Von Fahrrädern und Drumrum


Gleich nach der Arbeit machte ich mich auf den Weg. In der Oranienstraße stiegen mir Schwaden von Cannabisrauch in die Nase. Um mich herum brandender Feierabendverkehr, ein Gewimmel von Menschen, die kreuz und quer durcheinanderliefen. Die vielen Kneipen und Restaurants waren meist zur Straße hin offen, und auf den schmalen Gehsteigen standen dicht an dicht Stühle und Tischchen. Ich wollte zu einem Fahrradladen Richtung Görlitzer Bahnhof. Innerhalb weniger hundert Meter verwandelte sich die Szenerie hin zum typisch Kreuzberger Trubel und Flair. Hier schlug das Herz der autonomen Szene. Ich war vom Hingucken und Luftholen wie berauscht…

Eigentlich wollte ich mir noch kein neues Fahrrad kaufen. Die geplante Fahrradreise nach Kopenhagen Anfang September sollte mit meinem alten Schlachtross erfolgen. Ein letztes Mal. Dazu musste es freilich hergerichtet werden. Seit Wochen stand es marode im Hof. Es hatte mich ein gutes Jahrzehnt im Alltag und auf meinen Reisen begleitet - nun lief seine Zeit ab.
Für den kurzen Weg zur Arbeit und fürs Streunen im Kiez benutzte ich in den letzten Monaten das Faltrad. Dafür reicht es aus.

Dass auch Fahrradschlösser alt werden, musste ich letzten Sonntag auf einer kleinen Fahrradtour erfahren. Das Schloss, das ich fürs Faltrad dabeihatte, ließ sich nicht mehr öffnen, und als ich es nach einigem Probieren doch offen hatte, ließ es sich nicht mehr schließen. Schon blöd, wenn man in Berlin ohne funktionsfähiges Fahrradschloss unterwegs ist. Ja, und dummerweise war Sonntag, so dass ich nicht einfach im Laden ein Schloss nachkaufen konnte. Das war ärgerlich, aber nicht weiter schlimm – ich suchte mir einfach Orte, wo ich mein Bier quasi neben dem Fahrrad trinken konnte. Das Wetter war danach. So z.B. am Gendarmenmarkt. Dort saß ich entspannt neben Spießern und Touristen bei Geigen-Gesäusel im Schatten…
Mein Problem war, das der nächste Tag ein Montag war, und ich zur Arbeit musste. Dazu brauchte ich ein Fahrradschloss. Mein altes Schlachtross kam mir in den Sinn, das von meinem zweiten Schloss abgesichert im Hof stand. Zugegeben, es hätte auch andere Optionen gegeben. Aber die waren anstrengender. Wer sollte das alte, verschlissene Fahrrad aus dem Hof klauen? Und wenn. Rein materiell wäre es kein Verlust. Einen Tag würde ich es unabgeschlossen dort stehen lassen können.

Nach Feierabend kaufte ich mir ein neues Schloss fürs Faltrad. Als ich nachhause kam, bog ich gleich in den Hof ab, um das Schlachtross wieder anzuketten. Doch siehe da – das Fahrrad war weg! Ich schaute doppelt und dreifach nach, weil ich es einfach nicht glauben mochte.
Nach dem ersten Schrecken ging mir alles Mögliche durch den Kopf: Wer macht sowas? Wer braucht sowas? Das Fahrrad war nur sehr bedingt fahrtüchtig. Für die Reise nach Kopenhagen hätte ich es erneut auf Vordermann bringen lassen, obwohl es sich eigentlich nicht mehr lohnte. Mir wurde mal wieder schmerzhaft bewusst, warum wir auch an alten, sogar schrottreifen Dingen hängen, - weil sie eben für uns nach Jahren des Gebrauchs einen ideellen Wert besitzen.
Die Berliner Diebe hatten wieder zugeschlagen! Auf sie ist Verlass! Wer ein altes, untaugliches Gerät zu verschrotten hat, stellt es einfach vor die Tür (oder in den Hof). Den Hinweis „Zum Mitnehmen“ kann man sich sparen.
Ich glaube nicht, dass mein Schlachtross dem Dieb viel Freude machen wird. Es ist so eigen wie ich. Meine Seele steckt in ihm.

Nun, es ist, wie es ist. Ich hätte mir einen besseren Abschied vom alten Schlachtross gewünscht. Aber so verhält es sich mit dem Schicksal: man weiß nicht, wofür das, was passiert, letztlich gut ist.
Eingehüllt von Cannabis-Schwaden betrat ich den Fahrradladen in der Oranienstraße…

NBerlin - 24. Jun. 17, 12:02

Na vielleicht freut sich der neue Besitzer doch über dein altes Fahrrad. Brauchst du ein Neues gibt es in Berlin viele Märkte und Anzeigen bei denen du für 50 Euro ein Neues bekommst, allerdings ohne Garantie dass diese Fahrrad vorher nicht auch geklaut wurde.

bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 12:07

ganz so günstig sind sie auf diesen märkten auch nicht. auf dem nollendorfplatz z.b., wo regelmäßig ein solcher markt stattfindet, war ich erstaunt über die hohen preise. alles unter 100 euro war da wirklich schrott...
aber vielleicht sehe ich dort mein altes schlachtross wieder - haha! das kriege ich dann umsonst, denn ich habe kaufvertrag + rahmennr..

für meine ansprüche brauche ich schon ein hochwertiges und verlässliches fahrrad. das kriegt man am besten in einem laden, wo man (hoffentlich) gut beraten wird.

tut mir leid, aber dem dieb kann ich keine freude wünschen (ich bin nicht jesus).
rosenherz - 24. Jun. 17, 13:38

Och nein, das alte Fahrrad gestohlen! Und auch noch aus dem Innenhof.
In der Stadt stehlen sie Fahrräder, am Land sind es Motorsäge, Motorsense, Hacke und Werkzeug, das aus sogar aus den Schuppen entwendet wird.
Viel Glück beim Kauf eines neuen Fahrrads - und dass es dir lange lange erhalten bleibt, wenn es gut zu dir passt.

bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 13:52

danke.
motorsäge u.ä. hätten sie sicherlich auch aus dem innenhof gestohlen, wenn es ungesichert herumsteht.

das neue fahrrad ist schon gekauft. ich bin bei solchen sachen relativ kurzentschlossen. mal sehen, wie sich unsere partnerschaft entwickelt...
hoffentlich wird sie nicht wieder abrupt durch einen diebstahl beendet.
die fahrradreise nach kopenhagen wird die erste bewährungsprobe.
steppenhund - 24. Jun. 17, 13:42

Den Diebstahl finde ich traurig

Es gibt eine Geschichte über "Fahrraddiebstahl" in der Schweiz. Die erzähle ich aber besser bei unserem nächsten Treffen.
Was mein eigenes Fahrrad angeht, (E-Bike) gibt es nur einige Orte, wo ich es gesichert abstelle, manchmal sogar mit zwei Schlössern, denn eines ist fix verschweißt und blockiert nur das Hinterrad.
Die Orte sind also das Erholungszentrum in Perchtoldsdorf, wo es Fahrradständer gibt, die auch eingesehen werden. Dann steht das Fahrrad auch bei den Heurigen, die wir nach der Sauna besuchen. Und dann gibt es noch den Billa-Laden und den Spar, wo ich es draußen ankette.
Nur einfach versperrt parkt es vor der Konditorei, wo ich durch das Fenster Sichtkontrolle habe.
Das würde aber alles nicht helfen, hier wurden schon Sättel vom Fahrrad gestohlen. Und wenn ein Fahrrad nicht komplett ist, ist am nächsten Tag alles, was nicht niet und nagelfest ist, verschwunden. Manchmal sieht man noch angekette Rahmenskelette. Kein schöner Anblick.
Was ich allerdings nicht mache, obwohl es so sinnvoll wäre: das Fahrrad am Bahnhof zu parken, wo es einige Fahrräder gibt. Da hätte ich Angst, dass es nach spätestens einem halben Jahr Parkpraxis auch verschwinden würde.
Wir leben in einer solchen Welt heute. An sich bin ansonsten nicht so paranoid, doch einer Diebsstahlstatistik kann ich mich nicht verschließen.
-
Es gibt etwas Schönes an dem Posting. Die Erinnerung an die Oranienstrasse wird wach. Daran habe ich sehr schöne und gute Erinnerung wie z.B. ein Abendessen um vier Uhr früh oder auch Sex auf einer Toilette, weil nach Hause zu fahren zu lange gedauert hätte. Ein Wahnsinn, wie jung ich noch mit 50 war :)

bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 14:00

@ steppenhund,
ich las o. gerade den letzten abschnitt deines kommentars vor... sie verschluckte sich und hustet noch jetzt.

sex auf einer toilette hatte ich noch nie (zumindest fällt`s mir nicht mehr ein... zu viele erlebnisse in volltrunkenheit). aber ich bin ja auch erst mitte fünfzig. mal sehen, was da noch geht.
steppenhund - 24. Jun. 17, 14:47

Dann muss ich wohl hinzufügen, dass ich Mitgliede des one-mile-high-Clubs. Ich kann aber as Erfahrung warnen. Eine Flugzeugtoilette ist zwar sauber aber die örtliche Beschränkung ist der Lust ziemlich abträglich. (Und damals war ich noch leichter als heute.)
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 14:57

und da gibt`s sogar einen club?
für solche "one-mile-high-abenteuer" fliege ich zu selten. man muss ja nicht alles ausprobieren.

schon mal sex in der schwerelosigkeit gehabt? das stelle ich mir ziemlich atemberaubend vor.
- oder sex am rande eines vulkankraters,
oder unter einem wasserfall,
oder in einer gletscherhöhle, oder...

am liebsten habe ich sex, ohne die anstrengung darüber nachdenken zu müssen - gähn!
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:03

Der Club ist nirgendwo eingetragen

doch Vielflieger wissen, was damit gemeint ist. Ich selbst habe geschätzt, dass ich rund 60 Mal um den Globus geflogen bin. (Wenn man die Flugstrecken addiert.) Deswegen versuche ich ja heute das Flugzeug zu vermeiden, wenn es nur irgendwie geht.
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:07

Das mit der Schwerelosigkeit sollen (angeblich!) schon Fallschirmspringer durchgeführt haben.
An Vulkankrater hätte ich nie gedacht. Die aberwitzigsten Situationen ergeben sich ohne großes Nachdenken. Man schaut sich an und findet eine plötzliche Übereinstimmung. Und dann kann es zu den unmöglichsten Orten kommen. Dass meine diesbezüglichen Erfahrungen schon lange zurückliegen, schreibe ich meinem greisenhaften Alter zu :)
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:10

warum (das fliegen) vermeiden? du glaubst, du könntest dann mal abstürzen? aber bei jedem flug werden die karten neu gemischt, was du doch als rational denkender mensch wissen müsstest.

du solltest ausserdem bedenken: du könntest bei so vielen umrundungen einen tick jünger werden. einstein oder so. oder liege ich da falsch?
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:14

stimmt, wenn man sich anschaut..., weiß man meistens, dass es nicht passiert.

aber da wir schon beim thema sind. sex in der straßenbahn, das wäre geil. keine ahnung warum.
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:18

Ich bin zwar kein wirklicher Grüner, doch wenn ich die Massen auf den Flughäfen sehe, schaudert es mich. Aber ich bin da wirklich schon ein bisschen zu abgehalftert.
rosenherz - 24. Jun. 17, 15:20

Sex in der Straßenbahn. Ich glaube, damit macht man sich strafbar. Aber vielleicht ist das der Reiz.
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:26

@ steppenhund, es leben mittlerweile siebeneinhalbmilliarden menschen auf der erde und alle wollen fliegen und ficken. logisch ist es da auf den flughäfen voll...
(zum trost: die meisten grünen in deutschland sind schon lange nicht mehr grün, eher schwarz mit dunkelgrünen flecken.)

sex ist per se in der öffentlichkeit strafbar, rosenherz. ich frage mich: warum eigentlich?
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:26

Sex in der Strassenbahn gab es für mich noch nicht. Das Ambiente finde ich auch nicht sehr anregend. Es sei denn, man würde eine Sonderfahrt organisieren, was in Wien möglich wäre. Einmal um den Ring z.B.

Aber Sex im Zug ist eine sehr anregende Geschichte. Da geb es für mich einmal ein wirklich transzendentales Erlebnis im Krasnaja Strjela. Das war vor fast dreissig Jahren. Damals fuhren die Züge am Abend (21:30, 22:30, 23:30 von Leningrad ab und kamen alle in Moskau um Punkt 8 Uhr morgens an. (Ich glaube an einem der Bahnhöfe Tri Vagsal.) Die Züge stoppten mitten auf der Strecke, um den Fahrplan einzuhalten und nicht zu früh anzukommen. - Ich war damals sehr verliebt, die Frau war gleich alt. "Danach stellten wir fest, dass der Zug angehalten war. Im Abteil brannte das blaue Nachtlicht, durchs Fenster konnte man auf ein schneebedecktes Feld oder eine Wiese sehen, - vom Mond bestrahlt. Draußen war es heller als im Abteil. Und sie erzählte mir, wie eine ihrer Tanten unter Stalin ums Leben gekommen war. Durch Beleuchtungund durch die absolute Entspannung, wirkte die Erzählung als Bindeglied zwischen Liebe und Tod und erzeugte in mir das intensive Gefühl: ich lebe, ich lebe wirklich...
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:33

steppenhund, langsam wirst du unglaubwüdig: das ambiente für sex in der straßenbahn sagt dir nicht zu, aber in flugzeugtoiletten.

apropos: man kann auch sex in der öffentlichkeit haben, ohne dass es alle mitkriegen.

ein abteil in der bahn eignet sich auch. gar nicht so übel deine geschichte von der zugfahrt vor dreißig jahren in russland.
hoffentlich schreibst du das alles in das buch, an dem du arbeitest...
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:34

Das Delikt heisst wohl: Erregung öffentlichen Ärgernisses.
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:38

erregung passt.
öffentliches ärgernis wäre erstmal zu definieren.
steppenhund - 24. Jun. 17, 15:39

ad BoMa: nein, das gehört definitiv nicht in mein Buch, zumindest nicht in das, was mir am wichtigsten ist. Einmal hatte ich eine Zusammenfassung der teilweise unglaublichsten Geschichten, aber die fiel einem Computerabsturz ins digitale Nirwana :)

Und ich habe nicht gesagt, dass mir der Sex in Flugzeugtoiletten zusagt. Aber das Erlebnis war sowieso zu bizarr, dass es kaum jemand glauben würde. Ich hatte nämlich einen ziemlich Grant auf die Japanerin, die von einem Anschlussflug verspätet in London zustieg und dann ausgerechnet neben mir sass. Aber die ganze Geschichte kann ich hier nicht erzählen. Ihr Name war 授かり物, was so viel wie Gottesgeschenk bedeutet.
bonanzaMARGOT - 24. Jun. 17, 15:54

okay. japanerinnen sind womöglich klein, zierlich und gelenkig genug für flugzeugtoiletten.
ich gönne dir dieses erlebnis.

wenn diese wunderbaren abenteuer nicht in dein buch passen, vielleicht passen sie dann in meins.

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