Dienstag, 13. September 2016

TV-Tipp:

"Donnie Brasco", 20 Uhr 15, Tele 5

Die Vergangenheit stirbt nie


Wieder den Kaffee beim Einkauf vergessen! Wenn ich mir überlege, welche Mengen Kaffee ich früher trank…, vor allem in meiner Altenpflegezeit, als ich (noch) im Tagdienst arbeitete. Zwei Liter kamen bestimmt manchen Tag zusammen. Inzwischen entwickele ich gar nicht mehr einen solchen Kaffeedurst. Aber nach dem Aufstehen eine Tasse trinke ich immer noch gern.
Gewohnheiten ändern sich, ohne dass man es ständig reflektiert. Man wacht auf und muss erkennen, dass man ein anderer als vor zehn oder zwanzig Jahren ist. (Nicht nur wegen dem Kaffee, den man weniger trinkt.)
Das Gedächtnis kann zum Martyrium werden: Alles, was man hinter sich glaubt, taucht in Abständen wieder auf – und das wird im Laufe der Jahre immer mehr. An vieles erinnere ich mich gern, an einiges denke ich mit Wehmut, wirklich scheußliche Sachen blieben (Gott sei Dank) die Ausnahme. Sehr schmerzliche Erinnerungen verdrängt man zudem (verständlicherweise). Martyrium also nicht wegen der negativen Erfahrungen, sondern weil die Menge so ungeheuer groß wurde, dass ich sie gar nicht mehr fassen, begreifen oder ordnen kann. Angestrengt versuche ich einen Weg durch mein eigenes Leben zu finden, und kann nicht glauben, was ich alles entdecke… Die Vergangenheit stirbt niemals. Sie ist die Schatztruhe, in der wir herumwühlen und uns verlieren können. Wie muss es einem Hundertjährigen damit gehen, wenn ich mit meinen 53 Lenzen bereits ins Schleudern komme?! Wie soll man den ganzen Scheiß, den man im Verlaufe eines langen Lebens erlebt, emotional verarbeiten?
Es gibt Menschen, deren Leben wesentlich bewegter als das meine ist. Ich meine, dass ihre Erlebnisdichte viel größer ist. Sie haben mehr soziale Kontakte, und die Ereignisse in ihrem Leben scheinen sich zu überstürzen. Vielleicht leben diese Menschen hauptsächlich in der Gegenwart. Wo aber geht bei ihnen die ganze Vergangenheit hin? Verschwindet sie einfach im Orkus des Vergessens? Verarbeiten sie das alles, indem sie den ganzen Tag über am Handy quatschen??
Viele Menschen haben gar keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Aber ich bin sicher, dass sie diesen Zustand nicht sehr lange durchhalten – zum Wohle der Psychotherapeuten.

Gestern dachte ich an meinen alten Freund A. – was er wohl jetzt macht, und wie es ihm geht.
Ich erzählte O. (wiederholt) die Geschichte unserer Freundschaft. O. und ich unternahmen eine kleine Fahrradtour durch Kreuzberg. Erstmals hatte ich sie seit unserem Kennenlernen aufs Fahrrad gebracht. In einem Biergarten im Viktoriapark pausierten wir, und ich kam auf A. zu sprechen. Es saß sich dort bequem. Alles sehr entspannt. Eine Gruppe junger Italiener palaverte am Nebentisch. Ihr schwarzer Hund streunte zwischen Tischen und Stühlen umher und scharrte nach Ameisen, die er aufleckte…
O. war eine gute Zuhörerin. Ich verlor mich in der Vergangenheit mit A., die vor meinem geistigen Auge wiederauferstand. Wir waren recht unterschiedliche Freunde. Ich vermisse ihn. Ich erzählte O. über unsere Eskapaden bis hin zum Zerwürfnis. Wahrscheinlich musste es so kommen.
Nachdem wir am Nationaldenkmal kurz die Aussicht über Berlin genossen, radelten wir hinunter zum Bergmannkiez. In der Markthalle kauften wir fürs Abendessen ein. Ich spürte, wie langsam die Müdigkeit in meine Knochen kroch. Noch ein Bierstopp beim Yorkschlösschen, und wir machten uns durch den Park am Gleisdreieck auf den Heimweg.

Vergangenheit und Gegenwart durchmischen sich. Wehmut und Trauer sind Gegenwart. Richtig leben kann ich nur, wenn ich meine Vergangenheit mitnehme – auch wenn sie noch so schwer ist.

ein literarisches Tagebuch

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