Grabengeschichten, Grabengedanken


Wider Erwarten tauchte Socke, die Graben-Katze, wieder auf. Die Kinder hatten sich schon damit abgefunden, dass sie verschwunden war. Socke wuchs über den Sommer zum jungen Kater heran. Nun war die Freude groß, dass er zurückgefunden hatte, - er belagerte sofort wieder das kleine Graben-Haus und schwarwenzelte zwischen unseren Haxen umher. Am Abend von Olivias Geburtstag war er plötzlich wieder da … mit einer Gefährtin im Schlepptau.

Zurück im Graben – nach einem sonntäglichen Familienausflug zum Schloss von Straßburg – entwischte dem Tierarzt ein argentinisches Höckerrind aus seiner Herde. Die Kinder entdeckten den jungen Stier, wie er arglos auf einem Nachbargrundstück stand. Mit Stöcken bewaffnet waren wir Erwachsenen zugange, ihn zurück in eine Koppel zu treiben. Der Stier zeigte sich gar nicht begeistert. Doch nach einigem Hin und Her klappte es doch. Ich war noch nie bei einem Stiertreiben dabei gewesen. Beinahe kam ich mir vor wie in einer von Astrid Lindgrens Geschichten „Wir Kinder aus Bullerbü“. Die Kinder tobten noch bis zum Abendessen durch den Graben.

Kuhglocken und dann und wann Motorsägen sind mir lieber als städtischer Verkehrslärm. Das Leben auf dem Land hat zwei Gesichter: zum Einen noch urig gewachsene Gemütlichkeit, Ruhe und einfaches Leben, zum Anderen kulturelle Trotzigkeit und das Gefühl, vom Leben abgeschnitten zu sein. Am liebsten wohne ich zwischen Stadt und Land, um beides vor der Tür zu haben. Es fällt mir schwer, mich für eine Lebenswelt zu entscheiden. Schnell fühle ich mich eingeengt. Man muss mich einfangen, bzw. wie den Stier vom Graben in eine Koppel treiben. Von selbst rühre ich mich kaum, gucke in die Luft und verträume die Tage.

Letztendlich bin ich es, der sich entscheiden muss. Will ich wohin gehören, oder will ich alleine bleiben?

Wie einsam bin ich? Wie einsam war ich in meinem Leben? Oft wählte ich das Alleinsein ganz bewusst. Ich drückte die Welt wie eine Geliebte fest an mich. Niemand kann mir wehtun, wenn ich alleine bin.

Wir fuhren nach Klagenfurt. Die Kinder sind alt genug, dass man sie ein paar Stunden sich selbst überlassen kann. Im Kino lief „Das Schwein von Gaza“ - ein satirischer und herzbewegender Film über die unmögliche, absurde Situation zwischen Israelis und Palästinensern in der Grenzregion. Das Schwein, welches einem armen palästinensischem Fischer ins Netz ging, wurde zum Gegenstand verzweifelter und komischer menschlicher Begegnungen. Ich empfand den Film als skurriles modernes Märchen, in dem schließlich die simple Menschlichkeit über politische und religiöse Widerstände und Dogmen siegte. Am Filmende kullerten Olivia und mir Tränen über die Wangen. Außer einem Pärchen in der letzten Reihe waren wir die einzigen Besucher der Kinovorstellung.
Draußen schüttete es. Wir machten uns gleich auf den Nachhauseweg. Der Regen passte zu der im besten Sinne melancholischen Stimmung, die der Film hinterließ.

Bereits müde im Graben-Bett liegend sollten wir hinsichtlich unserer eigenen Streitkultur auf die Probe gestellt werden. Ich weiß nicht, warum wir uns das antaten. Ein Wort ergab das andere, und wir wiesen uns gegenseitig die Hauptschuld an dem Streit zu. Jeder fühlte sich durch die Reaktion des anderen verletzt. Gefangen in Gegenwelten schliefen wir unglücklich ein. Wer würde den ersten Schritt über den Graben hin zum anderen wagen?

Das Ende ist offen.

ein literarisches Tagebuch

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