Der Besuch
„honour … honour … honour … ahhhhhhhh ...“ stöhnte ein gespenstisches Wesen in Abständen immer wieder. Ich konnte es nicht abstellen und wälzte mich im Schlaf unruhig hin und her. Schließlich wachte ich auf. Wahrscheinlich hatte ich mich selbst schnarchen gehört. Die Nase war zu und die Schleimhäute im Mund widerlich trocken. Seit Tagen macht mir eine Erkältung zu schaffen, die ich eigentlich im alten Jahr gelassen wähnte. Pustekuchen. „honour … honour … honour … ahhhhhhh ...“ Mein Gott, war das schauderhaft!
Endlich hatte ich mich aufgerafft, meine Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Das Gebäude befand sich noch teilweise im Umbau, ein Altbau schön am Neckar gelegen. Ich schlich um das Baugerüst herum. Jemand bemerkte meinen suchenden Blick und wies mir den Weg zum Eingang. Alles wirkte noch renovierungs-neu und etwas ungeordnet. Die Rezeption war nicht besetzt, und ich ging den Flur einmal hoch und runter. Schließlich kam die Dame von der Rezeption heran geeilt und nannte mir die Zimmernummer. Ich hatte mir das Krankenhaus größer vorgestellt. Schnell fand ich das Zimmer, wollte schon anklopfen und eintreten, da mahnte mich die Stimme einer Frau, dass die Ärztin gerade Visite machte. Also wartete ich neben der Tür. Die Frau wartete auf der anderen Seite der Tür und fragte: „Ich besuche Frau B. Sind Sie Herr B?“ Ich erwiderte knapp und freundlich: „Ja.“ Ich kannte die Frau nicht, und sie stellte sich mir nicht vor. Nach kurzer Zeit verließen Ärztin und Schwester das Zimmer. Die Frau trat vor mir ein. Meine Mutter saß auf dem Bett, noch mit halb heruntergelassener Hose. Die Frau verabschiedete sich hastig und meinte im Hinausgehen ernst zu mir: „Wissen Sie, dass ihre Mutter sehr krank ist?“ „Das weiß ich“, sagte ich scharf. Natürlich spielte diese Frau darauf an, dass ich mich so wenig kümmerte.
Da war ich. Der Sohn und die kranke Mutter. Wir begrüßten uns. Sie ordnete ihre Kleider und zeigte mir die blauen Flecken am Bauch von den Heparinspritzen. Eine Kochsalzlösung lief intravenös am Handgelenk ein. Sie saß schmal und knochig auf der Bettkante, ich auf einem Stuhl, den ich heranrückte. Wir waren allein in dem Dreibettzimmer. Die neue Bettnachbarin, eine alte, störrische Türkin, wie mir meine Mutter anekdotisch berichtete, war gerade mit Angehörigen unterwegs. Meine Mutter hatte viel zu erzählen. Ich hörte ihr zu. Draußen schneite es leicht. Es tat weh, sie so sitzen zu sehen. Trotzdem lachten wir zwischendurch. Ohne Humor wäre es schon gar nicht zu ertragen, meinte sie.
Die Zeit verflog nur so. Wir redeten über die übermächtige Walze von Krankheit, Altersgebrechen und Demenz meines Vaters, welche das Elternhaus in den letzten Monaten überrollt hatte. Sie habe versagt, sagte meine Mutter. „Wir haben alle versagt“, erwiderte ich. Ich versuchte ihr zu erklären, warum ich mit dem ganzen Geschehen überfordert war, - noch bin. Zumindest riss ich es an, ohne alles auszusprechen, was in mir vorging. Und sie reagierte verständig. Sicher wollten wir uns gegenseitig nicht weh tun. Was würde es auch für einen Sinn machen?
Inzwischen war die alte Türkin zurück und hatte sich auf ihrem Bett eingerollt. Ich hielt die Zeit für gekommen, mich zu verabschieden. Es war schwer, sie dort zurückzulassen wie ein Häufchen Elend. Immerhin lächelnd.
Wie sieht eine Mutter ihren Sohn?
Verwirrt aber zielgerichtet verließ ich das Krankenhaus und tauchte in den Menschenstrom der nahen Fußgängerzone ein. Im Cafe Petit Paris ließ ich das Erlebte bei einem Weizenbier sacken.
Die forsche Frau an der Tür des Krankenzimmers kam von der Nachbarschaftshilfe, erfuhr ich im Laufe des Gesprächs von meiner Mutter. Sie hatte sich in den letzten Wochen sehr um meine Eltern bemüht und sich mit meiner Mutter angefreundet. Ihre vorwurfsvolle Haltung mir gegenüber empfand ich allerdings als Grenzüberschreitung …, wenn auch verständlich aus ihrer Sicht.
Bin ich gefühlskalt? Oder feige?
Vielleicht. Ich kann es nicht sagen. Der Besuch war wichtig.
Ja, der Besuch war wichtig.
sicher gab ich meiner mutter auch beim gestrigen besuch zu verstehen, dass ich sie lieb habe.
aber ich musste mir und ihr auch meine hilflosigkeit und tatenlosigkeit eingestehen. dafür entschuldigte ich mich.
und sie verzieh mir.
schuldgefühle bleiben trotzdem. auch leute wie diese frau von der nachbarschaftshilfe, die nun kaum etwas von der familiengeschichte wissen, tragen dazu bei.
ganz kalt läßt mich das nicht, wenn mich jemand derart als "schlechten sohn" sieht.
wie sagt meine mutter: "es ist alles nicht so einfach."
in der tat - weil es um gefühle geht.
ich werde noch lange an der gesamten familiengeschichte zu kauen haben.
1. Ich weiß mir nicht zu helfen. oder
2. Ich weiß nicht, wie ich helfen kann. oder
3. Meine Möglichkeiten zu helfen sind erschöpft.
Verdrängen Gefühle nicht die Hilflosigkeit? Und ist es nicht wurscht was Frau XYZ über dich denkt? Hauptsache du zeigst deiner Mutter, dass du sie liebst. Um den Rest brauchst du dir keine Gedanken machen.
Jede Familie hat ihre Geschichte, die einen kauen mehr die anderen weniger.
es läßt mich durchaus nicht kalt, was andere leute in meinem umfeld über mich denken. auch wenn sie mir fremd sind. so cool bin ich nicht, war ich nie.
ich könnte mehr helfen. aber ich will nicht.
nun kann ich aber aussenstehenden nicht so einfach klar machen, warum ich nicht will, was eigentlich gesellschaftlich/allgemein als pflicht angesehen wird.
ich wollte in den letzten jahren in einer "netten" distanz zu meinen eltern leben. wie ich es schrieb: die familienangehörigen versagten. mein vater ignorierte wahrscheinlich insgesamt die lage. meine mutter hatte nicht die kraft, die dinge realistisch zu sehen und entsprechend zu handeln. und ich wollte auf meiner distanz zu meinen eltern beharren - wollte mich sowieso nicht verantwortlich fühlen. natürlich sah ich den mist schon lange auf "uns" zukommen. schließlich werde ich als altenpfleger mit solchen problematiken nicht selten konfrontiert.
wie sollen gefühle die hilflosigkeit verdrängen? wie meinst du das, freni? hilflosigkeit ist selbst ein beschissenes gefühl.
Ich fühlte mich als meine Mutter im sterben lag sehr hilflos, weil ich keine Möglichkeit sah, ihr zu helfen. Ich dachte, wenn ich ihr in dem Momenten wo alles dem Ende zu ging zeige wie sehr ich sie liebe, mir meine Hilflosigkeit nicht anzumerken war. Hoffentlich.
in meinen beiträgen versuche ich nach meinem vermögen meine gefühle und gedanken und die erlebten ereignisse in worte zu kleiden. eine absolut authentische umsetzung ist unmöglich.
na ja. ich würde hier nicht darüber schreiben, wenn ich keine resonanz haben wollte. ich fühle mich aber diesem thema gegenüber leicht in die enge getrieben ...
entschuldige.
natürlich bin ich egoistisch. was sonst? aber auch ein egoismus steht nicht einfach ohne hintergründe da.
wie gesagt, die ganze familiengeschichte wäre vielleicht auf der couch eines psychotherapeuten zu erörtern. (und darauf habe ich keinen bock.)
ich bitte um verständnis, dass ich hier auf dem blog (zur zeit) keine allzu persönlichen hintergründe aufreissen möchte.
ich quäle mich mit jeder sache, ob das nun weihnachten ist oder ein besuch bei den eltern ... ich quäle mich mit der entscheidung mehr, als es oft angemessen ist. wenn, dann sind schwermütigkeit und distanzierung zu geselleschaftlichen doktrinen meine schwächen.
freilich gehe ich dabei egoistisch vor. jeder mensch will sich schließlich im laufe seines lebens selbstverwirklichen. auch du, olivia, bist in dieser hinsicht egoistisch.
dabei ist es keineswegs so, dass ich keine kompromisse eingehe. auf der arbeit muss ich das sowieso, wenn ich nicht rausfliegen will. und privat mache ich es auch gern, wenn ich spüre, dass die partnerin entsprechende kompromisse ihrerseits eingeht.
dieses gegenseitige ausloten nennt man diplomatie. es geht dabei um das akzeptieren von eigentlich unvereinbaren einstellungen, weil man (trotzdem) miteinander klarkommen muss. staaten können sich nun auch nicht so einfach von ihren nachbarn wegbewegen ...
als individuen haben wir da oft mehr freiheiten. das ist gut und schlecht zugleich.
warum auch nicht. ich erlebte dich als mutter mit großer hingabe. da blieb für mich manchmal nur bedingt platz.
selbstverständlich kannst du dich dabei auf deine natürliche bestimmung berufen. darüber weiß ich so gut wie nichts, weil für mich familie eher ein rotes tuch ist.
ich kann mich dagegen nur auf mich selbst und meinen geist berufen. möglich, dass dies aus deiner sicht wie ein egoismus aussieht, der deinen übertrifft - weil du ja für andere da bist.
seit 25 jahren bin ich beruflich auch für andere da. meiner meinung nach habe ich mich damit ausreichend als soziales mitglied dieser gesellschaft, in der wir leben, bewiesen. auch ich empfinde trotz aller entfremdung zu vielen gesellschaftlichen konventionen menschenliebe und setze mich nach meinem vermögen für meine mitmenschen ein.
kann sein, dass ich zur zeit etwas ausgebrannt bin ...
ich verdiene dabei sicherlich mehr als eine hausfrau aber auch nicht überragend viel.
ich schätzte die doppelbelastung, die du, olivia, ständig stemmen musst: nämlich beruf und familie.
wie gesagt: alle achtung!
was willst du also von einem mann? und welchen platz gibt es in deinem momentanen lebensentwurf für einen mann?
er müßte sich ja dort, wo du bist etc., total eingliedern/assimilieren.
und an diesem punkt wären wir dann wieder bei der diplomatie, die einseitig sicher nie funktionieren kann.
man muss seine eigenen erwartungen mit den erwartungen des partners abstimmen. dafür braucht man feingefühl oder erstmal empathie für die bedürfnisse des anderen.
liebe allein reicht auf dauer nicht aus.