Schlaflos

Durch den Eintopf führen Schienen. Während du schläfst und pfeifst wie eine Lokomotive, zähle ich die Schwellen. Ich zähle sie, während das Spionagesystem Nacht mit seinen dunklen Augen auf mir ruht und gleichsam in mich eindringt, so dass sich Traum und Realität wie ein verzweifeltes Liebespaar umarmen. Ich bin schlaflos. Ich zähle das Zählen. Die Zahlen werden zu Hügeln einer Bettdecke, zu Schienenschwellen einer Gedankenreise, zu schlafenden Vögeln. Sie kehren immer wieder zurück und fangen von vorne an. Mal in Zehnerschritten, mal nur in Zweierschritten. Zahlen tanzen den Bolero durch meinen Kopf. Ich zähle das Zählen - als wäre das ganze Universum aus Zahlen, die Muster bilden, sich in Spiralen umkreisen, mit zig Nullen explodieren und wieder implodieren. Ich suche die Primzahlen zu fassen, das Geheimnis ihrer Unteilbarkeit. Was macht den Schienenstrang, auf dem ich fahre, so geheimnisvoll? Warum wird das "darattatatt ...rattatat ... daratta ... darattatat ..." zu einer Melodie?
Du schläfst. Dein Atem pfeift dazu - auch ganz lustig. Ich dagegen bin schlaflos und träume unter den Spionen der Nacht. Ich zähle das Zählen und stolpere über die 2 und die 3, die 5, die 6, die 7, die 8, die 9 ... . Ich gleite in die Dunkelheit der Nullen. Ich sehe den Kilimandscharo mit seiner weißen Haube aus Schnee und Eis. Ich sehe einen Mann, der spricht: "Das Leben muss sich am Tod orientieren." Und ich weiß, dass er recht hat, weiß aber nicht warum.
Menschen sind zum Zählen verdammt. Nur der Tag und die Nacht lassen sich nicht zählen. Sie sind unteilbar Eins. Ich zähle die Augen der Spione. Ich zähle das Zählen., die Schwellen unter meinem Hintern. Man spürt das Vibrieren des Lebens, wenn man ganz still liegt, neben dem Herzschlag. Ein leichtes Zittern, mehr eine Ahnung; aber die Ahnung wächst mit der Stille. Sie kann sogar lauter werden als dein Schnarchen, lauter als die Partymusik in der Wohnung über uns. Ich zähle nicht die Zeit. Wie soll man die Zeit überhaupt zählen? Ich zähle mein Ich. Die Ahnung meines Lebens. So laut und schön und unbegreiflich.
Ich bin genervt, dass ich nicht schlafen kann. Erst als der Morgen dämmert, deckt mich der Schlaf doch noch zu. Wo war ich in der Nacht? Das zu erzählen ist unmöglich.
virago - 23. Okt. 07, 16:21

Poetisch

Hallo Felix,
da ist dir ein wunderbar poetischer Text über die Schlaflosigkeit gelungen. Ich kann das gut nachvollziehen, weil es mir auch manchmal so geht. Zwar selten, aber es kommt vor. Bei Vollmond zum Beispiel.
Im Halbschlaf denkt man wirre Dinge, oft immer von Neuem, so als wären sie enorm wichtig. Vielleicht sind sie es sogar und wir wissen es nur nicht, wenn wir ganz wach sind.
LG virago

bonanzaMARGOT - 23. Okt. 07, 16:35

Genau,

wir können es im Alltag nicht wissen, denn an diesem Ort zählen Wachheit und Lebensumstände. Es gibt aber ein Zwischenreich. Manchmal die Schlaflosigkeit, manchmal der Tagtraum, manchmal das Reich der Inspiration für die Kunst.
Wie wichtig diese "dunkle Energie" ist, bleibt oberflächlich unsichtbar.

F.
Freni - 23. Okt. 07, 21:56

Naja,

für dich mag das jetzt möglicherweise einfältig klingen. Beim malen nach Zahlen braucht man keine Zahlen zählen. Und für Unbegabte wie mich, entstehen dann kleine Kunstwerke ;-)

Bis dann!
Freni

bonanzaMARGOT - 24. Okt. 07, 12:15

Du malst nach Zahlen?

Interessant. Ehrlich, es ist bestimmt spannend zu sehen, was am Ende rauskommt.

In der schlaflosen Nacht machte ich mir Gedanken über die Zahlen und das Prinzip des Zählens. Dabei ging mir auf, dass Zählen eigentlich nichts anderes bedeutet, als ein paar Symbole (Zahlen) nach einer einfachen Gesetzmäßigkeit zusammenzufügen, sich entwickeln zu lassen. Man zählt dabei die Zahlen immer wieder neu zu 2er Potenzen ... oder wie für uns üblich zu 10er Potenzen.
Ich zählte das Zählen, als ich im Geiste die Zahlen zusammenfügte. Ich zählte nicht etwa Schafe.

Man könnte auch mit Farben zählen. Es würden sich interessante Farbmuster ergeben, je nachdem welche Farben wir den Zahlen zuordneten, bzw. als Zahlen nähmen.

Morgengruß
F.
Freni - 24. Okt. 07, 15:26

Nee, nicht wirklich

Früher mal. Ist aber schon ganz lange her. Mir ist das eingefallen als ich deinen Beitrag durchgelesen habe. An sich bin ich kein Zahlenmensch. Auch keine Zählerin.

Außerdem musste ich daran denken, dass Zahlen eigentlich nur in den Naturwissenschaften eine Bedeutung haben. Ich dachte so an das Gesetz von der Erhaltung der Masse, chemische Reaktionsgleichungen, die ausgeglichen werden müssen. Jedenfalls ist mir eine ganze Menge zahlenmäßig durch den Kopf gegangen, nachdem ich deinen Beitrag gelesen habe.

Was meinst du mit man könnte auch mit Farben zählen?

Schafe zählen ist langweilig. Stimmt. Aber manchmal hilft es. Bei mir zumindest.

Bis dann!
Freni

bonanzaMARGOT - 24. Okt. 07, 16:19

Mit Farben zählen:

Wenn du zb. die Null für Weiss setzt, die Eins für Schwarz; dann könntest du bereits im binären System (wie es jeder Computer macht in Schwarz-Weiss zählen. Das geht freilich mit allen Farben und auch im Zehner System. Du brauchst dann nur 10 verschiedenen Farbtöne.
Zahlen sind lediglich Symbole und als solche durch alle möglichen Variablen ersetzbar, wenn diese die Anforderungen des Systems erfüllen. Im Sinne der Zahlen muß lediglich ein Symbol eindeutig dem anderen folgen - sozusagen eins mehr gelten - und je nachdem in welchem System wir rechnen bzw. zählen wollen, braucht man zwei oder mehr verschiedene Symbole, Farben, Töne, Buchstaben (Variablen).
Aber mindestens zwei, sonst mußt du mit Strichen zählen, und da brauchst du erst gar nicht anfangen, denn da könntest du gleich die zu zählenden Objekte selbst nehmen und nebeneinander stellen.
Mathematik ist u.a. deswegen eine Erleichterung, weil wir "eine Million" sagen können, ohne eine Million Striche nebeneinander machen zu müssen.
Für den Menschen ist das inzwischen ganz selbstverständlich, und deswegen glaubst du zb., dass Zahlen nur in den Naturwissenschaften eine Bedeutung haben. Du merkst nicht, dass eigentlich dein ganzes Leben(Alltag) von Zahlen (und deren Mathematik) durchdrungen ist.

Gruß
F.
virago - 24. Okt. 07, 17:02

Die Zahl Pi

Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen: Gestern zeigte mir jemand ein Bild, in dem sie die Zahl Pi mit Farben dargestellt hat. Es steht zwar im Netz, die Seite ist aber noch nicht fertig, deshalb kann ich den Link leider nicht hier reinstellen. Zumindest nicht ohne sie vorher zu fragen. Schade.
bonanzaMARGOT - 24. Okt. 07, 17:20

Die Zahl pi

ist für mich eine Naturkonstante. Eine Naturkonstante der Logik, um Kreise zu zählen(zu berechnen).

Total fazsinierend, vielleicht die faszinierendste irrationale Zahl.

Eine andere Welt hätte ein anderes pi.

Es ist nicht die Ziffernfolge. Indirekt - okay. Es ist die Bedeutung ...

F.
Freni - 25. Okt. 07, 20:07

Mit Farben zählen,

wäre mir dann doch zu anstrengend. Vielen Dank für deine Erklärung. Das muss ich mir aber noch paar mal durchlesen, bis ich es kapiere.

Freni

bonanzaMARGOT - 26. Okt. 07, 09:56

Das hat den Grund,

weil die Ziffern des Zahlensystems in unserem Denken (auch bildlich) fest verankert sind.

F.

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