"In ihren Augen", 20 Uhr 15, ARTE
bonanzaMARGOT
- 25. Sep. 13, 15:09
"…
Es war kurz nach drei Uhr an einem unvergleichlichen Morgen. Der Himmel war so blau und die Sterne waren so weiß wie in der Wüste, und die Nacht war von derart ergreifender Zartheit, dass ich stehen bleiben und darüber staunen musste, dass es so viel Schönheit überhaupt gab. Nicht ein Wedel der staubbedeckten Palmen rührte sich. Nicht ein Laut war zu hören.
Alles, was gut in mir war, jubelte in diesem Augenblick in meinem Herzen, alles, worauf ich meine Hoffnung setzte im tiefen, dunklen Grund meines Wesens. Hier war der ewig sprachlose Friede der Schöpfung, gleichgültig gegen die große Stadt; unter diesen Straßen und um diese Straßen lauerte die Wüste, wartete darauf, dass die Stadt ihr Leben wieder aushauchte, um sie dann wieder zu bedecken mit zeitlosem Sand.
Und schrecklich klar war mir plötzlich, wie kläglich das Schicksal eines einzelnen Menschen ist. Die Wüste war immer dagewesen und würde immer da sein, ein geduldiges, weißes Tier, das auf den Tod der Menschen wartete und das Erlöschen aller Zivilisationen. Angesichts dessen kamen mir die Menschen tapfer und mutig vor, und ich war stolz, einer von ihnen zu sein. Alles Böse in der Welt schien mir jetzt überhaupt nicht mehr böse, sondern unvermeidlich und gut und Teil des endlosen Kampfs gegen die Wüste.
Ich schaute nach Süden, wo die hellsten Sterne leuchteten. Dort lag die Santa-Ana-Wüste. Unter diesen hellen Sternen lag ein Mann wie ich in einer Hütte, und diesen Mann würde die Wüste wahrscheinlich lange vor mir verschlucken; dieser Mann hatte Zeugnis abgelegt von seinem Kampf gegen die unbarmherzige Stille, der er unausweichlich entgegentrieb, und dieses Zeugnis hielt ich hier in meiner Hand. Ob er nun ein Mörder war oder ein Barmann oder Schriftsteller – sein Schicksal war unser aller Schicksal, sein Ende mein Ende; und hier und heute Nacht in dieser Stadt, hinter all den dunklen Fenstern, lagen Millionen wie er und ich, und wir alle ähnelten einander wie sterbende Grashalme. Das Leben war hart genug, aber das Sterben war die schwerste Aufgabe.
..."
zitiert aus
"Ich - Arturo Bandini" von
John Fante