Fluch oder Wunder

Der freundliche Bestatter sagte: “Irgendwann hole ich Sie hier raus, und dann können die sehen, wo sie bleiben!” Er hatte mich gefragt, ob ich immer noch alleine in der Nacht sei. Er kann es einfach nicht fassen, dass wir, seit die Bewohnerzahl auf Fünfzig reduziert wurde, fortan die Nächte alleine im Altenheim sind. Auch die Ärztin, die ich wenige Tage zuvor im Haus hatte, um eine Leichenschau vorzunehmen, sagte nur: “Das ist verantwortungslos!” Ich konnte nicht widersprechen.
Zwei Sterbefälle binnen weniger Tage. Bei uns geht es seit vielen Wochen zu wie im Taubenschlag. Bewohner sterben oder ziehen in ein anderes Heim, und die leeren Betten werden mit Kurzzeitbewohnern wieder aufgefüllt. Es darf keine Lücke entstehen. Zimmerbelegung und Personalstand werden vom Träger hart kalkuliert. Wahrscheinlich muss das so sein. Als einfache Pflegekraft habe ich keine Ahnung von diesen betriebswirtschaftlichen Dingen. Ich sehe nur die Überforderung, der wir durch zu wenig Personal ständig ausgesetzt sind, und wie sich alle unter der Belastung ducken und ächzen, es aber auf der anderen Seite nicht offen zugeben können - denn es könnte als Schwäche ausgelegt werden.
Nach fünf Nächten fühle ich mich wie betäubt, innerlich hohl. Zwei Bewohner verstarben. Die Winterzeit bedeutet eine Zäsur für die Alten. Der Tod holt sie zu sich, als wären sie Perlen, die er zu einer Kette auffädelt. Meist sterben zwei, drei Bewohner relativ kurz hintereinander. Es ist, als führe der Tod alle paar Wochen wie ein Wind durch das Altenheim, und die Schwächsten nimmt er mit sich.

Eines Tages wird mich der Bestatter tatsächlich abholen wie jeden von uns.
Das Leben ist vollkommen verrückt und unverständlich. Sisyphusgleich mühen wir uns ab, versüßen unser Dasein mit materialistischen oder spirituellen Wunschträumen, … im Diesseits gefangen. Wir eiern durchs Leben, betäubt von der größten Droge: “Wirklichkeit”. Morgen ist ein neuer Tag, und ich lebe - Fluch oder Wunder?
Ranunkelchen - 07. Feb. 10, 23:08

viel kraft dir

für diesen neuen tag
morgen
und
übermorgen
und...

:-)

bonanzaMARGOT - 08. Feb. 10, 10:58

danke, ranunkelchen, für die guten wünsche.

dir auch alles liebe.
Lange-Weile - 08. Feb. 10, 12:36

Reifegrad

Hallo Bo.,

ich würde sagen "Wunder", auch wenn es schwer zu haben ist. Der Tag ist Mühsal und Plage manchmal, doch muß ich mich nicht krumm machen, darf mir selber treu bleiben und kann mir weiter Träume ausmalen.

Jetzt komme ich wieder etwas spirituell und wiese daher. Im Rückblik meines Lebens haben grad die schmerzvollen Phasen meines Lebens, mir das Leben im nachhinein lebenswerter gemacht.

So wie "The Doors" in "The End" besungen haben. Sinngemäß "Erst wenn du der Düsternis nahe, weißt du was Licht ist" In dem Mossrison seinen Zuhören den Tod zeigte, wußten sie was Leben ist.

So haben die Schattenseiten des Lebens für mich immer einen Sinn gehabt, weil sie mich haben reifen lassen. Ohne sie wäre ich auf der Chouch mit der Zigarette und einem Weinglas in der Hand vor mich hin gealtert.

In deinem Job sieht du den Tod ja fast täglich ins Auge. Da würde ich vielleicht noch mehr über den Sinn meines Lebens ins grübeln kommen und sinnlos vertane Zeit bereuen. Am Ende bleibt nichts von einem, außer altes Mobiliar, was die Erben in der Regel auf den Müll stellen.

Gruß LaWe

bonanzaMARGOT - 08. Feb. 10, 12:57

hi lawe, mal abgesehen davon, wie man mit der düsternis des lebens persönlich umgeht, stelle ich mir auch philosophisch die frage, ob das leben nun mehr fluch oder wunder ist.
wer wie ich nicht unbedingt an eine heilbringende gottexistenz glaubt, grübelt vielleicht mehr über den sinn des ganzen.
im altenheim sehe ich das auslaufen des lebens unter meist unschönen umständen. der tod schickt seine vorboten: krankheit, gebrechlichkeit, demenz, depression ...
bevor wir alt und gebrechlich werden, mühen wir uns mit beruf, familie und irgendwelchen ehrgeizigen zielsetzungen. sind wir dann alt, wirklich alt, dann mühen wir uns mit krankheiten und dem nahenden sterben.

auf der anderen seite sehe ich auch das wunder des lebens: die wahnsinnige vielfalt, die kreativität, die sinnesfülle, die liebe ...
fluch und wunder treffen aufeinander. sie ringen miteinander. und manchmal küssen sie sich.

ein literarisches Tagebuch

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