Unsere Zeit
Vor ein paar Tagen hatte ich die verrückte Vorstellung, eine Stubenfliege, einen Menschen und eine Schildkröte zu ihrem Zeitempfinden zu befragen. Ich dachte mir dazu eine Art Talksendung aus. Es gibt nämlich nichts, was mich mehr interessiert als die Zeit…, wie sie vergeht… in mir, mit mir und ohne mich. Wenn wir die Zeit verstünden, würden wir alles in einem anderen Licht sehen.
Also, ich sehe die Stubenfliege, den Menschen (einfach ein normaler Mensch, geschlechtlich gesehen uninteressant) sowie die Schildkröte zu Gast bei BONANZAMARGOT.
Folgendermaßen läuft die Sache ab:
Die Stubenfliege nimmt in der Bescheidenheit ihrer Größe augenblicklich Platz. Kamerazoom auf die Stubenfliege…
„Ein herzliches Willkommen für Frau Stubenfliege, die uns immer einen Schritt voraus ist in der Zeit!“
Verhaltener Studioapplaus. Inzwischen setzt sich der Mensch. Er wird in der Mitte sitzen.
„Hallo Mensch! Prima, dass du dabei bist. Du wirst uns sicher viel über die neuesten Forschungen in Sachen Zeit Auskunft geben können.“
Der Studioapplaus schwillt an.
Die Schildkröte bewegt sich gemächlich Richtung ihres Platzes.
„Alles braucht seine Zeit, meint unser nächster Gast. Ein herzliches Willkommen für die Schildkröte!“
Die Kamera verfolgt den Weg der Schildkröte. Es kann sich nur noch um Stunden handeln. Der Mensch steht auf und trägt sie zu ihrem Platz.
Das Studiopublikum applaudiert…
„Danke.“
„Gern geschehen.“
Kameraschwenk auf den Moderator BONANZAMARGOT.
„Liebe Gäste, liebes Publikum, wir diskutieren heute die Zeit. Alle sind wir Zeitbürger. Ein jeder lebt in seiner Zeit, empfindet sie auf seine Weise schneller oder langsamer. Doch eines haben wir alle gemeinsam: Unsere Zeit ist endlich… Der berühmte Gelehrte und Dichter Goethe sagte: Die Zeit ist selbst ein Element. Gerne möchte ich dazu meinen hier anwesenden Artgenossen, den Menschen, fragen: Hat Goethe mit seiner Aussage Recht? Wie fassbar ist die Zeit?“
Die Kamera zeigt den Menschen in typischer Denkerpose. Der setzt zu einer Antwort an…
Soweit so gut. Liebe Leser und Leserinnen. Ich halte Sie allesamt für Menschen. Wie würde Ihre Antwort ausfallen?
bonanzaMARGOT
- 24. Dez. 17, 13:22
- boMAs Gedichte und Texte
Wir können die Zeit lediglich auf unsere eigene Art erfassen, gemeinsam mit all den Filterungen und Einschränkungen, die wir uns einerseits selbst auferlegen oder auferlegen lassen. So bekommt auch die Zeit immer unsere Färbung, vergleichbar mit den Fingerabdrücken, der Anordnung der Geschmacksbereiche auf der Zunge oder dem Muster und der Farbe der Iris im Auge.
Oh, ich sehe gerade, dass Herr Schildkröte eingeschlafen ist, wahrscheinlich hat ihn der lange Weg hierher ins Studio so sehr ermüdet - oder meine Antwort war so langweilig und vorhersehbar... vielleicht kann ihn wer aufwecken und fragen, was er zur Zeit zu sagen hat, denn mir fällt momentan nichts mehr ein."
ich denke nicht, dass die schildkröte schläft. das sieht aus unserer perspektive nur so aus. wenn du genau hinsiehst, kannst du geradezu nachverfolgen, wie ihre alten grauen gehirnzellen an einer antwort arbeiten...
von goethe als allseits bekannten klugschwätzer hatte ich nichts anderes erwartet. aber seine zeit ist rum, während ich noch lebe – gähn. ja, so einfach ist das im grunde. die zeit ist ein ständiges kommen und gehen. ziemlich langweilige geschichte, wenn ihr mich fragt. die tage vergehen wie schablonen, und ehe ich mich versehe, ist ein ganzes jahr rum. wenn die zeit ein element ist, dann eines, welches sich mit dem betrachter ändert. und das betrifft nicht nur die geschwindigkeit sondern auch die wertigkeit von zeit. bei einem element erwarten wir eher unverrückbare eigenschaften. wo finden wir diese bei der zeit? seit einstein wissen wir, dass es zeit als solche gar nicht gibt, sondern sie quasi in den raum eingewoben ist. dieser einstein war in dieser hinsicht gescheiter als goethe. ich kannte beide. große männer, kein zweifel, aber sie lebten zu kurz… gähn.
verzeiht, ich muss ein kleines nickerchen machen. ich bin es nicht gewohnt, so viel zu reden. fragt doch mal die frau stubenfliege. die wetzt sich schon ganz ungeduldig ihre haarigen beinchen."