Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache

Sonntag, 28. September 2014

Tag 0


Die Zeichen des nahenden Todes waren unübersehbar: Schnappatmung, und die Gliedmaßen der alten Frau waren bereits marmoriert. Ich wechselte die Windel und lagerte sie um. Eine Stunde vor meinem Feierabend kam ich dazu, als sie das Leben aushauchte. Ich legte ihre Hände auf dem Bauch zusammen und strich ihr über die Haare. Ihre Augen waren geschlossen. Mit einem feuchten Waschlappen wischte ich ihren Mund ab. Etwas schaumiger Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel.
Nun hatte ich in meiner letzten Nacht noch meinen letzten Sterbefall. Für die Frau empfand ich es als Erlösung. Seit einem Schlaganfall vor zwei Wochen war sie bettlägerig und lehnte das Trinken und Essen ab. Die Tochter (und Betreuerin) wollte sie nicht ins Krankenhaus verlegen lassen. Es wäre nicht im Sinne ihrer Mutter, sagte sie, sie solle in ihrer gewohnten Umgebung sterben …
Ich rief Tochter und Bereitschaftsarzt an.
Eine halbe Stunde später liefen meine Kollegen vom Frühdienst ein. Ich übergab meinen Spindschlüssel. Es blieb nicht viel zu sagen - ein Händedruck, ein Schulterklopfen, eine klamme Umarmung, ein verlegenes Lächeln ...
Eine Grußkarte und ein paar Süßigkeiten für Bewohner und Arbeitskollegen drapierte ich auf dem Tisch der Pausenecke. Beinahe kam es mir vor, als würde ich mich davonstehlen.
Die Morgenluft war frisch. Ich trat hinaus ins Zwielicht.

Freitag, 26. September 2014

Was ist Zeit?


Die Zeit ist deshalb so schwer zu begreifen, weil wir vollkommen in ihr aufgelöst sind. Die Frage müsste lauten: was ist eigentlich nicht Zeit? Sie stellt keine zusätzliche Dimension dar, sie ist die Dimension! Nichts existiert ohne Zeit.
Interessiert verfolgte ich gestern Abend auf 3sat eine Diskussion zum Thema "Was ist Zeit?". Aus verschiedenen Wissenschaftsrichtungen wurden Aspekte der Zeit beleuchtet. Im Großen und Ganzen erfuhr ich nichts Neues, aber ich wurde zu eigenen Gedanken inspiriert. Am Ende der Sendung, bevor ich einschlief, notierte ich auf einen Zettel: „Zeit ist wie Liebe“. Die Liebe ist ebenso wesentlich für das Dasein und unerklärlich. Intuitiv glaubte ich viele Parallelen zwischen der Liebe und der Zeit zu sehen. Sicher ist, dass sie in einer poetischen Beziehung zueinander stehen – jedenfalls für mein Empfinden.

Meine letzten zwei Nachtwachen liegen vor mir. Vom Gefühl her ist es ähnlich wie auf meinen Fahrradreisen, bevor ich das Meer erreiche. Ich sehe es noch nicht, aber ich weiß, dass es nur noch wenige Kilometer sind. Gerade diese letzten Kilometer kommen mir manchmal ewig vor. Und plötzlich liegt das Meer vor mir! Ich blicke über das endlose Wasser zum Horizont – erschöpft aber glücklich, als ob sich meine Seele langsam mit warmem Sirup füllt. Die Anspannung und der Stress der Reise fallen von mir ab.
Ich lasse die Zeit des Altenheims hinter mir. Auch wenn es vielleicht kein Abschied für immer von der Altenpflege bedeutet - jedenfalls ist es in meinem Leben ein wichtiger Zeitpunkt: ein Ende und zugleich ein Anfang, ein Wendepunkt, den ich selbst festlegte … Irgendwie werde ich die Kurve kratzen müssen. Wer weiß, was die Zeit bringt.

Samstag, 20. September 2014

Gedanken am Rande der Nacht


Letzte Nacht trat ich des öfteren auf die Terrasse des Altenheims und blickte in den Sternenhimmel. Die Mondsichel stand scharf im Osten. Ich schaute in die unendliche Anzahl leuchtender Punkte über mir. Die Vorstellung von der Größe des Universums überwältigte mich. Mein Verstand konnte es nicht fassen. Obwohl das Gefühl von der Winzigkeit des Menschen gegenüber der Größe des Weltalls bereits tausendmal beschrieben wurde, bleibt es ein Faszinosum – ich musste immer wieder hoch in den Nachthimmel schauen, der die Unbegreiflichkeit der Welt und des Lebens widerspiegelt. Vielleicht ist der ganze Raum auf eine merkwürdige Art gefaltet, dachte ich, so dass die riesigen Entfernungen nur eine Illusion unserer Sichtweise auf die Welt bedeuten …
Im Aufenthaltsraum flimmerte der Fernseher. Unwillkürlich lauschte ich nach verdächtigen Geräuschen, ob es irgendwo im Haus polterte oder ein Bewohner schrie. Manchmal schreckte ich durch den merkwürdigen Laut eines Tieres auf, den ich aber im ersten Moment für das Rufen eines Bewohners hielt. Das Dorf schlummerte sanft in der Dunkelheit, umgeben von bewaldeten Berghängen. Ein paar Nachtschwärmer störten die Ruhe ...
Die Sterne des Nachthimmels erschienen mir wie aus einer anderen Welt. Vielleicht wundern sich die Sterne über uns ebenso wie wir uns über sie.

Donnerstag, 18. September 2014

Nächtlicher Besuch


Die Tochter einer Bewohnerin ruft mich im Nachtdienst an. Sie fragt, warum ihre Mutter nicht ins Krankenhaus kam. Ich berichte ihr, was ich über den Vorfall weiß. Es ist meine erste Nacht. Vor drei Tagen stürzte die neunzigjährige Frau. Ein Schlaganfall war nicht auszuschließen. In Absprache mit den anderen Angehörigen – die alte Frau hat noch eine Tochter, welche die Betreuerin ist, und auch einen Sohn - ; also in Absprache mit diesen Angehörigen und dem Hausarzt wurde von einer Krankenhauseinweisung abgesehen. Ihre Mutter solle nicht noch gequält werden und in ihrer vertrauten Umgebung sterben, sagte die Tochter, ein Patiententestament würde bei unserem Heimleiter vorliegen. Nun bekomme ich diesen Anruf von ihrer Schwester, die Ärztin ist, und nach ihrer Mutter fragt, die es ungeheuerlich findet, dass ihre Mutter nicht ins Krankenhaus kam. Mir ist schnell klar, dass die Kommunikation zwischen den Schwestern schwer gestört sein muss. Ich kenne sie beide nicht. Ich sage, dass ihre Mutter schlafe, und dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe. Aus meiner Sicht gäbe es momentan keinen Handlungsbedarf.
Wenig später klingelt das Telefon, und ich habe die andere Tochter am Apparat. „Auf keinen Fall ins Krankenhaus!“ sagt sie mir. Ich höre mir geduldig ihre aufgeregten Ausführungen zu ihrer Schwester an, die sich jahrelang nicht kümmerte und sich jetzt plötzlich einmische. Ich bekunde mein Verständnis und beruhige sie, dass ich ihre Mutter nicht einfach ins Krankenhaus schicken werde. „Sie können mich jederzeit anrufen“, sagt sie.
Die alte Frau schläft indes wie ein Stein. Eine Kochsalzlösung läuft ein. Die Geschichte beschäftigt mich, aber nebenbei habe ich über vierzig andere Bewohner nächtlich zu betreuen und pflegen.
Es ist Mitternacht, als die Türglocke geht. Erstere Tochter und ihr Mann wollen die Mutter sehen. Ich führe sie zum Zimmer. „Es ist schwierig, hierher zu kommen“, sagen sie. „Ja“, meine ich, „das Altenheim liegt etwas abgelegen.“ Zu Dritt stehen wir am Bett der alten Frau. Die Tochter erwähnt wiederholt, dass sie und ihr Mann Ärzte seien. Ich bitte sie, ihre Mutter schlafen zu lassen. Der Mann hat einen Fotoapparat dabei. Ich rufe die andere Tochter an und informiere sie über den nächtlichen Krankenbesuch. „Wollen sie mit ihrer Schwester sprechen?“ Nach wenigen knappen Sätzen reicht sie mir das Telefon zurück.
Ich bin ziemlich genervt – lasse mir aber (hoffentlich) nichts anmerken. Ein paar Klingeln von Bewohnern lenken mich ab. Schließlich verlässt das alte Ärzteehepaar die Szene. Sie sehen ein, dass jetzt nichts zu machen ist. Ich wünsche ihnen einen guten Nachhauseweg.

Die Nacht geht in die zweite Runde. Business as usual: eine Bewohnerin, die sich mit Kot verschmiert, ein verpinkeltes Bett, ein Mann mit Chorea Huntington, der durch sein Zimmer poltert und gefüttert werden will, ein paar zu wechselnde Windeln ...

Freitag, 29. August 2014

Wie man sich mit Gedanken über das Warten die Zeit beim Warten vertreibt


Ich warte. Auf den Vermieter. Er hat seinen Vater im Schlepptau, weil der Handwerker ist. In meinem Bad leckt eine Wasserleitung leicht.
Sie sind schon seit fünfzehn Minuten überfällig.
Ich warte nicht gern, weil ich währenddessen den Kopf nicht frei kriege. Warten ist noch schlimmer als Langeweile. Bei der Langeweile warte ich eigentlich auch auf etwas – nämlich auf mich selbst bzw. auf Einfälle oder auf Antrieb oder auf ein Wunder.

Nun sind sie endlich da. Hoffentlich besetzen sie nicht zu lange mein Bad.

Ich sitze vorm Computer und warte, dass Abend wird. Ich habe Nachtdienst. Den ersten nach einer Woche Frei. Eine Art Hamsterrad dreht sich in meinem Kopf.

Im TV Angela Merkel, ihres Zeichens deutsche Bundeskanzlerin - sie spricht auf der Westbalkankonferenz. Die grüne Bluse und der beige Sakko stehen ihr. Dazu trägt sie passend eine Halskette mit grün schimmernden Halbedelsteinen.

Der graue Vorhang des Tages lässt ein paar Sonnenstrahlen durch. Angenehm berührt blicke ich auf das Farbenspiel im Blätterwald vor meinem Fenster.
Der Vermieter und sein Vater werkeln noch in meinem Bad. Ihre Stimmen dringen durch die Wand dumpf und unverständlich zu mir.

Plötzlich klopft es. Sie sind fertig! Fast fertig. Das Ganze muss noch mehrmals begutachtet werden.

Ich finde, dass das ganze Leben nichts als Warten ist. Man vergisst es nur manchmal – was ich ganz gut finde. Oft kann man es aber nicht vergessen, z.B. in Arztpraxen und Ämtern oder an Bushaltestellen oder beim Warten aufs Bier - keine Ahnung, wie viele Stunden ich schon in Kneipen, Gaststätten und Cafés auf mein Bier wartete. Da kommen bestimmt Jahre zusammen.
Irgendwann hat dann alles Warten ein Ende, was sehr sehr tröstlich ist.

Die Alten im Altenheim warten auf ihren Tod. Sie wissen, dass sie dieses letzte Wartezimmer nicht mehr verlassen werden. Die Einen haben es lieber schnell hinter sich, und die Anderen sträuben sich lange davor. Der Tod nimmt nur die, die loslassen wollen oder letztendlich müssen. Es ist ein bisschen wie eine Geburt nur vom anderen Ende aus gesehen. Wir werden sehen. Schließlich sind wir alle mal dran.

Ich verstehe nicht, dass die Menschen sich noch zusätzlich in Kriegen meucheln. Das Leben ist schnell genug vorüber. Was für einen Sinn macht es, für eine Idee, fürs Vaterland oder für einen Gott zu sterben? Vielleicht machen die Menschen Krieg, weil ihnen die Warterei im Leben auf den Geist geht - weil sie keinen Sinn darin sehen. Warum dann nicht einfach Selbstmord? Wozu auch noch die Mitmenschen ins Unglück stürzen, die damit gar nichts am Hut haben? Ach so, bei Selbstmord kommt man nicht ins Paradies … und man bekommt auch kein Heldengrab.
Nach dieser Idioten-Logik kann man freilich jeden Krieg und jedes Töten rechtfertigen. Es ist die Logik eines Amokläufers. Man versucht der eigenen Verzweiflung zu entgehen, indem man tötet und Verzweiflung sowie Leid unter seine Mitmenschen bringt. Die ideologische oder religiöse Rechtfertigung ist nur ein billiges Alibi.

Warten kann freilich auch eine schöne Spannung beherbergen, wenn ein schönes Ereignis naht - eine Erfüllung oder Befriedigung wie z.B. beim Sex. Das Warten kann sogar schöner sein als das Ereignis selbst, welches man erwartet. Wir sprechen dann von der Vorfreude.

Auch verändert sich das Warten mit der Zeit des Wartens.

Es kommt eben ganz drauf an, auf was man wartet – bewusst und drängend wartet. Mit Druck auf der Blase in einer Schlange vor einer Toilette zu stehen, ist sehr unangenehm.
Andererseits nehmen manche Menschen stundenlanges Warten in Kauf, um dem Papst oder ihrem Popidol einmal im Leben leibhaftig zu begegnen. (Idiotisch – oder?) Da warte ich doch lieber auf Godot.

Nun habe ich etwas Zeit mit Gedanken über das Warten totgeschlagen. Mal auf die Uhr schauen. Es ist bereits früher Nachmittag. Die Erde dreht sich unweigerlich unter der Sonne weg, bis Abend ist. Jeden Tag dasselbe. Für die Einen ist das schlicht beruhigend aber für die Anderen eher eine ätzende Penetranz. Das Wasserglas ist halbvoll oder halbleer. Wenn ich beim Biertrinken bin, neige ich zu der Betrachtung, dass das Glas halbleer ist …

Sonntag, 10. August 2014

Nichts wie raus hier!


Wieder beobachte ich die Kreuzspinne, die kaum vierzig Zentimeter seitlich von mir auf der anderen Seite des Fensterglases ihr Netz baute. Sie hat ein Opfer in der Mache und es bereits in die Mitte des Netzes gezogen … Beim Anblick dieses kleinen Naturschauspiels versinke ich in Gedanken.
Wir saßen zu Dritt bei der Übergabe zusammen, die zwei Schichtleitungen des Frühdienstes und ich. Mein Feierabend winkte. Ich hatte ihn dringend nötig. Die Müdigkeit zerrte an mir wie ein hungriges Tier. Plötzlich polterte es über uns. Wir spitzten die Ohren, und die eine Kollegin meinte sofort: „Das ist Herr X!“ Herr X kam vor einigen Wochen zu uns. Er hat Chorea Huntington und ist in seiner Mobilität bereits deutlich eingeschränkt, kann sich kaum noch verständlich artikulieren, - und schon merklich dement. Für mich war es anfangs ein seltsames Gefühl, einem Bewohner, jünger als ich, nachts die Windel zu wechseln. Seit ein paar Tagen macht er nun Sperenzien, wird aggressiv, wenn man etwas von ihm will wie Waschen oder Füttern; und am frühen Morgen, wenn er ausgeschlafen ist, klettert er über das Bettgitter und läuft wie ein Zombie über die Station. Die Kollegen vom Tagdienst wollten ihn bereits aus lauter Verzweiflung in die Psychiatrie* einweisen, weil sie seiner nicht mehr Herr wurden, und es nur eine Frage der Zeit ist, dass Herr X stürzt und sich ernsthaft dabei verletzt. Wir haben nicht die Möglichkeiten, ihn zu fixieren. Aber die Psychiatrie lehnte die Aufnahme mit einer fadenscheinigen Begründung ab. Auch mir als Nachtdienst wäre erheblich wohler, wenn Herr X zum Einstellen in die Psychiatrie käme.
„Wahrscheinlich muss erst etwas passieren“, sagte meine Kollegin. Eilig gingen wir ins obere Stockwerk, wo er nackt bis auf ein Unterhemd stand. Ich sah ihn das erste Mal außerhalb des Bettes und mir fiel noch deutlicher auf, wie jung er aussah. Seine dunklen Haare waren dicht und hatten kaum graue Strähnen. Als wir ihn in die Mitte nahmen, um ihn zurück auf sein Zimmer zu führen, rebellierte er lautstark. Ich verstand kein Wort. Meine Kollegin, die ihn vom Tag her besser kannte, redete beruhigend auf ihn ein, aber es nutzte nichts. Jedenfalls führten wir ihn in sein Zimmer, wo er sich trotzig in seinen Rollstuhl fallen ließ. Wir konnten ihn nicht dazu bewegen, sich noch einmal ins Bett zu legen. Zurück bei der Übergabe dauerte es nicht lange, und wir hörten ihn wieder über uns poltern und rufen. Wir schauten uns vielsagend an - „Scheiße!“
Unsere Chefs nehmen alles auf, Hauptsache die Betten sind belegt und Geld kommt herein. Wie das Pflegepersonal bei einer Minimalbesetzung damit klarkommt, ist ihnen egal. Alles ein einziges Hin- und Hergeschiebe. Und dann verkleistern sie das Ganze auch noch scheinheilig mit christlicher Moral.
Auf dem Weg zum Umkleideraum dachte ich: Nichts wie raus hier!



* Inzwischen war die Neurologin zur Visite. Sie wird einer Überweisung in die Psychiatrie nicht zustimmen - wenn man Menschen mit diesem Krankheitsbild aufnähme, sagte sie, müsse einem der hohe Pflege- und Betreuungsaufwand klar sein und also dafür genügend (ausgebildetes) Personal zur Verfügung stehen.
Recht hat sie!

Sonntag, 6. Juli 2014

Nachdampfen


Kann man an manischer Einfallslosigkeit leiden? Ich erwache in einem heißen, schwülen Tag. Im TV der Große Preis von England. Meine weit entfernte Freundin zur Kur am Schwarzen Meer.
Am Morgen ließ ich bei meinen Kollegen Dampf ab. „Ein paar solcher Nächte, und ich bin reif für die Klapse“, sagte ich und machte meinem Ärger über die Situation als einzelne Nachtwache Luft. Die Nacht war ein Spießrutenlauf gewesen. Ich rannte von Schwesternruf zu Schwesternruf, von einem verrückten und dementen Bewohner zum nächsten. Nichts dramatisches, nur der ganz normale Altenheim-Wahnsinn. Ich musste mich tierisch zusammenreißen, um bei manchen Bewohnern die Ruhe zu bewahren. Kaum war ich auf dem einen Stockwerk, klingelte schon der nächste auf dem anderen. Zwischendurch fühlte ich mich wie in einem Albtraum gefangen. Meinen Kollegen im Frühdienst fielen die Kinnladen herunter, als ich schimpfte. „Entschuldigt, aber in der Nacht habe ich niemanden, bei dem ich mich auskotzen kann, drum kriegt ihr das jetzt ab.“ Ich merkte, dass ich ihnen die morgendliche Laune verdarb. Außerdem geht ihnen die Muffe, ich könnte jetzt zur Urlaubszeit ausfallen, denn dann müssten sie die scheiß Nachtdienste übernehmen.
Meine Haut ist dünn, nervlich gesehen. Trotz schönem, erlebnisreichem Urlaub. Die drei Monate, die ich noch im Nachtdienst durchhalten soll, erscheinen mir unendlich lang – ebenso die drei Monate, bis ich meine Freundin wiedersehen kann.
In meinem Kopf Stumpfsinn und Leere. Ich lenke mich mit Belanglosigkeiten wie der Fußball WM ab. Deutschland im Halbfinale gegen Brasilien. Ich werde am Dienstag frei haben und (vielleicht) blöde mit anderen Idioten vor einer Videoleinwand das Spiel verfolgen.
In Silverstone drehen die Formel 1 Boliden die letzten Runden. Ich lasse mich von dem öden Irrsinn ficken. Mir fällt nichts besseres ein.

Freitag, 27. Juni 2014

Drei Monate


So schnell. Der Urlaub ist vorbei. Der Nachtdienst steht vor der Tür. Schon heute Abend.
Es fällt mir sehr schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich zurück ins Altenheim muss - nachdem ich den Auflösungsvertrag unterschrieb. Noch drei schwere Monate. Der Juli wartet gleich mit 15 Nächten auf. Natürlich weiß ich, dass ich die Beklemmungen schnell abschütteln werde, wenn sich die Schiebetür des Foyers hinter mir schließt, ich zu den Umkleideräumen marschiere. Alles wird vertraut sein, als wäre ich gar nicht weg gewesen. Auch die Kollegen und Kolleginnen, die sagen werden: „Ach, du bist schön braun geworden … Hattest du einen schönen Urlaub?“ Und ich werde kurz antworten, dass mein Urlaub schön war, und dass das Wetter schön war. Dann werde ich mich auf die Übergabe konzentrieren. Bestimmt sind neue Bewohner angekommen. Wer ist im Krankenhaus, wer verstorben?

Ich komme mir vor, als würde ich zwischen den Welten stehen. Wo gehöre ich hin? Fremde Leute schleichen an meinen Fenstern vorbei und begutachten das Haus. Hat mein Vermieter nun einen Käufer? Ich fühle mich unwohl in meiner Haut. Ich hätte einfach weg bleiben sollen! Aber allein?
Der Sommer ist schön. Und dazu Liebesgeflüster. Vielleicht bin ich wirklich erschöpft vor Glück - was sich anfühlt, als wäre ich gar nicht richtig glücklich.

Auf einem anderen Blog lese ich, wie sich eine Frau für ihre pflegebedürftige Mutter aufopfert, darüber schreibt. Ich habe kein Verständnis für ein solches Aufopfern, weder in der Familie noch im Beruf. Einige schreiben, wie sehr sie es bewundern. Ich nicht. Wer sich nicht alles aufopfert und dabei von Liebe redet. Alles Quatsch. Da sind sie, die Helden an der Front des Alltags, die sich krank schuften. Die noch darauf stolz sind. Die nach Bewunderung und Anerkennung lechzen. Pflichtbewusstsein und Aufopferung, damit lassen sich eine ganze Menge Menschen ködern. Gerade in sozialen Berufen. Oder in der Familie. Schnell lässt sich den Menschen ein schlechtes Gewissen machen. Wie kann man nur seine Mutter im Stich lassen? Als gäbe es da eine Schuld zu begleichen. Und bei mir auf Arbeit: wie kann man nur so unkollegial sein? Es ist unmöglich, gerade jetzt auszufallen. Das geht auf den Rücken der Kollegen.
Nein, ich fiel so gut wie nie aus. Aber jetzt ist Schluss. Sollen sie sich doch aufopfern. Vielleicht liegen dann mehr Blumenkränze auf ihren Gräbern.

Die fremden Leute sind wieder da. Sie begrüßen mich durchs offene Fenster. Ich denke, es sind die Käufer – und werden damit meine neuen Vermieter sein. Veränderungen stehen an. Eine ganze Menge. Man kann sich den Zeitpunkt nicht immer aussuchen. Im fernen Russland eine Frau, die ich liebe. Es ist ein Wunder. In drei Monaten können wir uns wiedersehen. Doch was weiter ist, steht in den Sternen.

Ich verharre an meinem Schreibtisch und blicke auf das grüne Pflanzengewühl vor meinem Fenster: Brennnesseln, Efeu, Gestrüpp, Wildkräuter mit leuchtend gelben Blüten, eine Hecke ...

Dienstag, 27. Mai 2014

Karussell des Todes


Der Tod im Altenheim ist total unspektakulär. Nebenbei wurde bei der Übergabe erwähnt, dass Frau E. verstarb. Ich atmete auf. Inge hat`s geschafft. Im Frühdienst. Es war überfällig. Sie hatte sich gequält. Schon eine ganze Zeit lang. Unruhe und Angst hatten sich ihrer bemächtigt. Der Tod kam als Erlösung, und wir atmeten auf. (Auch ihre Söhne.)
Am Abend kam der Bestatter und holte sie. Zwischen meinen nächtlichen Rundgängen ging ich in ihr Zimmer und zog das Bett ab. Ein paar Blütenblätter hatte man auf ihrer Bettdecke verstreut. Sie fielen mir vor die Füße. In ein paar Tagen werden alle ihre persönlichen Sachen ausgeräumt sein. Die Betten müssen belegt werden. Das Karussell des Todes dreht sich lustig weiter.

Samstag, 24. Mai 2014

Mir reicht`s


Der Auflösungsvertrag ist unterschrieben. Eine halbe Stunde mit viel Blabla von Seiten der Leitung, welche Schwierigkeiten sie nun habe, meine Stelle zu besetzen. Zu meinem Wunschtermin klappte es nicht - was mir fast klar war. Ich werde noch ein paar Monate im Nachtdienst ausharren müssen.
Der Morgen hatte mit Regen begonnen. Als ich vom Altenheim mit dem Auflösungsvertrag im Sack Richtung Bushaltestelle schritt, kam die Sonne durch die Wolken. Ich fühlte mich etwas leichter. Nun musste ich nur noch im Lotto gewinnen. Symbolisch hatte ich vorgestern einen Schein ausgefüllt und auch abgegeben. Man weiß ja nie. Wahrscheinlich verhält es sich beim Lotto wie bei der Liebe: Das Wunder passiert, wenn man nicht damit rechnet oder nicht dran denkt. Insofern ist es taktisch unklug, was ich gerade mache.
In dem Landgasthof gegenüber der Bushaltestelle trank ich ein Bier und starrte in Gedanken vor mich hin. Mein Bus ging erst in einer halben Stunde. Die Kollegen, die von meiner Entscheidung wussten, reagierten verständnisvoll – natürlich mit der schmalzigen Einleitung, wie sehr sie meinen Schritt bedauerten. Ich will nicht ungerecht sein, das ein oder andere Bedauern ist sicher ehrlich. Auch mir fällt es nicht ganz leicht, Abschied zu nehmen. Schließlich war das Altenheim in den letzten neunzehn Jahren fast so was wie mein zweites Zuhause. Dort hatte ich zeitweise die meisten menschlichen Kontakte. Nein, ich werde das Altenheim nicht wirklich vermissen. Wirklich nicht. Pflegenotstand war für mich nicht nur ein Schlagwort sondern berufliche Realität. Und das ist alles andere als spaßig. Seit insgesamt achtundzwanzig Jahren arbeite ich in der Pflege, und es reicht … Mir reicht`s! Es passt auf keine Kuhhaut, was ich alles erlebte. Man macht sich automatisch mitschuldig an den Missständen. Seit ich die öffentlichen Diskussionen darüber verfolge, wird alles unter den Teppich gekehrt. In gewisser Weise wurde die Pflege mit den Jahren sogar unmenschlicher, weil das Drumherum - die Dokumentation, das Qualitätsmanagement, die tausenden Dienstbesprechungen, das Schönreden – mehr zählen als die Zeit, die man mit den Alten verbringt. Man kann es verkürzt auf die Formel bringen „Mehr Schein als Sein“. Nun ist das allgemein nichts ungewöhnliches. In allen möglichen Bereichen von Politik und Wirtschaft und auch im privaten Leben lügt man sich in die Tasche. Aber in der Pflege ist die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Anspruch und Realität, schon seit vielen Jahren unerhört groß … unerträglich groß, möchte ich monieren.
Mir reicht`s!
Ich trank mein Bier aus und ging über die Straße zur Bushaltestelle. Ich blinzelte in die Sonne. Etwas Wehmut war doch dabei. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Ohne Risiko geschehen keine Veränderungen. Der innere Kampf muss ausgehalten werden. Einmal keine Marionette sein sondern selbstbewusst handeln! Die Sicherheit für die Freiheit aufgeben!
Und dann ist da ja noch der Lottoschein ...

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