Ohne Illusionen
Wenn ich mir vorstelle, welche Krankheiten ich bekommen könnte (Krebs, Schlaganfall, Parkinson, Demenz), gerade in fortschreitendem Alter, könnte ich mir den ganzen Tag vor Angst in die Hose scheißen. Es ist also nicht so schlecht, wenn man als Lebewesen relativ fatalistisch drauf ist: am Besten nicht dran denken – aber auf alles gefasst sein.
Es ist widersinnig, dass wir, wenn wir älter werden, immer stärker am Leben hängen, weil wir bereits so verdammt lange leben. Der Tod rückt faktisch näher, während wir uns seelisch von ihm distanzierten. Das macht es so schwierig, dazu ehrlich Stellung zu beziehen. Viel lieber machen wir uns was vor und wünschen uns so was wie ein ewiges Leben oder ein Leben danach; wir werden anfällig für alle möglichen phantastischen Vorstellungen. Ich versuche es ohne. Weitgehend.
Wenn ich eines Tages abnippel, will ich ohne Illusionen Abschied nehmen.
Was bleibt, ist das Gefühl, dass die Welt und das Dasein sehr mysteriös sind. Nichts genaues weiß man nicht.
Die Zeit verfliegt nur so. Wir Menschen, Lebewesen, Erscheinungen und Dinge sind eingebettet in sie – mehr als das: wir sind unlösbar mit ihr verwoben. Wir sind Zeitwesen. Nichts bleibt, wie es ist. Nichts kommt zurück. Berge werden abgetragen, und Meere verschieben sich, Städte verschwinden und entstehen andernorts neu.
Berlin gedenkt am Wochenende dem Mauerfall vor 25 Jahren. Ein durch die Politik der Großmächte entzweites Volk fand wieder zusammen – durch eine unblutige Revolution der DDR-Bürger. Die Menschen erkämpften sich ihre Freiheit … Nicht alle erhielten die Freiheit, die ihnen vorschwebte, oder die ihnen vorgegaukelt wurde. Für nicht wenige bedeutete der Mauerfall Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg. Die Verlierer wünschten sich schon bald die Mauer zurück. Heute, nach 25 Jahren, ist die friedliche Revolution Geschichte. Man muss die Welt verändern, in der man aktuell lebt. Es macht keinen Sinn, alten Zeiten nachzutrauern. Man darf sich nie zu wohl fühlen und „die da oben“ mal machen lassen. Wir leben im Raubtierkapitalismus. Ausruhen ist nicht. Es werden noch viele Mauern fallen müssen … vor allem in unseren Köpfen.
...
Die S-Bahn befindet sich im Streik. Die Lokführer wollen mehr Geld. Ich kann sie gut verstehen. Wir wollen alle mehr Geld. Das Leben ist teuer und unsere materialistischen Ansprüche sind hoch.
Genaugenommen fiel die Mauer damals, weil die Menschen im Osten den materiellen Verführungen des Kapitalismus erlagen. Sie sahen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Auf der anderen Seite waren der Sozialismus und seine Führungsspitze am Ende.
Gestern Abend unterhielt ich mich mit einigen Ostberlinern in einer Berliner Kneipe, von denen es nicht mehr viele gibt. Sie beklagten die Entwicklung im Kapitalismus, wie ich sie als Wessi kenne, solange ich denken kann. Sie wollten Anteil haben an den schönen Dingen und der Freiheit, aber sie dachten nicht an den Preis – wie es allgemein bei einem Pakt mit dem Teufel der Fall ist. Nur der Tod ist umsonst.
Ein wunderbarer Sonnentag in Berlin - viel zu schön, um über die dunklen Seiten von Mensch und Gesellschaft, über Krankheit und Tod, nachzugrübeln. Noch eine Woche verbringe ich in dieser verrückten Stadt, prall von Leben, prall von Glück aber auch von Verzweiflung, prall von Banalitäten und von Leidenschaft, von Nichtigkeiten und von Kunst … bzw., was man dafür hält.
Wird Zeit, dass ich hinausgehe und etwas Berliner Luft schnuppere.
bonanzaMARGOT
- 07. Nov. 14, 12:19
- boMAs Gedichte und Texte
Dazu fällt mir eine Parallele ein, wie ich einmal [in Indien] jemanden - der es wissen musste, denn er kannte unsere Lebensbedingungen, Maßstäbe, Illusionen - über den viel gerühmten "Westen" zu Indern sagen hörte: "You would never want to live like that."
Das fällt mir immer ein, wenn ich gewahr werde, was für unerfüllbare Erwartungen sich auf den sog. "Westen" richten.
(der sozialismus konnte diese bedürnisse der menschen nicht ausreichend abdecken.)