Zeitnot

Mit der Zeit denke ich nach, was “Zeit” eigentlich bedeutet. Dabei diene ich mir selbst als Anschauungsobjekt. Wenn es nicht so furchtbar normal wäre, dass man vor sich hin altert, dass ein Tag nach dem anderen vergeht, wie Dominosteine in einer scheinbar endlosen Reihe umfallen, würde ich meinen, dass alles, meine Erinnerung, meine Gegenwart und das Vorangehen in meine Zukunft, völlig absurd ist. Das Gehirn sublimiert es einfach. Dabei gab es eine Zeit, in der ich nicht existierte - nämlich vor meiner Geburt. Menschen wie meine Eltern oder mein älterer Bruder sind somit lebendige Zeugen meiner damaligen Nicht-Existenz. Ich dagegen weiß nur von einer Welt, die mit mir vorhanden ist. Ältere Menschen haben einen Lebenszeitvorsprung, der in ihrem Leben nie von mir aufzuholen ist. Der Tod vernichtet die Zeugen meiner ehemaligen Nicht-Existenz. Der Tod vernichtet die lebendige Erinnerung. Schließlich stehen wir nur noch vor Artefakten der Vergangenheit. Die ältere Geschichte hat keine lebendigen Zeugen. Alles was wir haben, sind unser Verstand und Vorstellungsvermögen. Die Zeit selbst entzieht sich durch den Tod.
Als junger Mensch findet man es abwegig und surreal daran zu denken, dass die eigene Lebenszeit kontinuierlich wie eine Sanduhr abläuft. Es ist gerade so, als ob immer Tag wäre; und die Nacht, die Dunkelheit bleiben etwas Unvorstellbares. Das Bewusstsein steht im Zenit und strahlt wie eine Sonne auf sich und die Welt. Auch wenn der Verstand durch Erzählungen und Beobachtungen längst weiß, dass nicht nur das Leben der anderen endlich ist, kann und will man nicht begreifen, dass dies auch auf einen selbst zutrifft. Das Leben wirft keinen Schatten - jedenfalls sehen wir ihn nicht an uns.
Ich bin Altenpfleger und sehe häufig den Tod in unmittelbarer Nachbarschaft. Ich erlebte, wie "Zeitzeugen" starben, unspektakulär, manchmal leidvoll im Abschied … Ein Mensch ist tot, und ich lebe noch. Ich weiß, dass die Stunde unweigerlich kommen wird, in welcher ich meinen Frieden mit dem Dasein machen muss - ... dann bin ich einfach nicht mehr da. Einige Menschen werden sich an mich erinnern, bis auch sie sterben. Einige Menschen lesen vielleicht meine Gedichte, wenn ich schon lange nicht mehr existiere. Es ist gespenstisch, wenn Tote durch Medien zu uns sprechen.
Die Zeit kennt nur ein Gesetz: sie vergeht. Und mit ihr vergehen selbst die größten Menschen und hellsten Sonnen. Der Tod ist der Schatten des Lebens in der Zeit. Es gab Momente in meinem Leben, wo ich meinen Schatten ganz nah bei mir fühlte - ich war bereit, zu gehen.
Die Zeit wird im Alter kostbarer, obwohl sie scheinbar immer schneller verrinnt. Es ist ein Witz - da fängt man gerade mit dem Nachdenken an, und schon soll alles vorbei sein …
Lange-Weile - 10. Jan. 10, 01:14

Zwischen Leben und Tod

Hallo Bo.,
spannend deine Betrachtung der Zeit und wie sie sich durch unser Leben zieht. Sie scheint ihre tägliche Bahn täglich einen kleines bißchen mehr zu beschleuigen, als am Tag zuvor. Es scheint sich der Wendekreis der Zeit mit den Jahren zu verkürzen.

Auf der anderen Seite nimmt die Schnelligkeit der Zeit auch mit der hektischen Zeit von Heut noch zusätzlich an Geschwindigkeit zu. Menschen funktioniren tags über nur noch, ohne sich auf sich selbst zu besinnen.

Denn nur in solchen Momenten scheint die Zeit sich zu entschleunigen- in dem Moment, wenn der Mensch Zeit für sich nimmt.

Als junger Mensch war in meinen Bewußtsein kein Gedanke, dass ich auch mal zu den Alten zählen würde. Die Jugend war von mir aus für die Ewigkeit geplant und da hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht und ich stehe jetzt als ältestes Familienmitglied meiner elterlichen Familien ganz oben auf der "Abgangsliste". Dieser Gedanke erschreckt mich manchmal, doch dann ist er auch schon wieder verschwunden. Doch bleibt es nicht aus, dann ich mich ab und zu mal mit dem Tod auseinander setzte - mit meinem Tod.

Aus einem Film von Ingmar Bergmann - bekannt durch den Film "Szenen einer Ehe" - blieb ein Satz in meinem Kopf hängen. "Man muß zwischen Leben und Tod immer noch etwas wichtiges haben, was man erledigen muß, sonst erträgt man den Tod nicht"

Das heißt, wer noch Pläne hat, hat auch noch Zukunft ?

Wie dem aus sein - das Ende kommt bestimmt

Ich wünsche dir noch eine gute Nachtschicht

Gruß LaWe

bonanzaMARGOT - 10. Jan. 10, 16:19

hi lawe, danke für deine gedanken zu diesem nicht ganz leichten thema.
man könnte ja auch sagen: wozu soll ich mich mit etwas auseinander setzen, was ich sowieso nicht ändern kann?
der mensch ist wohl durch sein ausgeprägtes stirnhirn prädestiniert dafür, sich mit den unsinnigsten dingen zu befassen - die unsinnigsten dinge, das sind gerade die fragen nach dem woher, dem wohin und dem sinn des daseins. die fähigkeit uns selbst in der welt zu reflektieren, führt zwangsweise zu der auseinandersetzung mit dem tod und der frage nach dem sinn des davor. das leben erhält nicht nur über den überlebenstrieb an wert, sondern es erfährt durch das menschliche denken eine unwahrscheinliche kostbarkeit. ein leben ist nicht nur simpel ein leben, sondern steigt zum individuum auf. damit einher entwickeln wir ein moralisches verständnis, kultur und zivilisation.

ja, ich denke, das leben ist eigentlich zu kurz, um "weise" zu werden. auch sind wir viel zu viel damit beschäftigt, unseren alltag zu bewältigen. wenn wir dann mal zum tieferen nachdenken kommen, stellen wir erstaunt - mitunter erschreckt - fest, wie schnell die zeit verflog, wie wir uns im älter werden wandelten ...; es macht uns angst, dass unser ende unweigerlich näher rückt. wir sitzen in der zeitfalle.
natürlich ist es wichtig, dass man sich mit plänen für die zukunft über wasser hält. doch bin ich in dieser hinsicht ziemlich bescheiden. realistisch schmiede ich gerade mal pläne für die nächsten tage oder für den nächsten urlaub. ich bewundere menschen, die jahre lang projekte verfolgen ... ehrgeizig und mit durchstehvermögen. kindererziehung wäre z.b. ein solches projekt.
nun, wir menschen sind in unseren anlagen und bedürfnissen verschieden und müssen dem rechnung tragen. darum kann man auch schlecht anderen ein guter ratgeber sein, wie mit solch schwierigen lebensthemen wie tod und endlichkeit umzugehen sei.
für manche menschen ist es vielleicht gut und sinnvoll, darüber nicht zu reden - es von sich zu weisen.
mein vater ist ein solcher mensch. ich glaube, er will das lieber im stillen kämmerchen mit sich ausmachen.
ich dagegen bin von kind auf ein hinter- und nachfragender geist. das wunder und die faszination des lebens zeigen sich mir gerade in der auseinandersetzung mit den ewigen fragen nach herkunft, sein und werden.
während mein vater mit leib und seele ein praktischer mensch ist - er ist fasziniert vom fassbaren -, bin ich stärker angezogen und fasziniert vom unfassbaren.

die zeit bestimmt das leben - ich möchte sagen: sie ist das medium des lebens. sie taktet, nimmt gefangen und gibt frei ...
die zeit ist wie das herz der welt. aber anders als unser herz, welches wie ein motor im körper pulst, ist das herz der welt in alle dinge unsichtbar und unbegreiflich eingewoben.

stirbt ein mensch, stirbt jedesmal mit ihm die ganze welt.
Lange-Weile - 12. Jan. 10, 00:55

Betrachtung der Zeit

Hallo Bo.,

das Thema "Zeit" scheint unerschöpftlich und wir ändern unsere Sichtweise auf die Zeit mit dem älter werden.

Damals, als ich als Kind nicht erwarten konnte 18 jahre zu werden, krochen die letzten Tage zeitlich wie Schnecken durch das Leben. Oder war ich erst einmal in dem Moment angekommen, den ich schon lange erseht hatte, verflog der Moment auch schon wie im Flug und lag als Erinnering in meinem Gedächnis. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ist aufwendete,, mich an den ach so wichtigen Moment zu erinnern, damit sich die Defizite an Eindrück ausgleichen, die im aktuellen Moment noch nicht verarbeiten konnte.

Ich glaube für Menschen aus Naturvälkern, die als Unterhaltungselement nur sich selbst kennen und haben, die sich stets selbst animieren müssen, weil sie es nicht anders gelernt haben, für diese Menschen zerinnt die Zeit nicht wie im Fluge. Sie haben sich selbst nicht aus den Augen verloren, so gehen sie auch mit der Zeit konform.

In einem Buch las ich eine gute bildlich Darstellung des menschlichen Lebens, deren Lebensline wie eine Spirale verläuft. Am Anfang beginnt sich der Lebenszyklus im kleinen Kreis zu drehen - das sind die Kinderjahre in der die Zeit wie eine Ewigkeit scheint. Der Kreis der Spirale wird stetig größer und bis er seinen größten Radius erreicht hat. Das ist die Hochzeit des Menschen, er steht sozusagen wie ein Baum voll in seinem Saft. Das ist die Zeit, in der er von Termin zu Termin hetzt und das Gefühl für die Zeit verloren hat.
Nach der Hochzeit beginnt die Spirale sich wieder nach innen zu bewegen. Der Mensch wird älter, bekommt seine ersten Zipperlein und sein Gefühl für Zeit ändert sich erneut. Die Zeit zerinnt wie im Flug und jedes Jahr schein kürzer zu werden als das Jahr zuvor.

Es scheint fast so, als ob für den Menschen die Zeit schneller zerrinnt, je mehr er seinem Lebensende entgegen geht. Das ist aber auch wieder die Zeit, in der er sich mehr Zeit für banale Dinge nimmt, während eines Spazierganges wieder die Blumen am Wegesrand sieht. Während die Jahre schnell und schneller zerrinnen, beginnt er sein Leben auf eine andere Weise zu entschleunigen.

Mit der Zeit hab ich mich schon vor ein paar Jahren intensiv auseinander gesetzt. Das begann in dem Moment, als ich mir bewußt wurde, dass ich nicht mehr alle Zeit der Welt habe. Die Betrachtung der Zeit hielt eine ganze Weile an und fast jede Tagebucheintragung beschäftigte sich mit der "Zeit".
Und dann war es mit einem mal vorbei. Vielleicht habe ich damals meine Auffassung zur Zeit geändert und sie neu in meinem Kopf zurecht gerückt.

Ja..die Zeit ist ein vielseitiger Begleiter unseres Lebens. Mal ist sie gegen uns und dann wieder auf unserer Seite, so als wären wir Menschen ihr Spielball und wenn sie genug mit uns gespielt hat, läßt sich uns fallen und übergibt den Menschen einer anderen Welt, von der niemand weiß, wie es dort aussieht :-).

Wie du liest, steckt in meinen letzten Worten ein Hoffnungschimmer :-)

Ich wünsche dir noch eine gute Nachtschicht

Gruß LaWe
bonanzaMARGOT - 12. Jan. 10, 12:05

das bild der spirale schwebt mir auch vor - allerdings sehe ich eine spirale die in ihren windungen enger wird.
als kind waren die umrundungen - die jahre - länger, da sie als solche relativ zur lebenszeit mehr ausmachten.
mit zehn war ein jahr noch ein ganzes zehntel meines lebens! heute ist ein jahr für mich gerade mal noch gut 2% - also nur noch ein gefühltes fünftel gegenüber damals, als ich zehn war.
die umdrehungen, die jahre vergehen schneller ..., wie ein sog, der einen auf den universalen abfluß zulaufen läßt.
der tod wird schließlich meine seele schlucken - wie ein schwarzes loch.

die zeit ist mit dem raum und den dingen verwoben. oder umgekehrt: der raum und die dinge sind unlösbar in die zeit eingebettet. die zeitdimension gehört selbstverständlich zum leben. und wie alle dimensionen ist sie nur in der theorie klar umrissen - in der realität ist sie fraktal. wie eine fläche bei genauerem hinsehen nicht genau eben ist, so ist die zeit bei genauerer betrachtung ebenfalls nicht total gleichförmig. es liegt stets an der distanz und perspektive des betrachters.
was wohl zeit in der größenordnung von planeten und sonnen für eine bedeutung hat - oder gegensätzlich dazu im mikrokosmos?
wie es sinne gibt, die den raum erfassen, so gibt es meiner meinung nach auch einen sinn für die zeit. poetisch/kabarettistisch ausgedrückt würde ich sagen: wir riechen die zeit - aber wir haben keine besonders guten nasen.

ich weiß nicht, was nach "meiner zeit" kommt, lawe. sicher kommt in etwa das, was ja schon mal war, als es mich noch nicht gab.
Lange-Weile - 13. Jan. 10, 15:59

der Augenblick

Hallo Bo.,

so vielschichtig kann Zeit sein.

Manchmal überwältigt die Zeit mich schon in den Morgenstunden. Eben noch hab ich mich besinnlich aus den Federn gehoben, weil die Zeit im Ruhepol scheint, beginnt sie anschließdend sofort zu zirkulieren und macht sich als Zeitdruck auf sich aufmerksam und sie steigt mir so lange nach, bis ich sie wieder - zumindest kopfmäßig - unter Kontrolle bekommen und mich yogamäßig wieder auf den Augenblick besinne. In dem Moment fällt auch der Druck von mir ab :-).

Deine dargestellte Zeit-Spirale macht auf mich einen dreidimensionalen Eindruck, während meine - vor meinen Augen - nur zwei Dimension hat.

Soeben kam mir noch weiteres Gleichnis für die Zeit und ihre Verbindung mit dem Leben in den Sinn.
Wenn man sich die Zeit als Schlauch vorstellt, in dem der Mensch sie wie Flüssigkeit bewegt und verhält. Wenn der Schlauch enger wird, dann muß sich doch zwangsläufigt die Geschwindigkeit erhöhen, d. h. nicht die Zeit läuft schneller, sondern der Mensch wird schneller und damit erzeugt sich das Gefühl, als würde die Zeit schneller werden.

Die Betrachtung bleibt spannend und es ist noch kein Ende in Sicht. :-)

Gruß LaWe
bonanzaMARGOT - 14. Jan. 10, 11:52

ja, kaum bin ich aufgestanden, ist bereits der halbe tag rum.
wenn ich mir überlege, wie lange für mich als kind zwei stunden waren, in denen ich mich mit spielkameraden traf, fußball spielte, auf bäume kletterte, abenteuerausflüge unternahm etc. etc.
heute habe ich kaum den pc angeschaltet, einen kaffee getrunken, etwas im internet gesurft ..., und schon sind zwei stunden vorbei! unfassbar!
wenn das so weiter geht, lohnt es sich gar nicht mehr aufzustehen. dann liegen morgen und abend so dicht beieinander wie einmal ein- und ausatmen.
komischerweise ist die arbeitszeit immer noch merkwürdig gedehnt. in einem nachtdienst kann eine menge passieren. der ist dann wie tatsächlich wie ein schlauch, ein nicht enden wollender schlauch.

zeit ist in hohem maße subjektiv. je nach lebensrhythmus, lebensalter und lebensintensität vergeht sie gefühlt unterschiedlich schnell.
eine minute bleibt zwar gemessen immer eine minute, aber wir nehmen sie sehr unterschiedlich wahr. wenn ich eine minute die luft anhalte, ist die minute sehr lang. wenn ich mich dagegen eine minute angeregt unterhalte, ist die minute scheinbar gleich vorbei.
am langsamsten vergeht die zeit, wenn ich ständig auf die uhr schaue ..., darum sind wartezeiten die längsten zeiten.

heute warte ich auf den nachtdienst. da braucht die zeit nicht besonders schnell vergehen ...

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