Samstag, 9. Januar 2010

Zeitnot

Mit der Zeit denke ich nach, was “Zeit” eigentlich bedeutet. Dabei diene ich mir selbst als Anschauungsobjekt. Wenn es nicht so furchtbar normal wäre, dass man vor sich hin altert, dass ein Tag nach dem anderen vergeht, wie Dominosteine in einer scheinbar endlosen Reihe umfallen, würde ich meinen, dass alles, meine Erinnerung, meine Gegenwart und das Vorangehen in meine Zukunft, völlig absurd ist. Das Gehirn sublimiert es einfach. Dabei gab es eine Zeit, in der ich nicht existierte - nämlich vor meiner Geburt. Menschen wie meine Eltern oder mein älterer Bruder sind somit lebendige Zeugen meiner damaligen Nicht-Existenz. Ich dagegen weiß nur von einer Welt, die mit mir vorhanden ist. Ältere Menschen haben einen Lebenszeitvorsprung, der in ihrem Leben nie von mir aufzuholen ist. Der Tod vernichtet die Zeugen meiner ehemaligen Nicht-Existenz. Der Tod vernichtet die lebendige Erinnerung. Schließlich stehen wir nur noch vor Artefakten der Vergangenheit. Die ältere Geschichte hat keine lebendigen Zeugen. Alles was wir haben, sind unser Verstand und Vorstellungsvermögen. Die Zeit selbst entzieht sich durch den Tod.
Als junger Mensch findet man es abwegig und surreal daran zu denken, dass die eigene Lebenszeit kontinuierlich wie eine Sanduhr abläuft. Es ist gerade so, als ob immer Tag wäre; und die Nacht, die Dunkelheit bleiben etwas Unvorstellbares. Das Bewusstsein steht im Zenit und strahlt wie eine Sonne auf sich und die Welt. Auch wenn der Verstand durch Erzählungen und Beobachtungen längst weiß, dass nicht nur das Leben der anderen endlich ist, kann und will man nicht begreifen, dass dies auch auf einen selbst zutrifft. Das Leben wirft keinen Schatten - jedenfalls sehen wir ihn nicht an uns.
Ich bin Altenpfleger und sehe häufig den Tod in unmittelbarer Nachbarschaft. Ich erlebte, wie "Zeitzeugen" starben, unspektakulär, manchmal leidvoll im Abschied … Ein Mensch ist tot, und ich lebe noch. Ich weiß, dass die Stunde unweigerlich kommen wird, in welcher ich meinen Frieden mit dem Dasein machen muss - ... dann bin ich einfach nicht mehr da. Einige Menschen werden sich an mich erinnern, bis auch sie sterben. Einige Menschen lesen vielleicht meine Gedichte, wenn ich schon lange nicht mehr existiere. Es ist gespenstisch, wenn Tote durch Medien zu uns sprechen.
Die Zeit kennt nur ein Gesetz: sie vergeht. Und mit ihr vergehen selbst die größten Menschen und hellsten Sonnen. Der Tod ist der Schatten des Lebens in der Zeit. Es gab Momente in meinem Leben, wo ich meinen Schatten ganz nah bei mir fühlte - ich war bereit, zu gehen.
Die Zeit wird im Alter kostbarer, obwohl sie scheinbar immer schneller verrinnt. Es ist ein Witz - da fängt man gerade mit dem Nachdenken an, und schon soll alles vorbei sein …

ein literarisches Tagebuch

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