Mittwoch, 3. März 2010

Überlebt

Ich lag auf dem schmalen Zahnarztstuhl. Meine Schultern waren zu breit. Ich legte die rechte Hand in meinen Schoß. "Den Kopf ein klein Wenig zu mir und die Zunge ganz locker", sagte der Dentist. Er hatte bereits beim letzten Termin, als der Abdruck gemacht wurde, Probleme gehabt. "Sie haben einen kleinen Mund", wiederholte er, "dabei eine große Zunge und ausgeprägte Kaumuskeln." Er war sichtlich bemüht, während ich den Mund, soweit es ging, aufriss, mit der Behandlung weiter zu kommen. Die Feinarbeit erledigte schließlich die Zahnarzthelferin, während mir vom langen Mundaufsperren der Kiefer bis hoch zu den Schläfen schmerzte. Die ganze Prozedur war eine selbst auferlegte Folter, die mich zudem noch einen Haufen Geld kostete. Ich röchelte unter dem Absauger, versuchte ruhig durch die Nase zu atmen - dummerweise war ich leicht erkältet ... Das "Krönchen" musste angepasst werden. Es ging um einen Backenzahn, der bereits plombiert, vor ein paar Wochen abgebrochen war. Früher oder später hat es kommen müssen. Nach vier Sitzungen inklusive Zahnreinigung war es schließlich soweit: die Teilkrone wurde aufgesetzt. Der junge Zahnarzt, der die Zahnbehandlung durchführte, war nicht wenig gefordert. Bis Dato wusste ich nicht, dass ich einen solch kleinen Mund hatte ... Ab und zu schloss ich die Augen. Ich musste durchhalten. Ich wollte es endgültig hinter mich bringen. Links von mir sah ich aus den Augenwinkeln das Riesenrad, welches für das nahende Frühlings- und Weinfest bereits aufgebaut worden war. Über mir an der Decke hing ein Bild von einem Palmenstrand, welches wohl zur Beruhigung der Patienten gedacht war. Ein Bild von Picasso hätte mich mehr von der Tortur abgelenkt. Ich kam mir mit meinem weit aufgerissenen Maul in der nach hinten geneigten Position ... ziemlich abstrakt vor - während Zahnarzt und Helferin in meinem Mund irgendwie krampfhaft herum werkelten mit Bohrer und Absauger, irgendwelchem ekelhaften Flüssigkeiten, welche sie reinsprühen mussten, und Materialien mit denen sie meine Backe auspolsterten.
Endlich nach einer guten Stunde saß die Krone auf dem Zahn. Ich wollte bereits aufatmen. Doch der junge Dentist war Perfektionist ...
Da ich die Schmerzen nicht mehr ausgehalten hatte, musste ich mitten in der Behandlung gespritzt werden. Meine halbe Zunge sowie meine linke Backe waren völlig taub. Ich sollte nun noch ein dutzend Mal auf irgendwelche hauchdünne Blättchen beißen und dem Zahnarzt sagen, wie es sich für mich anfühlte. Ich fühlte den erneuerten Zahn etwas zu hoch beim Aufbeißen - wahrscheinlich hätte er noch ewig an der Krone und den umgebenden Zähnen herum geschliffen und poliert , wenn ich ihm nicht zu Erkennen gegeben hätte, dass nun alles ganz okay sei ...
Schließlich reichte er mir einen Handspiegel, damit ich stolz das Ergebnis seiner Arbeit sehen konnte. Also blickte ich aus einer sehr unvorteilhaften Perspektive auf meine Fresse sowie in den zu kleinen Mund mit der Porzellankrone links unten. Mann, war ich häßlich! Ich nickte dem Dentisten anerkennend zu und brummte: "Hmmm ..."
Endlich schwang ich mich von der schmalen Pritsche, stellte mich nach ca. 90 Minuten heftig gefühlter Ausgeliefertheit und Qualen auf die Füße, drückte zum Abschied die Hand des Dentisten und entschuldigte mich für meinen kleinen Mund.
Auch bei der Zahnarzthelferin bedankte ich mich. Es war früher Vormittag, als ich die Praxis verließ. Ich schwankte zwischen Erleichterung und Irritation. Life goes on. Mit der halbtauben Fresse fühlte ich mich unter meinen Mitmenschen recht seltsam. Gleichzeitig hatte ich wie selten das Gefühl, zu ihnen zu gehören ...

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