Kein Mensch ist schuldlos


Als ich vor drei Jahren mit der Altenpflege aufhörte, hatte ich keine konkrete Idee, wie es weitergehen sollte. Ich wollte einfach raus aus dieser Klitsche. Die jahrelangen Nachtdienste hatten mich endgültig zermürbt. Ich bewegte mich nur noch als Schatten zwischen zwei Welten. Am Tage sah ich unsere Wohlstandskultur, die mir immer fremder wurde. Nein, stimmt nicht, die Welt um mich herum war mir bereits im Kindergarten und in der Schule fremd. Was war nur mit mir los? Warum kam ich nicht klar mit der Welt? Scheiße…
Und in der Nacht sah ich, wie alles zu Ende ging – realer hätte es nicht sein können. Seltsamerweise waren mir die Todgeweihten lieber als die Lebenden. Vielleicht mitleidsbedingt. Ich weiß nicht. Wer den Tod unmittelbar vor sich sieht, erkennt die Wahrheit (zum Verrücktwerden).
Oft trat ich auf die Terrasse des Altenheims und blickte in die Sternennacht. Ich wurde eins mit dem Gebäude und den Bewohnern, über die ich wachte.
Im Geheimen kämpfte ich mit meinen Ängsten. Ich wollte verstehen, warum die Welt ist, wie sie ist. Ich kam zur Altenpflege, weil ich erfahren wollte, was hinter den Mauern passiert, wo Menschen dahinsiechen und sterben. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Zeit: Kein Mensch ist schuldlos. Das einzige, was uns bleibt, ist, Frieden machen – Frieden machen mit der Welt und den furchtbaren Dingen, die auf ihr geschehen.
Wenn das so einfach wäre…

Als meine Eltern starben, fühlte ich mich hilflos und überfordert. Ich hatte sie aufgegeben.
Ich lebte schon lange nur noch mein eigenes Leben. Allein die Liebe zu einer Frau holte mich zwischenzeitlich aus dem Schneckenhäuschen. Aber es reichte nie. Ich kapitulierte vor der neuen Verantwortung. Jeder Weg musste zur Sackgasse werden. Ich prallte gegen die immergleichen alten Ängste. Wenn ich wieder alleine war, konnte mir wenigstens niemand Vorwürfe machen, und niemand hatte Erwartungen.
Keine Ahnung, ob ich nur ein Arschloch unter vielen Arschlöchern oder ein einzigartig großes Arschloch bin. Das sollen die anderen Arschlöcher beurteilen. Ich weiß, dass ich Schuld auf mich lud, und ich versuche damit zu leben. Von wegen Selbstmitleid. Mir geht`s doch gut.
Bestimmt habe ich einen Schutzengel oder einen guten Geist, der in all den Jahren zu mir hielt. Wie hätte ich sonst so viel Glück haben können? Ich fand eine neue Liebe, eine Wohnung in Berlin, sogar einen neuen Job. Vor drei Jahren hätte ich mir das alles nicht vorstellen können. Manchmal denke ich an meine Eltern im Himmel, dass sie meine Schutzengel sind. Schon zu Lebzeiten halfen sie mir über manchen selbstverschuldeten Mist in meinem Leben hinweg. Sie machten mir nie Vorwürfe…
Warum bin ich nicht glücklich? frage ich mich, ich habe doch so viel verdammte Gründe, glücklich zu sein! Warum mache ich mir und dem Menschen, der mich liebt, das Leben so schwer?
Was ist mit mir los? Warum komme ich nicht klar mit der Welt?

david ramirer - 20. Aug. 17, 20:25

schuld ist ein begriff, der mir allzusehr christlich-katholisch aufgeladen wurde, um uns mit seinem ganzen dummen gewicht kleinzuhalten. das funktioniert bei den meisten menschen erschreckend gut.

ich ziehe den begriff verantwortung vor, weil er um nichts weniger gewicht hat, aber den kern der sache besser in unserem eigenen zentrum trifft, und einen spielraum für unsere existenz lässt, wenngleich er noch viel universeller wirken kann.

aber jeder kann das natürlich sehen, wie er will (oder muss).

bonanzaMARGOT - 21. Aug. 17, 04:58

verantwortung hat man per se, schuld lädt man sich im laufe seines lebens auf, wenn man nicht gerade ein super-heiliger ist. ich denke dabei gar nicht an den schuld-begriff im christlichen sinne. wer so was wie über ein gewissen verfügt, weiß auch, was schuld ist.
david ramirer - 21. Aug. 17, 06:28

super-heiliger ... ist aber auch eher ein begriff aus dem christlichen gedankenkreis; und selbst die heiligen haben in ihrem leben nicht selten oft zunächst "schuld" in dem sinne aufgeladen, die du ansprichst, dann aber durch verantwortungsvolles handeln sich für ein anderes leben entschieden. der begriff "heiliger" ist im endeffekt dann nicht mehr als ein klerikal-bürokratisches etikett (aber das nur nebenbei).

sicher weiß ich, was mit dem begriff schuld "gemeint" ist - aber mein gewissen kommt auch mit dem begriff der verantwortung besser klar; weil die klärenden instanzen nicht nach außen verschoben werden, sondern beim eigenen moralkodex abgearbeitet werden können. schuld ist ein begriff, der nicht nur christlich, sondern auch wirtschaftlich aufgeladen ist: beides lebt davon, dich im laufe des lebens aufzuladen, mit dingen, die man nicht mehr los wird.
gerade bei diesen nichtmateriellen dingen aber von einer schuld zu sprechen ist eines dieser perfiden beispiele von wortbedeutungen, die wie kriechseife in die seele dringen und alles vergiften (dein blogeintrag klingt sehr nach dieser verzweiflung, die ich anspreche).

manchmal hilft es, bestimmte worte in ihrer niedertracht zu verstehen, und den ganzen rattenschwanz an pisse und scheiße, die sie nach sich ziehen, abzuwerfen.
oft geht das nicht. das kann ich natürlich auch verstehen.
nichts für ungut.
bonanzaMARGOT - 21. Aug. 17, 06:31

klar. unser sprachbild ist zu einem teil geprägt von solchen ausdrücken. das lässt sich nicht ändern. dafür liest man ja zwischen den zeilen. auch als atheist kann ich doch mal "o Gott!" sagen, ohne dass damit gleich meine atheistische lebenseinstellung in frage gestellt wird.
david ramirer - 21. Aug. 17, 06:43

...hab oben noch weitergetippselt.

klar kannst du jeden christlichen ausdruck verwenden, so oft du möchtest, ohne dass du für mich den atheistenstatutus verlierst.
aber bei mancher verwendung (und dein blogbeitrag war so eine) klingt anderes durch, das mich vermuten lässt, dass manches christliche konzept bei dir am arbeiten ist (lebenslange schuld ... für jeden menschen... usw.)... aber das ist kein wunder (wieder so ein wort), weil unsere kultur von diesen dingen durchsetzt ist. dem entkommt man schwer, aber unmöglich ist es nicht.
bonanzaMARGOT - 22. Aug. 17, 05:27

also, ich weiß nicht, "verantwortung" erscheint mir viel mehr als eines dieser miesen worte/begrifflichkeiten als "schuld".
seit ich denken kann höre ich solche floskeln wie "du musst verantwortung lernen", "... verantwortung wahrnehmen", "... der verantwortung stellen", "... nicht vor der verantwortung drücken"... verantwortung tragen" - all diese sprüche von diesen spießigen saubermännern. da kommt mir das kotzen. die verantwortung kriegt man von klein auf eingebleut. ich erlebe einen regelrechten verantwortungs-faschismus in unserer gesellschaft!

was ist dagegen mit schuld? die gibt doch fast niemand freiwillig zu. schuld haben immer die anderen.
ich meinte in meinem beitrag nicht die schuld, die ein gericht (weltlich oder geistlich) feststellt, sondern die schuld, die wir fühlen, den moralischen kompass unseres gewissens. natürlich sind wir dahingehend von unserer umwelt beeinflusst, aber ich glaube an einen guten kern in uns, der uns quasi von geburt an unterscheiden lässt, was im moralischen sinne gut bzw. schlecht ist, uns einen sinn für gerechtigkeit verleiht. alles vorausgesetzt, dass wir uns diesen "schatz" nicht zuschütten lassen, und dass wir nicht im kopf/in der seele krank sind.
nein, ganz einfach ist es nicht mit der schuld im leben. wer ist schon ein engel? meist reden wir uns drum herum. oder es waren eben die anderen. man selbst zieht sich aus der verantwortung - haha. in ausreden ist der mensch schon immer verteufelt gut.
letztlich tragen wir aber unsere schuld (ebenso wie unsere ängste) durchs leben, und ich halte es für eine bessere strategie, sich dieser last zu stellen, als sie zu verschleppen oder zu ignorieren. angenehm ist das alles nicht. schon gar nicht als atheist, der keinen priester hat, bei dem er seine sünden einfach beichtet und gegen ein paar gebete absolution erhält. tolle erfindung von diesen katholiken, muss man ihnen lassen.
gott vergibt dir deine schuld... das ist einfach wunderbar!

vielleicht kommt bald ein medikament gegen schuldgefühle auf den markt. gegen angst gibt`s ja schon ein paar mittelchen.
bis dahin "prost"!
bonanzaMARGOT - 22. Aug. 17, 05:39

... aber ich stimme dir schon zu: es werden uns auch jede menge schuldgefühle eingeimpft, und dagegen muss man sich wehren.
iGing - 21. Aug. 17, 15:47

Ich halte zwar auch nichts von schuldbeladener Selbstkasteiung, aber den Begriff Schuld einfach seines Inhalts zu entkleiden und sozusagen wie eine leere Hülle 'wegzuwerfen' - dagegen spricht schon allein ein Sprachbewusstsein, das auf Differenzierung aus ist.
Ich würde da doch gerne noch eine Unterscheidung von Schuld und Verantwortung treffen wollen:
Schuld lädt jemand auf sich, wenn er sich unwiderruflich am Leben eines Anderen vergreift. Denn das kann er nicht wieder gut machen.
Alles hingegen, was durch Kommunikation, Klärung und/oder Verhaltensänderung bearbeitet und u.U. sogar rückgängig gemacht werden kann, fällt in den Bereich der Verantwortung.

david ramirer - 21. Aug. 17, 16:44

von wegwerfen hab ich auch nichts gesagt.
ich beobachte nur, dass der begriff der schuld an vielen orten inflationär bemüht wird, und das zumeist gerade an den stellen, wo der begriff der verantwortung weit konstruktiver für sich und andere eingesetzt werden könnte; der begriff der schuld zementiert dinge ein, die nicht fix sein müssen.
mehr wollte ich gar nicht sagen.
bonanzaMARGOT - 22. Aug. 17, 05:46

verantwortung schafft doch erst schuld.
wer wird schon immer seiner verantwortung gerecht?
verantwortung bedeutet doch nichts anderes als eine bringschuld gegenüber sich selbst und seiner umgebung. und menschen sind nun mal fehlbar - oder sollen wir zu 100% verantwortungsvollen automaten werden? ist der absolut verantwortungsvolle mensch anstrebenswert?
mir schnürt sich bei dem gedanken die kehle zu.
bonanzaMARGOT - 22. Aug. 17, 06:33

iging

die schwere der schuld ist freilich unterschiedlich - wobei aber auch die motive zu berücksichtigen sind.
mir geht es nicht um die schuld, welche uns von anderen zugewiesen/aufgedrückt wird, sondern um die schuld, die wir selbst fühlen, in uns reflektieren, wenn wir sozusagen über uns selbst zu gericht sitzen. und da frage ich mich, warum manche menschen trotz missetaten offensichtlich beruhigter oder "schuldfreier" leben können als andere. offenbar ist die wahrnehmung von schuld, wenn sie einen selbst angeht, sehr unterschiedlich.
fast würde ich sagen: man muss seine schuld zwischen sich und gott klären...

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