar nicht kapiere, wo ich bin, und was mit mir geschieht? Was bringen mir körperliche Höchstleistungen, wenn dabei geistig nichts raus springt? Einfach des Spaßes wegen das Leben riskieren? Das ist nur töricht.
Ja, ich behaupte, dass viele Menschen gedanklich weitgehendst an der Oberfläche kleben. Die genauen Gründe dafür kenne ich nicht. Denn für mich war es ein Ur-Bedürfnis, immer tiefer zu schürfen bis zu meinen Grenzen, bis zur Verrücktheit. Und mit der Zeit verhält man sich bei solch inneren Exkursen immer gekonnter. Man schätzt Risiken ab und rüstet sich demgemäß aus. Das heißt, man geht am besten auf den eigenen Pfaden und lässt sich nicht von Scharlatanen und Dummschwätzern (religiöser oder ideologischer Ausrichtung) belabern. Natürlich bleibt immer ein Restrisiko. Die inneren Exkurse hin zu den Grenzen des bewusst Erfahrbaren sind darum besonders gefährlich, weil man sich im Nebel voran tasten muss. Es gibt genau genommen nur an der Oberfläche nebelfreie Zonen.
Vielleicht befassen sich deswegen viele Menschen nicht gern mit ihren eigenen geistigen Abgründen. Sie haben Angst vor den Monstern, die unter Umständen in ihnen wohnen. Oder sie haben Angst davor, nicht mehr zurückzufinden in ihr normales Leben. Allerdings, die Gefahr besteht, wenn man einfach so los tigert – ebenso wie man besser nicht ungeübt und unvorbereitet auf eine Bergtour geht.
Ich verstehe das schon: wir Menschen wollen lieber die Aussicht von einer Bergspitze genießen, als in den undurchdringlichen Nebel unseres Selbst hinabzusteigen. Es ist ja nicht so, dass ich nicht die Aussicht auf einem Berg toll finde. Das letzte Mal in Kärnten. Es war wirklich fulminant!
Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Mir ist es auf Dauer zu wenig. Ich glaube, dass wir nichts in unserem Leben begreifen können, wenn wir nicht etwas mehr in uns gehen. Jegliche Kreativität hat ihre Wurzeln in uns. Kann sein, dass ich etwas zu weit gehe. Doch ich kann nicht anders. Ich bin getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit. Und die finde ich letztendlich nur im Nebel meines Selbst. So paradox es klingt.
Man kann freilich auch auf Bergspitzen im Nebel stehen; und man kann auf Berge steigen und dabei auf der Suche nach den inneren Grenzen sein. Wie Reinhold Messner z.B.. Sicher gibt es noch viele andere, weniger populäre Globetrotter und Abenteurer. Denen zolle ich großen Respekt. Ihre Unruhe ist, glaube ich, der meinigen ähnlich.
Ich liebe es, mit dem Fahrrad alleine quer durch Deutschland zu fahren. Auch ich brauche diese äußeren Reize und die Herausforderung. Auch ich brauche ab und zu die körperliche Anstrengung. Wobei es oft eine psychische Überwindung darstellt, - nämlich bei Schwierigkeiten nicht aufzugeben …
Hintergrund bildet dabei aber stets der Nebel meiner Identität, den ich erforschen will.
Ich kann es schwer in Worte fassen. Manche Gefühle sind derart außergewöhnlich, dass man sie schwer mit jemandem teilen kann.

Das Verpacken meiner geistigen Exkurse in Sprache bedeutet für mich etwas Halt. Auch wenn es nur unvollständig funktioniert. Darum schreibe ich.

Samstag, 23. Februar 2013

Django Unchained


Nachdem ich die Überweisung für die GEZ Gebühren eingeschmissen hatte, ging ich ins Kino. Die Luft war eisig. Meine Nase lief. Eine Methode, über den Nachmittag zu kommen. Mit dem neuen Tarantino: "Django Unchained". Ich liebe leere Kinosäle. Außer mir nur ein paar Studentinnen. Wie immer saß ich in der Reihe ganz außen, um den kürzesten Weg zur Toilette zu haben. Alter Mann hat schwache Blase. Der Film dauert schließlich ganze 165 Minuten.

Yeah! Geht gleich gut los. Blut spritzt wie Tomatenketchup. Ich öffnete mein erstes Bier. Ich kann`s vorweg sagen: Der Film ist sehr unterhaltsam! Besser als „Inglourious Basterds“ - der letzte Streifen, den Tarantino abdrehte. Vielleicht liegt`s daran, dass das Feindbild Nazi bereits so abgedroschen ist. Irgendwie auch ein Western. Oder eine Art Märchen. Ähnliches Strickmuster. Nur ist Christoph Waltz diesmal bei den Guten. Er spielt den Kopfgeldjäger Dr. King Schultz aus Düsseldorf, der Django, toll gespielt von Jamie Foxx, aus den Fängen der Sklavenhändler befreit, weil er ihn braucht, einige Verbrecher zu identifizieren und zur Strecke zu bringen. Waltz ist fantastisch. Ich liebe diesen Zynismus in Tarantinos Filmen. Und Waltz setzt den unheimlich gut um. Nur durch diesen Zynismus sind die Gewaltexzesse überhaupt erträglich. Einige Male musste ich lauthals lachen. Allerdings als einziger im Kino.
Der Film war einfach süß. Wie ein grinsender Silberrücken-Gorilla.
Ich öffnete das nächste Bier. Nachdem Django seine Lehrzeit bei Dr. King Schultz als Kopfgeldjäger absolviert hat, machen sich die beiden, inzwischen Freunde, auf die Suche nach Djangos Frau Broomhilda, um sie freizukaufen. Die Suche führt sie nach Candyland, wo der sadistische Plantagenbesitzer Candie herrscht. DiCaprio mimt den eingebildeten Herrenmenschen Candie sehr überzeugend. Mit vielen Nazi-Parallelen. Nur sind hier die Schwarzen die Untermenschen (und nicht die Juden). Ich hörte noch nie so oft in so kurzer Zeit das Wort Nigger.
Ach, es ist einfach herrlich, wie die Bösen nach und nach abgeschlachtet werden. Ein rauschendes Blutfest. Könnte man doch alle Arschlöcher und Schreihälse der Welt so einfach umnieten. Natürlich kommen die Guten auch nicht ohne Opfer weg. So muss Dr. King Schultz aus Düsseldorf gegen Ende ins Gras beißen, nachdem er den Bösewicht Candie mit seinem im Ärmel verborgenen Derringer ins Jenseits befördert hat. Seine letzten Worte zu Django: "Ich konnte es mir nicht verkneifen." Sniff. Ich öffnete das nächste Bier …
Erwähnen will ich auch Samuel L. Jackson, der den schlauen, alten Sklaven-Kapo Stephen spielt. Einfach nur pervers gut.
Und dann die kurze Szene, als sich Franco Nero neben Django an die Bar setzt, einen Drink bestellt, und ihn nach seinem Namen fragt. Der Film hat einige solcher köstlichen Details zu bieten. Wie gesagt, ich musste einige Male laut lachen.
Schließlich kann Django in einem letzten infernalen Showdown seine geliebte Frau Broomhilda befreien, und sie reiten beide stolz in die Dunkelheit. Der viktorianische Herrensitz liegt in Schutt und Asche. Sniff. Ja, dann und wann kullerten einige Tränen über meine Wangen.
„Django Unchained“ - der beste Tarantino, den ich bisher sah.
Ach ja, und die Filmmusik ... Spitze!

Draußen empfing mich wieder eisige Luft. Ich tauchte ein in den nicht abreißenden Menschenstrom der Fußgängerzone. In einer Apotheke kaufte ich Abführtropfen. Und bog ab auf ein Bier im Café Petit Paris.

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