Der Notfall
„Wir müssen ihre Mutter ins Krankenhaus fahren“, sagte der Rote Kreuz Mensch am anderen Ende der Leitung, „können Sie kommen? Ihr Vater ist dement, und man kann ihn in diesem Zustand schlecht alleine lassen.“
„Ja – natürlich“, stotterte ich, und mir wurde heiß und kalt zugleich, „was hat denn meine Mutter?“
Und der Rote Kreuz Mensch erzählte etwas von starken Schmerzen und vom Herzen, und dass sie meine Mutter zur Abklärung mitnehmen müssten.
Früher Sonntagnachmittag, ich hatte drei Nächte im Altenheim hinter mir und war noch nicht lange wach. Eine hilfsbereite Nachbarin saß bei meinem Vater im Wohnzimmer. Der Einsatz mit Rettungswagen und Notarztwagen hatte in der Nachbarschaft einigen Wirbel verursacht. Ich bedankte mich bei der Nachbarin und wand mich meinem Vater zu. Er wirkte unsicher und war reichlich verwirrt. Bei jedem Besuch merke ich, wie die Demenz fortschreitet. Vergesslichkeit und Wortfindungsstörungen hatten zugenommen. In regelmäßigen Abständen fragte er mich dasselbe: z.B. wo ich wohne und arbeite. Ich schenkte ihm Wasser ein, denn er selbst vergaß zu trinken. Immerhin war er ruhig, er wanderte nicht im Haus umher, was durchaus bei Dementen vorkommen kann. „Die Rosemarie müsste doch da sein“, sagte er, und ich erklärte ihm, dass sie im Krankenhaus ist, und dass wir warten müssen, bis näheres über ihren Zustand bekannt ist.
Es wurde ein langer Nachmittag des gemeinsamen Wartens. Die Untersuchungen im Krankenhaus zogen sich hin. Mehrmals rief ich dort an und fragte nach.
Am Abend, der Tatort lief bereits im TV, erhielten wir endlich die positive Nachricht, dass wir nun meine Mutter abholen können. Alle Untersuchungen waren abgeschlossen. Lungenembolie und Herzinfarkt konnten ausgeschlossen werden.
Glücklich brachten wir meine Mutter nach Hause, wo sie alles erzählte, was sie erlebt hatte. Sie war froh, wieder daheim zu sein. „Ich werde mir wohl eine Haushälterin besorgen müssen, die mir ein paar Arbeiten abnimmt“, sagte sie, „der Erwin (also mein Vater) macht zwar noch viel, aber er ist auch nicht mehr der gesündeste.“ „Ja“, stimmte ich zu, „unbedingt – mach das!“ Gott sei Dank war meine Mutter nochmal glimpflich davon gekommen. Nicht auszudenken, wenn sie sie im Krankenhaus behalten hätten. Wie hätte ich die Situation mit meinem Vater gemanagt? Ein Altenheim wollte ich ihm nicht zumuten. Ich weiß, dass er dort unglücklich wäre. Er würde versuchen wegzulaufen. Er würde gar nicht verstehen, was los ist. Es täte mir sehr weh mitzuerleben, wie der Lebenswille meines Vaters gebrochen wird.
Über unserer Familie hängt ein Damokles Schwert. Wenn sich meine Mutter etwas erholt hat, muss ich dringend die Lage mit ihr erörtern … Olivia, meine Freundin, sprach von einem Notfallplan, als wir am Abend miteinander telefonierten. Den brauchen wir – ansonsten hocke ich mit meinen beiden geliebten Alten ziemlich in der Predouille.
vor zwei-drei jahren sagte ich meiner mutter, dass wir dringend über solche situationen reden sollten. aber es kam nie wirklich dazu.
ich verstehe meine eltern gut. mein vater kann die situation in ihrer tragweite nicht mehr abschätzen, aber meine mutter ist kognitiv noch gut genug aufgestellt. das hört sich blöd an, aber so ist es.
meine eltern wollen solange wie möglich in ihrem kleinen häuschen zusammen leben. und dann, das ist wahrscheinlich ihr wunsch, - so schnell wie möglich sterben.
wie gesagt: ich verstehe das.
aber die wirklichkeit nimmt oft andere wege. als altenpfleger mit über zwanzig jahren berufserfahrung weiß ich, wie solche problemfälle automatisch gehandhabt werden, wenn man nicht selbst eine vorsorge trifft.
ich gebe zu: ich bin momentan psychisch überfordert. ich kann die verantwortung nicht übernehmen ...
mein bruder ist zu weit vom schuß. ausserdem habe ich keinen kontakt zu ihm ...
ich weiß, das hört sich nicht gut an. aber so sind nunmal familien.
scheiße!