Wir sind die Frontschweine


"Wenn ich nach einer zehnseitigen Gebrauchsanleitung einen Nagel in die Wand schlagen soll, kommt 100%ig Murks dabei raus, - aber nach dieser Methode wird heutzutage gepflegt." (boma, 28.04.2011)

Wir sind die Frontschweine. Wir halten die Köpfe hin, während die Technokraten, Bürokraten und Kapitalisten im Hintergrund Pläne entwerfen mit immer neuen Standards, so als könne man unsere Arbeit in der Theorie vorweg nehmen. Aber wir produzieren in den Altenheimen keine Maschinenteile, - sondern wir pflegen und betreuen Menschen.
Durch die Bürokratie und Qualitätssicherung wird die Dokumentation immer umfangreicher und komplizierter. Wenn die Menschen nicht den vorgestellten Standards entsprechen, werden sie (also die Menschen nicht die Standards) passend gemacht. Die alten Menschen werden abgemessen und eingestuft. Jede Ausnahme muß begründet und schriftlich abgesegnet werden. Falls z.B. eine Bewohnerin in der Nacht nur einen Windelwechsel wünscht, weil sie am frühen Morgen nicht aus dem Schlaf gerissen werden will, muss die Gesundheitsbetreuerin damit einverstanden sein, und zusätzlich muss die Bewohnerin eine Erklärung unterschreiben. Nein, es geht in diesem Beispiel nicht um eine dekubitus-gefährdete Bewohnerin, und sie ist auch nicht dement.
Behörden unterminieren nach und nach unsere pflegerische und menschliche Kompetenz . Ich sehe Zeiten kommen, wo ich nur noch am Computer sitze und dokumentiere ..., egal ob eine Leistung stattfand oder nicht. Es wird heute schon viel zu viel gelogen, weil das Personal die in der Pflegeplanung festgeschriebenen Leistungen gar nicht erfüllen kann. Natürlich wird das kaum jemand offen zugeben.
Anstatt somit für die alten Menschen eine höhere Lebensqualität zu gewährleisten, versickert lediglich ein hoher Arbeitsaufwand in gekünstelten Dokumentationsformulierungen. Bei den Menschen kommt davon so gut wie gar nichts an. Wie sagt man so schön: Papier ist geduldig.
Seit 2-3 Jahrzehnten beobachte ich eine schleichende Entmenschlichung in der Pflege. Der menschliche Anspruch, wie er so schön im Pflegeleitfaden der Altenheimeinrichtung geschrieben steht, liest sich als bittere Realsatire, - dabei sollte er die Seele unserer Arbeit bedeuten.

Lange-Weile - 30. Apr. 11, 01:09

Zukunft von damals - heut real ?

Hallo Bo.,

ich erinnere mich, das vor Jahren eine Welle der Empörung durch das Land ging. Vielleicht liegt das 10 oder auch 15 Jahre zurück, als ein Japaner eine Computerprogramm entwickelt, das ermitteln sollte, ob die medizinische Versorgung des Kranken noch wirtschaftlich ist und in der Prognose noch bleibt. Auf Grundlage von Fakten und Daten und Prognose zum Krankheitsverlauf sollte das Programm ermitteln, ob der Patient im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit versorgt werden kann oder nicht. Kamen bei einem Patienten rote Zahlen raus, sollte die medizinische Versorgung eingestellt werden. Der Patient war zum sterben verurteilt.
Der Programmierer wurde angegriffen, doch das fand er unfair. Er wollte das Gesundheitswesen auf auf gesunde und wirtschaftliche Beine stellen. Auf Einzelschicksale kann dabei keine Rücksicht genommen werden. - so eine Ansicht.

Solche "Programmierer" sitzen jetzt an zahlreichen Schaltstellen und schmieden ihre Pläne, um vielleicht satte Gewinne abzuschöpfen ?

Ob dieser Zustand von dem Altenheim allein zu vertreten ist, weiß ich nicht. Eine Pflegekraft - für mobile Pflege - erzählte mir vom täglichen Ringen mit den KK, die das Geld nicht ausrücken wollen. Sie lehnen erst mal alles ab, obwohl der Pflegefall zu Hause versorgt werden muss. Das PflegeUnternehmen bewegt sich finanziell immer auf dem unteren Level.

Aber auch die Ärzte beklagen die von den Kassen auferlegte Bürokratie, mit der sie täglich kämpfen müssen und ihnen die limitierte Zeit für die Patienten stiehlt. .

Nach der Yogastunde habe ich mit zwei Frauen meiner Gruppe einen gemeinsamen Weg. Gestern erzählten sie von einer Entlassungswelle in ihrem Unternehmen. Obwohl sie bis über beide Ohren in Arbeit stecken, bekamen 3 Mitarbeiter in der letzten Woche eine Kündigung. 3 weiter Mitarbeiter müssen sich auch auf eine Kündigung einstellen und auch deren Arbeitspensum wird auf die verbleibenden Mitarbeiter verteilt. Vielleicht stellt das Unternehmen auf 400 € Jobs um? Nur eine Spekulation, aber "Schlecker" hat es vorgemacht.

Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geht in die nächste Runde in höherer Stufe. Die Angst um den Arbeitsplatz ist allgegenwärtig und kein Vorgesetzter will was von Überlastung wissen. Sie verlangen und erwarten, dass der Mitarbeiter doppelte Arbeit für weniger Geld verrichtet. Wenn du nicht willst, andere warten nur drauf. Wer lange zu Hause war,macht den Job auch für weniger Geld. Er ist weich gekocht.

Vielleicht sollte jemand, der in Arbeit ist, sich auf alle möglichen Jobs bewerben und abwandern, wenn sich was ergibt. Dann kommt eine andere Art vom Bewegung rein - von einem offensiven Arbeitnehmer auf den Weg gebracht.

Die Ohnmacht der Arbeitnehmer gibt dem Arbeitgeber mehr Macht und Spielraum, als er in Wirklichkeit hat ?

Gruß LaWe


bonanzaMARGOT - 30. Apr. 11, 10:47

hallo lawe,
sicher ist manche zukunftsidee von damals heute in gewisser weise realität. es gibt zwar bei uns noch keine pflegeroboter, aber das personal soll roboterhaft nach standards pflegen. das ganze wird dann in einem pflegeprogramm am computer dokumentiert und abgezeichnet. es gibt immer weniger pflegerischen und menschlichen freiraum. denn zeit ist geld.
das personal ist so knapp kalkuliert, dass es nur funktioniert, wenn man sich in die tasche lügt - also leistungen abzeichnet, die so gar nicht stattfanden.
nein, nicht nur der arbeitgeber (also in meinem falle das altenheim) ist an der misere schuld. viele köche kochen an der suppe pflege und medizinische versorgung mit: die ärzte, die krankenkassen und ihr medizinischer dienst, die angehörigen, die betreuer(innen), das vormundschaftsgericht, die heimaufsicht, die apotheken, die pharmaindustrie, die sanitätshäuser, die physiotherapeuten, logopäden, die fußpflege etc.
bei uns läuft alles zusammen, und wir haben die schwierige, fast unmögliche aufgabe, alles zum besten der bewohner zu koordinieren. dabei wurden die wünsche und vorstellungen des bewohners noch gar nicht erwähnt. wir haben ja oft schon keinen überblick mehr. der bewohner fühlt sich einfach nur überfahren. die meisten resignieren schnell und lassen halt mit sich machen.
das altenpflegepersonal resigniert auch. es entwickelt ein zwiespältiges gefühl zur arbeit. einerseits will man den menschen helfen, andererseits ist man einfach ausgelaugt und haßt beinahe den bewohner mit seinen bedürfnissen und der arbeit, die er macht. besonders die betreuung von demenzkranken fällt dabei ins gewicht, denn die kostet nicht nur viel zeit sondern ist zudem sehr nervenraubend.
die altenpfleger(innen) reagieren unterschiedlich auf die belastungssituation: durch krankschreibungen, lügen, aggressives verhalten, nikotinabusus, alkohol, drogen und medikamentenmißbrauch ...
fazit: man mogelt sich irgendwie durch. wie ich es schrieb: wir sind die frontschweine. man braucht ein dickes fell zum überleben.

umso älter man ist, desto schwieriger wird das mit dem abwandern. es ist wieder das liebe geld, das einen zwingt, dabei zu bleiben. wer geht schon gern beim staat betteln?
und was für ein job sollte das sein, in den z.b. ich abwandern wollte oder könnte?
virtualmono - 08. Mai. 11, 11:56

Zeit ist eben gerade nicht Geld, denn für alles Geld der Welt kannst Du Dir keine Zeit kaufen... wäre nur schön, wenn das endlich mal ein paar mehr dieser ganzen volldepperten Zahlenschubser begreifen würden.
bonanzaMARGOT - 10. Mai. 11, 11:41

virtualmono, arbeitszeit ist eben doch ein geldfaktor, und darum krankt unser soziales system.
kranke und alte menschen werden meist mit einem minimum an personal betreut und gepflegt.

sogar lebenszeit kann man sich evtl. kaufen, wenn z.b. eine teure behandlung im ausland lebenswichtig ist.

meine erfahrung ist leider, dass es letztlich immer ums geld geht.

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