Fußmut

Contergan-Kinder können mit der Großen Zehe in der Nase bohren. Jedenfalls einige von ihnen. Ich finde das beachtlich, da ich mich bereits beim Schneiden der Zehennägel abmühe.
Der Contergan-Skandal fiel in meine Generation. Es hätte mich auch erwischen können.
In der Grundschule hatten wir eine Mitschülerin, Britta, mit Stummelarmen und -beinen. Sie war Klassenbeste. Ich Zweitbester. Eine Diskriminierung kriegte ich damals nicht mit. Jedenfalls nicht gegenüber diesem behinderten Mädchen. Es fielen mehr die Gastarbeiterkinder und die Kinder aus den Asozialenvierteln in den Fokus der Hänseleien und Ausgrenzung.
Ich stecke voller solcher Erinnerungen. Fange ich erstmal an zu bohren, fördere ich immer mehr zu Tage.

Wie ich auf das Thema komme? Total blödsinnig: Ich blickte gestern Abend auf meine Füße und dachte darüber nach, wie unnütz Fußnägel eigentlich sind; und was es für eine Arbeit ist, die regelmäßig zu schneiden. Ich mag meine Füße. In der Wohnung bin ich immer barfüssig zugange. Was machten die Menschen eigentlich, als es noch keine Nagelscheren gab? Ich saß also vorm PC, langweilte mich und schaute auf meine Füße hinab. Mir kamen Schlangenmenschen und Yogis in den Sinn, die die Beine hinter ihrem Nacken verschränken konnten ... und auch ein junger Mann mit einer Contergan-Behinderung, dem ich in der Heidelberger Altstadt öfters begegnet war. "Nur" seine Arme waren betroffen. Er lief als Punk in Gummistiefeln durch die Stadt. In der Kneipe streifte er sich die Stiefel ab und gebrauchte ganz selbstverständlich seine Füße zum Biertrinken. Er war schon ein Unikum - nicht nur wegen seiner Behinderung, sondern weil er selbstbewusst damit umging und damit nicht selten seine Umgebung irritierte oder gar schockierte.

Und schließlich sah ich zufällig vor kurzem im TV ein Interview mit einem Contergan-Betroffenen. Er erzählte ziemlich scheußliche Sachen aus seinem Erleben. Wie mies doch die Menschen sein können!
Seine Eltern hätten unmoralische Sexualpraktiken vollzogen, deswegen diese Missgeburt ... und Ähnliches. Auch wurde damals geschrieben, dass die Contergan-Kinder frühzeitig sterben würden.
Wahrscheinlich kursierten noch mehr dumme und kuriose Gerüchte, welche für die Betroffenen eine unglaubliche Demütigung bedeuteten.

1961/1962 wurde der Contergan-Skandal aufgedeckt. Fast ein halbes Jahrhundert verstrich seitdem.
Ich kam gesund und vollständig auf die Welt. Wirklich gesund und vollständig?
Was sind das für Begriffe?

(Schlappe fünf Jahre später setzte der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond. Ich wurde eingeschult. Auf dem Erinnerungsphoto halte ich die Zuckertüte tapfer fest.)
virago - 04. Okt. 07, 19:51

Contergan

Der Typ, der mit den Füßen trinkt ... dazu gibt es doch ein Gedicht von dir. Pardon: von boMA. Ich erinnere mich an die Diskussion darüber in einem großen grünen Forum, hab's dort nur gelesen, war vor meiner Zeit.

Freni - 04. Okt. 07, 22:47

Fußmut

finde ich unpassend gewählt.

Er ist nicht mutig, sondern ein Mensch wie du und ich.

Bis dann....Freni

virago - 04. Okt. 07, 22:57

Einspruch, Euer Ehren!

ich finde das schon ziemlich mutig. Bedenke doch mal das saublöde Anstarren.

In Österreich werden sogar Rollstuhlfahrer saublöd angestarrt.
bonanzaMARGOT - 04. Okt. 07, 23:12

Fußmut

ist eine Wortspielerei - zum Nachdenken - auch wegen der Armut im Geiste, die viele Menschen unserer Gesellschaft im Umgang mit Minderheiten/Behinderten/Alten an den Tag legen.

F.
Freni - 04. Okt. 07, 23:13

Warum,

sagst du so was "Einspruch, Euer Ehren!"? :-(

Mut ist das Gegenteil von Angst. Du tust ihm damit kein Gefallen.

Die Anstarrer gibt es überall. Sie haben es möglicherweise nicht gelernt, damit umzugehen.

Freni

virago - 04. Okt. 07, 23:24

Wem?

Entschuldige, ich fürchte wir haben ein Verständnisproblem.
Tut mir leid wegen letztens, ich war sauer wegen deiner (aus meiner Sicht) unbegründet aggressiven Kommentare.

Ich verstehe nicht, was du meinst.
Wem "tue ich keinen Gefallen"? Erklärst du es mir?
Freni - 04. Okt. 07, 23:56

Mir tut es auch leid,

aber machen wir das nicht zum Thema, einfach vergessen, okay? :-)

Man tut einem behinderten Menschen keinen Gefallen, wenn man ihn als mutig betrachtet. Mitleid ist auch nicht angebracht, finde ich. Es gibt ja diese Glotzer und dann diese Mitleidsgucker. Die finde ich genauso seltsam.

Behinderte Menschen haben Sehnsucht nach menschlicher Wärme und liebevollen Angenommensein.

Angst schließt das aus.

Die Glotzer und Mitleidsgucker verurteile ich jetzt nicht so unbedingt. Für mich ist das halt ein gesellschaftliches Problem.
Menschen die anders sind werden nicht intensiv genug in die Gesellschaft integriert.

Freni

virago - 05. Okt. 07, 00:13

Okay, jetzt verstehe ich.

Da stimme ich dir zu, Menschen mit Beeinträchtigungen wollen sicher vor allem eines: als "normal" akzetpiert werden.
Andererseits: Jemand, der keine Hände hat, weiß doch, dass das auffällt. Auffälliges Wegschauen ist meiner Meinung nach auch verkehrt.

Also ich weiß das jetzt nicht wirklich aus Erfahrung, ich hatte noch
nicht viel mit (körperlich) behinderten Menschen zu tun.
Ich hatte aber als Kind mal eine Freundin, die beinamputiert war. Sie war 8, als das passierte. Sie war ein Jahr jünger als ich.
Mitleid hasste sie. Sie wollte, dass man sie so anerkannte wie sie ist: ein Mädchen mit nur einem Bein. Wir waren zusammen schwimmen und ich merkte, wieviel Mut es sie kostete, die Beinprothese abzulegen und so zu tun als wäre das ganz normal. Weil sie wusste, wie die Leute starrten.

Sie starb mit 13. Der Krebs war stärker als ihr Lebensmut.
bonanzaMARGOT - 05. Okt. 07, 12:05

Einfach

ist der richtige Umgang mit "Behinderten" (ich hasse dieses Wort) ganz sicher nicht, wenn man im Alltag oder beruflich nicht viel mit ihnen zu schaffen hat.
Umso normalisierter, desto besser - völlig klar.
Mit den Alten im Pflegeheim ist das nicht anders, die sind ja oft mannigfach behindert: Blindheit, Taubheit, Aphasie, Gehbehinderung, Seitenlähmung, Querschnittslähmung, Schüttellähmung (Parkinson), Multiple Sklerose, Psychiatrische Erkrankungen, Demenzerkrankungen, Debilität etc. etc.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umgang der Alten untereinander zu beobachten. Die fitteren gehen zum Teil mit den geistig und körperlich beeinträchtigteren sehr diskriminierend um. Ganz unten in der Hirarchie stehen die Dementen.

Jeder Bewohner ist anders zu nehmen. Bei Behinderten im Alltag dürfte das nicht anders sein. Jeder Behinderte hat einen anderen Charakter, anderen IQ und einen anderen Werdegang. Viele unter uns im Heim machen den Fehler, prinzipiell alle alten Menschen wie kleine Kinder oder allzu kumpelhaft zu behandeln. Das finde ich erniedrigend. Allerdings ergeben sich auch viele Alten mit der Zeit in die Pflegesituation und lassen mit sich machen; an die kommt man dann nur noch so ran - der Kreislauf ist geschlossen.

Ein Patentrezept für den richtigen Umgang gibt es, glaube ich, nicht. Am Besten hat man ein paar gute Beispiele vor Augen.

F.

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