Die Suche nach dem Reißverschluss


Er fuchtelt mit den Händen in der Luft herum, als würde er nach etwas Unsichtbarem greifen wollen.
Ich schaue ihm eine Weile dabei zu und denke: Wieder so ein Spinner. Dabei wirkt er äußerst konzentriert, als wäre da wirklich noch was anderes und nicht nur Luft.
„Was machst du da?“ frage ich ihn neugierig. Der Spinner sieht eigentlich gar nicht wie ein Spinner aus. Vielleicht ist`s eine besondere Art Tai-Chi.
„Ich suche den Reißverschluss.“
Erst glaube ich, mich verhört zu haben – „Reißverschluss?“
„Ja“, sagt er und greift weiter in die Luft, „er muss hier irgendwo sein.“
Man kann heutzutage eine Menge Menschen bei kuriosen Tätigkeiten in der Öffentlichkeit beobachten: Überall (wirklich überall) wird inzwischen telefoniert, inzwischen freisprechend und in einer Lautstärke, dass alle im Umkreis von fünfzig Metern den Scheiß mitbekommen, sogar auf dem Fahrrad. Dann die Pokémon-Manie: Typen stehen mit ihren Smartphones irgendwo dumm in der Pampa herum, als würden sie mit einer Wünschelrute nach Wasseradern suchen. An den unmöglichsten Plätzen wird meditiert – man macht seine Yoga-Übungen in der Fußgängerzone. Von den echten Spinnern ganz zu schweigen…
Doch womit habe ich es hier zu tun? Vielleicht ein einfallsreicher Pantomime, eine Ein-Mann-Theaterinszenierung? Jedenfalls hat er inzwischen meine Aufmerksamkeit.
„Ich will dich nicht stören… entschuldige. Was für einen Reißverschluss meinst du?“ frage ich nach.
Ich merke an seinem Gesichtsausdruck, dass er lieber ungestört wäre, aber er antwortet mir trotzdem:
„Im Raum befinden sich Reißverschlüsse. Genaugenommen sind es Schlitze, die man aufziehen kann – ähnlich einem Reißverschluss.“
„Und die findet man, indem man…“
„Ja, indem man den Raum abtastet, wie ich es hier mache.“
„Wow!“
Ich schaue seinem skurrilen Raum-Tanz weiter zu und setze noch mal an:
„Und wenn man einen dieser Schlitze gefunden hat? Was dann?“
Er hält kurz inne und schaut mich das erste Mal an. Uff! Was für ein Blick! Ich fühle mich schlagartig durch und durch durchleuchtet.
„Du wirst es sehen. Nur etwas Geduld.“
„Da bin ich gespannt.“
Mein Herz pocht. Ich spüre, dass was Besonderes im Gange ist. Natürlich will ich mir meine Aufgeregtheit nicht anmerken lassen. So einen Quatsch kann niemand glauben!
Gut, dass ich zwei Bier als flüssigen Proviant im Rucksack habe. An denen halte ich mich, während er weiter nach seinem Reißverschluss sucht. Ich schaue mich um. Ein schöner Platz zum Sitzen. Unweit ein Spielplatz, ein paar Büsche, Kastanienbäume und ein Teich. Vormittags sind kaum Leute unterwegs, ein paar Hundeausführer. Ich mag diesen kleinen Park. Er ist eine Großstadtoase und liegt außerdem fast vor meiner Haustür. Ich nuckele an meinem Bier und lasse mich besonnen. Über den Typ mache ich mir nach einer Weile fast keine Gedanken mehr. Ich grinse in mich hinein. Unglaublich, was man in Berlin alles erlebt.
„Hey du!“ höre ich ihn plötzlich rufen. Ich schrecke hoch und blicke um mich. Wo ist der Kerl? Da sehe ich seinen winkenden Arm und seinen Kopf körperlos über dem Boden schweben. Er grinst mich breit an und sagt: „Siehst du. Ich habe ihn gefunden!“ Ich reiße die Augen auf, während er in aller Seelenruhe von der anderen Seite den Reißverschluss zuzieht. „Hey, wo bist du jetzt?“ rufe ich ihm verdattert hinterher. Aber er ist schon weg. Eine Kastanie fällt neben mir auf die Bank und springt glänzend aus der stacheligen Hülle. Es ist Herbst. Ich stecke sie in meine Hosentasche und gehe auf die Wiese, wo der Typ verschwand. Ich imitiere seine Bewegungen. Das ist doch Blödsinn! Bestimmt ein Trick. Wie hat er das nur gemacht? Der Raum hat Reißverschlüsse… verarschen kann ich mich selbst…
Zurück an meinem Platz überlege ich mir, dass ich darüber eine Geschichte schreiben sollte. Doch ich verwerfe die Idee. Zu verrückt das Ganze.

Trotzdem geht mir der Vorfall nicht aus dem Kopf. Wenn ich mich unbeobachtet fühle, ertaste ich den Raum um mich herum nach jenem ominösen Reißverschluss. Es wäre zu fantastisch, wenn ich ihn eines Tages fände. Schließlich habe ich es mit eigenen Augen gesehen!

SehnsuchtistmeineFarbe - 24. Sep. 16, 11:04

tolle Geschichte :-)


bonanzaMARGOT - 24. Sep. 16, 11:13

was man nicht alles erlebt :-)
steppenhund - 24. Sep. 16, 21:02

Super Geschichte. Ein kleiner Tipp: wenn Du den Reißverschluss leichter finden willst, gehe einmal ins Kino, wo sie einen 3D-Film spielen und Du dort die polarisierenden Brillen bekommst.
Nicht jede der Brillen hilft, aber ungefähr eine von zwanzig hat den richtigen Winkel der Polarisation. (Er muss ungefähr 2,5% vom Sollwert entfernt sein.) Dann erkennst Du den Verschluss anhand eines kleinen, ungefähr einen halben Meter langen Schlitzes, der sich eher violett vom restlichen Hintergrund abhebt.
Du kannst ihn nicht sehen, wenn Du gegen das Meer schaust. Da werden zuviele Sonnenstrahlen polarisierend reflektiert, die das Erkennen unmöglich machen.
Eine gute Zeit zum Finden ist die nach einem Gewitter, wenn es auftrocknet. Ich kann nicht erklären, warum das so ist. Aber schließlich ist die ganze Systematik des Reißverschlusses noch ziemlich unerforscht, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass viele Wissenschaftler sich gar nicht vorstellen können, dass es so etwas gibt.
Manche Künstler sehen das anders, einer davon hat den Übergang auch ganz gut beschrieben, das war Michael Ende mit "die unendliche Geschichte". Im Weiteren ist der Übergang auch in einem Beatles-Film angedeutet. "Yellow Submarine". Man kann das dort sehen, wo die Farbe ausgelöscht wird.
Noch ein letzter Tipp: ertasten läßt sich der Reißverschluss nicht, man muss ihn sehen.

bonanzaMARGOT - 25. Sep. 16, 09:24

hallo steppenhund

danke für deine ausführungen.
mein protagonist ertastet den "reißverschluss". ich denke, dass er dazu besonders befähigt bzw. begabt ist.
es gibt menschen, die können mit ihren händen sehen...

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