boMAs Gedichte und Texte
In den letzten Tagen ging ich früh zu Bett, noch früher als sonst wegen einer beschissenen Verkühlung. Ich positionierte die ganzen Erkältungsmittelchen auf dem Nachtschrank mitsamt den Büchern, die ich gerade lese: ein Gedichtband von Bukowski „Alle reden zu viel“ und Carl Weissner „Stories, bei denen man auf die Knie geht und vor Glück in die Fußmatte beißt“. Na ja.
Jedenfalls war Carl Weissner der beste Bukowski-Übersetzer ins Deutsche*, drum dachte ich: mal gucken, was der selbst so schrieb - ist aber mehr was für Leute, die gern in Eingeweiden wühlen.
Statt zu lesen, ließ ich mich von Dokus der Mediathek eines Fernsehsenders berieseln, die ich als App auf dem Handy hatte. Na ja.
Ich kuschelte mich ins Kopfkissen und hörte zu: über die Anfänge des Universums die Menschwerdung und die ganzen Rätsel drum herum.
Langsam dämmerte ich weg inmitten der Galaxien, eingebettet in die Dunkle Materie, dem Geheimnis des Daseins - gleichermaßen nah und entfernt. Ich übergab mich der Nacht in meinem Kopf, dem ganz eigenen Universum in mir, welches mich um den Verstand bringt, sowie meinen Verstand erst ausmacht.
Ich kam zwischendurch zu mir, griff mir das Nasenspray oder rieb mir die Schläfen mit Minzöl ein. Währenddessen hörte O. Musik im Wohnzimmer. Schräge Töne erreichten mein Ohr, Klezmer Musik. Na ja, nicht unbedingt mein Ding.
Ich schloss wieder die Augen, auf eine Erkenntnis wartend wie auf Stuhlgang, der bereits im Kommen ist - man glaubt zu spüren, dass jeden Moment der Zug abgeht und die Erleichterung eintritt…
Aber ich reichte den Staffelstab an die Dunkelheit weiter und verabschiedete mich mit einem knallenden Furz von der Realität.
*was entscheidend zur Bekanntheit Bukowskis in Deutschland beitrug
Samenzelle dringt in Eizelle ein und verschmilzt mit ihr. Bei jedem, egal, ob er Adolf, Donald oder Angela heißt, fing es damit an. Ziemlich harmlos aus Petrischalen Sicht. In der Folge nistet sich die Eizelle in der Gebärmutter ein, teilt sich zig Millionen Mal, und ans Licht kommt nach neun Monaten (o Wunder!) ein winziger Mensch.
Eine Geburt ist oft sehr qualvoll für Mutter und Kind, aber nur die Mutter kann sich dran erinnern. Vielleicht auch gut so. Wahrscheinlich ist es für das Kind noch viel schlimmer, weil es überhaupt nicht weiß, wie ihm passiert.
Spaßeshalber ersinne ich ein Interview mit einem Neugeborenen:
„Willkommen auf der Welt, Mister Trump! Wie fühlen Sie sich?“
„Wie neugeboren, würde ich sagen, haha!“
„Freut uns sehr, dass Sie alles gut überstanden haben.“
„Danke! Ich kann`s kaum abwarten, endlich loszulegen. Schließlich will ich nichts Geringeres als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden.“
„Sind Sie da nicht etwas… äh… voreilig?“
„Keine Bohne! Ich kann`s Ihnen gleich beweisen – you are fired!!!!!“
Wie Baby-Trump es sagte: nach der Geburt geht`s erst richtig los: wir wachsen und gewinnen ziemlich an Gewicht. Ob Charakter und Intelligenz bereits vorgegeben sind, oder sich erst formen, darüber lässt sich streiten. Ich bin der Meinung, dass alles in gewisser Weise schon bei Zeugung und Geburt vorhanden war, auch wenn man sich`s nicht vorstellen kann. Wie beim Urknall. Peu à peu differenziert und organisiert sich alles. Je nach den Einflüssen und der Umgebung fällt das Ergebnis zwar unterschiedlich aus, aber die Grundanlagen sind naturgesetzmäßig bei jedem Menschen vorgegeben. Nicht nur bei jedem einzelnen Menschen, sondern im Grunde bei der gesamten Menschheit. Drum glaube ich auch nicht, dass die Erde noch zu retten ist.
Inzwischen versammeln sich Siebeneinhalbmilliarden Menschen auf dem Erdball. Die Menschheit wächst ins Uferlose. Neue Machtmenschen werden geboren – neue Ausbeuter, Schlächter, Kriegsherren und Fanatiker. Alles entfernt sich im Universum immer weiter voneinander, aber hier auf der Erde wird`s immer enger.
Ganz ehrlich: Wenn ich gewusst hätte, was mich auf der Welt erwartet, dann hätte ich auf dem Absatz Kehrt gemacht. Vielleicht ahnte ich etwas, denn eine leichte Geburt war ich nach den Erzählungen meiner Mutter nicht.
Ich stelle mir ein Interview mit mir nach der Entbindung vor:
„Willkommen auf der Welt, Herr Boma! Wie fühlen Sie sich?“
„Wie Sau, würde ich sagen.“
„Das klingt aber gar nicht gut.“
„Fuck! Genauso ist es! Wo ist denn hier der Zapfhahn?“
„Herr Boma, was lief denn schief, dass Sie derart… äh… miesgelaunt sind?“
„Sie fragen, was schieflief!?! Schauen Sie sich doch mal um, Sie Laffe! Sehen Sie hier irgendwas Erfreuliches?“
„Warten Sie`s doch erstmal ab…“
„Bullshit! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, was hier los ist!“
„Was meinen Sie?“
„Na, diesen Saftladen!“
Im Großen und Ganzen änderte sich meine Ansicht über die Welt bis heute nicht. Gegen seine Natur kommt keiner an. Weder Trump noch ich. Jeder macht sein Ding... Der Blues des Lebens: Vom Planschbecken zum Ozean… Wer hätte das gedacht.
Ich wartete auf sie seit letztem Spätjahr. Als O. vor ein paar Tagen damit anfing, wusste ich, dass meine Zeit gekommen war. Nun husten und niesen wir im Duett. O. sollte das Gröbste bereits hinter sich haben, wenn sie nicht in die Verlängerung geht; und ich steuere auf den Zenit zu.
Als männliches Wesen leide ich selbstverständlich sehr ausgeprägt – schon deswegen, weil ich niemanden in seinem stereotypen Denken enttäuschen will. Ich fühle mich wie ein leibhaftiges Schleimmonster. Der Papierkorb ist gefüllt mit Tempotaschentüchern. Zur Linderung stehen die üblichen Mittelchen griffbereit. Die ersten Tage, bis sich der Infekt manifestiert hat, finde ich persönlich am schlimmsten. Da ich keine Mandeln mehr habe, kriege ich meist das ganze Paket: es beginnt mit Schnupfen und befällt dann Rachen und Bronchien. Ich feuere mein Immunsystem an, als wäre ich ein Trainer: „Jungs, wir liegen zurück, aber das Wort Niederlage kennen wir nicht! Ich weiß, dass ihr euren Job gut macht! Weiter so! Nicht nachlassen!“
Fresszellen, Killerzellen und T-Zellen antworten unisono: „Jawohl Trainer, mache dir keine Sorgen. Ist bloß `ne beschissene Erkältung. Die hat null Chance. Nimm dir einen prima Lesestoff vom Bücherregal und lege dich lang. In zwei-drei Tagen ist der Bär geschält.“
Die Jungs haben recht. Aber ich will mich nicht den ganzen Tag im Bett rumfläzen und Bukowski lesen. Bin jetzt schon den dritten Tag zuhause. Langsam fällt mir die Decke auf den Kopf. Gut, dass sich mein Arbeitsbeginn verzögerte. Ich kann mich in Ruhe auskurieren. Mit Mitte Fünfzig geht man besser kein Risiko mehr ein. Vor zwei Jahren verschleppte ich eine Erkältung, die ich aus Gran Canaria mitgebracht hatte. Wochenlang ärgerte ich mich mit einer Bronchitis herum. Man wird eben nicht jünger. Wenn die Dinge älter werden, benötigen sie ein Mehr an Pflege. Ich fühle mich ziemlich pflegebedürftig… mit meiner Matschbirne. Sollte mal Fieber messen. Immerhin bin ich solange von meinen depressiven Verstimmungen geheilt. Die physische Erkrankung hat der seelischen kurzfristig den Rang abgelaufen. Husten Sie sich die Depression von der Seele! Rotzen Sie sich ihr Unglücklich Sein aus dem Leib! Haaaaatschiiiiiii!!!
Ich lege mich besser hin.
In den Winterbäumen hängen alte Gesichter. Dutzende. Die Hausfassade, ein Teil eines vieläugigen Leviathans, der sich durch die labyrinthische Stadt windet. Menschen erscheinen in den Fenstern, rauchen Zigaretten und lassen die Kippen hinuntersegeln. Auf dem Trottoir liegen sie zu Dutzenden wie nackte Leichen. Zwischen Splitt und Spucke.
Ich sterbe auf meine Weise. In einer zerbeulten, leeren Lachkonserve. Lange schon kaputtgelacht.
Aber man weiß nie, was noch kommt.
O. ist im Museum. Ich mag die Musealisierung nicht. Also blieb ich zuhause. Ich haue lieber ein paar Worte raus. Ich habe es nie geschafft, in einem Museum eine echte Verbindung zu den Exponaten herzustellen. Ich sah lediglich eine Sammlung von Schrumpfköpfen vor mir. Egal, um was es ging – moderne Kunst oder Altertum… Heutzutage wird alles Mögliche zur Schau gestellt. Bestimmt gibt`s auch Sehenswertes. Das will ich nicht abstreiten. Das Sexmuseum in Amsterdam? Oder Sex im Museum. Wer`s nötig hat. Es gibt genug Museen… und Kirchen. Ja, Kirchen mag ich auch nicht. Die sind per se museal.
Ich vertraue meinem Instinkt. Ich muss nicht lange drüber nachdenken über das, was ich mag oder nicht... Mir geht es wie den Hunden, die bellen, wenn sie einen Briefträger sehen. Nein, ich belle nicht bei Briefträgern. Sollte nur ein Beispiel sein. Natürlich hätte ich einmal Fünfe grade sein lassen und O. begleiten können. In welches Museum ging sie eigentlich? Sie sprach von einer interessanten Foto-Ausstellung. Mein Gott, was ist nur mit mir los, frage ich mich, dass mich so furchtbar wenig hinterm Ofen vor lockt? Möglicherweise gibt`s nur einen Schrumpfkopf – nämlich den auf meinem Hals.
O. ist ziemlich mies dran mit mir. Die einzigen Orte, zu denen sie mich mitschleifen kann, sind Kneipen und Biergärten. Oder an einen schönen Strand, wo ich`s nicht weit bis zu einem Ort habe, wo ich ein gutes kaltes Bier bekomme. Oder in einen Wald, in dem es neben Wildschweinen auch genügend Gastronomie gibt. Ich mag Wald, aber ehrlich gesagt kommt der mir auch immer musealer vor. Wie eigentlich alles. Ist das etwa nicht so? Und die besten Plätze sind meist schon reserviert. An den Stränden, in den Wäldern, auf den Bergspitzen…(sogar in den Kneipen). Die ganze Erde ist ein einziges großes Museum. (Voller Schrumpfköpfe.)
Warum Kneipen und Biergärten? Weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich bequem bin. Ich brauche nicht viel mehr. Mit welchen Intentionen die Menschen in Museen gehen, ist mir echt ein Rätsel – wie so vieles.
Heute ist wirklich nichts los mit mir. Kein rechter Antrieb. Der alltägliche stupide Wahnsinn in den Nachrichten. Zum Einschlafen.
Also stöbere ich ein wenig durch meine Texte. Während O. den Boden wischt. Und bleibe bei einem Gedicht aus dem Jahre 2002 hängen. Holla, die Waldfee! denke ich.
Viel Spaß beim Lesen.
Kontakt
Guten Morgen liebe Menschheit
ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht
die schlechte zuerst
im Jahre 2019 schlägt ein Meteorit auf der
Erde ein und vernichtet alles Leben
außer den Insekten und Krebsen
und nun die gute Nachricht
bis dahin dürft ihr genauso weitermachen
wie bisher
und ich mit euch
feiere die Illusion des Lebens
auf einer Irrsinns Party , auf einer Weltuntergangs Party
sie hat schon angefangen
das Bier ist kalt gestellt, und die Toiletten sind frisch
geputzt
willkommen liebe Gäste
macht`s euch gemütlich, Kartoffelchips gibt es an
der Bar auf der Mauer von China
Scampi bekommt ihr auf Tahiti bei meinem lieben Freund
Marlow
der Schampus steht allerorts auf Eis
alles andere entnehmt bitte beiliegendem Prospekt
ich bin heute mundfaul
ach ja, vergesst bitte nicht neue Klopapierrollen
aufzuhängen, wenn ihr das letzte Fitzelchen
verbraucht habt
und benutzt ab und zu die Klobürste
ist das ein Wahnsinn zu wissen, an welchem Tag ich
abtreten werde?!
seitdem halte ich mich am Bier
ich schlafe unruhig
habe es aufgegeben die Tage zu zählen, die mir bleiben
mein Leben ist wie ein Eisberg, der vor
Australiens Küste schmilzt
werde ich es hinkriegen zu sagen
willkommen Tod ?
warum Krebs?
warum ein doofer Meteorit?
warum dieser Auffahrunfall im Nebel?
und wenn alles Bedeutung hat und wie ein überirdisches
Puzzle seltsam zusammengesetzt ist ?
willkommen liebe Freunde
der Tod macht den Barkeeper, und er mixt die besten
Cocktails
er jongliert mit ihnen, und er hat einen Gesellen
mit dem er zusammen seine Show abliefert
diese Vorstellung dürft ihr nicht verpassen
der Tod ist ein echter Magier
seine Cocktails sind wirklich unschlagbar
liebe Menschheit
7 Milliarden mal „ich“
ich spüre eure Gesichter in den Trambahnen
ich sehe euch auf den Plätzen neben der
Taubenscheiße sitzen
ich sehe euch arm und reich, verzweifelt und glücklich
nebeneinander
jeder einzelne ist ein Universum für sich
und sucht nach dem Kontakt
dem Funkenschlag der Liebe
oder dem Strom der Solidarität
here we are
ich gebe euch meine Seele, bevor ich sterbe
nicht aus Selbstlosigkeit
und nun möchte ich weinen
lasst mich in Ruhe
„noch ein Bier bitte“
„Jever oder Karlsberg?“
„egal“
„sieht nach einem Gewitter aus“
„ja, es wird bald regnen“
„der Sommerregen ist schön, wie er auf die Markisen
prasselt in Paris, Madrid und London“
„den schönsten Regen erlebte ich in Lisboa“
„ist es wahr?“
„ich glaube schon“
„darf ich deine Hand halten?“
„warum sind wir so allein?“
„ja“
„dann ist es vorbei? mit allem?“
„es fängt bald an zu regnen“
„lasse uns Hand in Hand im Regen stehen“
„weißt du, dass ich glücklich bin?“
…
(03.08.2002)
Im nächsten Leben bitte als Schildkröte. Der Tag nimmt mich in seine weichen Kissen, in denen ich vor mich hinträume. Wenn O. morgens zur Uni eilt, erhebe ich mich schwerfällig vom Bett – was eigentlich nur einen Positionswechsel darstellt: ich erweitere meinen Bewegungsradius auf die fünfzig Quadratmeter der Wohnung. Die meiste Zeit verbringe ich allerdings sitzend am Schreibtisch. Links und rechts die Schulordner mit den Unterlagen wie feindliche Heere vor meinen Stadtmauern.
Das erste, was ich heute Morgen sehe, als ich aus dem Fenster schaue, ist ein Mann, der mit dem Kopf im Müllcontainer steckt. Als ich zehn Minuten später aus dem Bad zurückkomme, kramt er immer noch, voll konzentriert. Ich blicke nur flüchtig hin. Er könnte mich sehen, die Müllcontainer stehen im Hof nur wenige Meter vom Küchenfenster. Schon häufiger fragte ich mich, ob ich das auch könnte, im Hausmüll anderer nach irgendwie verwertbaren Sachen wühlen. Wenn einem nicht viel anderes übrigbleibt – wer weiß. Also besser jetzt meinen Kopf in die Unterlagen zur Tumordokumentation stecken. Mache ich aber nicht. Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank, lese die Internetnachrichten und höre Musik von unserem Lieblingsbluessender. Allerlei geht mir durch den Kopf. Unter anderem überlege ich mir, wo ich im Falle meines Todes eigentlich begraben werden will. Nicht, dass es mir furchtbar wichtig wäre. Tot ist tot. Da ist es mir eigentlich wurscht, wo ich liege. Oder?
Jedenfalls besuchte ich noch keinen der vielen Berliner Friedhöfe in den zwei Jahren, seit ich hier lebe. Das liegt auch daran, dass O. solche Orte als Ausflugsziele ablehnt. Allgemein meidet sie das Thema Tod. Sie steckt so voller Leben, dass sie alles, was mit Tod und Vergänglichkeit zu tun hat, weit von sich schiebt. So erklärt sich auch, dass sie immer wieder aufmunternd zu mir sagt: „Du bist doch gar nicht alt!“ Denn ich lasse mich gern gehen und betone dabei mein Alter. Schließlich ist sie um einiges jünger.
Ich googelte also (u.a.) heute Vormittag nach den Berliner Friedhöfen. Nur mal so zur Orientierung.
Man könnte sagen, ich bin vom Typ „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Doch diese Strategie lässt sich nicht ein Leben lang durchhalten. Wenn ich dann was weiß, kann ich es nur noch schwer ignorieren. Ich dachte immer, allen Menschen ginge es so oder ähnlich. (Wir schließen zu gern von uns auf andere.) Sehr wahrscheinlich ist es aber so, dass meine Mitmenschen unterschiedliche Strategien im Umgang mit ihrer Wahrnehmung, ihrem Wissen und ihrem Leben benutzen. Häufig treffe ich auf den Typen, der das, was er weiß, je nach Lebenslage ignoriert oder sich die Fakten passend schustert. Keine so üble Vorgehensweise in einer Welt, die fürs Überleben und Weiterkommen von uns eine große Anpassungsfähigkeit verlangt. Ich dagegen hänge verzweifelt in dem Spinnennetz der Fakten und sich daraus ergebenden Fragen fest. Ich glaube tatsächlich an sowas wie die Wahrheit – auch wenn sie alles andere als gut aussieht. Genau genommen ist die Wahrheit die Spinne, die mich einwickelt und langsam auffrisst. Der Pragmatiker und Opportunist schüttelt angesichts meiner Sturheit nur den Kopf: „Siehst du nicht, was du dir damit antust? Du manövrierst dich hoffnungslos ins Aus. Das Leben ist kein Spiel, aus dem man einfach aussteigen kann. Du akzeptierst die Regeln oder verlierst. Gefällst du dir als Loser?“
Der Pragmatiker und Opportunist, ich werde ihn der Kürze wegen Realo nennen, hat immer Recht. Er beherrscht das Spiel und ist der geborene Gewinner. Er beruft sich auf das Recht des Stärkeren. Was soll man ihm entgegnen? Ich stemme mich aus purem Trotz gegen seine Dogmatik: „Kann schon sein“, sage ich, „du hast verdammt recht – aber das Leben ist kein scheiß Spiel! Ich will nicht so sein wie du…, wie alle! Eure Welt kotzt mich an!“
Der Realo grinst breit, aber in seinen Augen erkenne ich aufrichtige Traurigkeit: „Schade. Du bist kein übler Typ. Ich mag dich. Es ist doch gar nicht so schwer, wie du denkst. Die Welt wartet auf dich. Du kannst noch so viel erleben! Schmeiße nicht alles weg! Verwende lieber deine Energie, um wirklich etwas zu bewegen, und renne nicht gegen Windmühlen an.“
Ich spüre, dass er mich argumentativ an die Wand gefahren hat. Was soll ich erwidern? In meinem Kopf nur Nebel. Mein Standpunkt löst sich in Wohlgefallen auf. Ich schnappe mir ein Bier aus dem Kühlschrank, öffne die Flasche und feuere den Kronenkorken wütend in den Müll.
„Lass mich doch in Ruhe!“ rufe ich in übler Trinklaune, „was wollt ihr eigentlich von mir?!? Darf ich nicht einfach sein, wie ich bin?!“
In meinem Kopf hallt der Satz nach: Darf ich nicht einfach sein, wie ich bin?! - Darf ich nicht einfach sein, wie ich bin? - Darf ich nicht einfach sein, wie ich bin?!… Der Gerstensaft zwitschert aus dem Flaschenhals in meine Kehle. In der Welt gibt es keinen Platz für Träumer, nur für Realos und ihre dunklen Gesellen. So ist es nun mal. Entweder man verkauft seine Seele dem Teufel oder versäuft sie.
Das Leben ist eine Kette. Ein Glied fügt sich zum anderen. Wir schlucken es. Den billigen und den teuren Fusel. Wir kultivieren selbst die verkorkstesten Geschichten. Die Gier treibt uns in den Wahnsinn. Langsam aber sicher. Der Teufel ist die Putzfrau unserer verlorenen Seelen. Jeder einzelne trägt den Mist aller in sich. Wir bezahlen den Gefängniswärter dafür, dass er die Türen auch gut abschließt. Die Freiheit wäre unser größter Albtraum. Eine perfekte Inszenierung das Ganze.
Ich habe das Herz eines bellenden, geifernden Hundes mit einem toten Schwanz. Die Farben des Tages verhöhnen mich. Und wieder macht es Klick – das nächste Kettenglied dockte an. Ein Sonntag in Berlin. Ich überlasse mich dem Blues im Glas. Nur einige Tausend Kilometer unter meinen Füßen schwitzt der metallische Erdkern mit unendlicher Hitze…
Stoisch hänge ich die Wäsche auf und blicke dabei in einen Ausschnitt blauen Himmels über der Stadt. Wir wissen einfach viel zu viel, denke ich und ärgere mich schließlich (wie jedes Mal) über die vielen fummeligen Unterwäschestücke meiner Partnerin.
Auf einem endlosen Flur gehe ich die Türen ab. „War schon da… gab`s bereits… alles schon gehabt… nichts Neues… alter Hut… oje…“, konstatiere ich für mich, während ich die Türen nacheinander öffne und kurz in jeden Raum hineinblicke.
„Es gibt nichts anderes als das Heute und seine ewige Wiederholung: Jeden Tag gibt es Tote und Verletzte, Trauernde und Triumphierende, Aufstände und Familiäres, Regierungserklärungen und Operninszenierungen. Jeden Tag das gleiche, das doch nie dasselbe ist.“ Na klar, denke ich, da hat Bazon Brock recht. Eine Binsenweisheit. Es läuft immer dieselbe Platte. Und trotzdem. Heute ist nicht gestern. Ich merke es an mir. Die Unschuld ging längst verloren. Gestern schneite es wunderbar, und heute mischt sich der schmelzende Schnee mit dem Straßendreck. Unser Kerker hat einen Himmel. Wir leben unter einer Cellophan Folie. Unwillkürlich denke ich an den Geruch eines schmutzigen Tafelschwamms…
Hinter jeder Tür die gleichen Augenpaare, alte und junge, voller Leben, voller Gier… oder ausgebrannt und matt. Ich gehe gefühllos vorbei. Wo ist der Ort, an dem ich frei atmen kann? Der Moloch Stadt hält mich in seinen Fängen. Die Seelen werden grau wie die Straßen. Sie klammern sich an den Konsummüll, der oben schwimmt. Die ganze Welt schmilzt zusammen wie ein Schneehaufen am Straßenrand.
Manche Türen öffne ich schon gar nicht mehr. Wozu? Es kommt mir alles furchtbar sinnlos vor. In meiner Brust schlägt ein totes Herz. Ich suche einen Rest Farbe, einen Lichtschimmer. Wie wurde ich zu dem, was ich bin? Der Tunnel ist lang und verschlungen, und ich stehe mittendrin mit einer Taschenlampe.
Orientierungslos und ängstlich haste ich mal vor und mal zurück. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Es macht überhaupt keinen Unterschied. Die Türen sind nur noch Staffage, das Universum wüst und leer, mein Leben eine Fata Morgana.
Völlig unverhofft werde ich angesprochen „Du bist nicht allein“. Ich erschrecke keinen Deut. Denn ich höre meine eigene Stimme. Das bin also ich. Ganz schön witzig.