Donnerstag, 18. April 2013

Wer immer du auch bist


Es gibt Dinge, die man nie vergisst. Leider sind es vor allem die hässlichen. Natürlich nicht nur. Es gibt auch schöne Dinge, an die ich mich erinnere. Zum Beispiel in der Liebe. Mit Freunden und auch mit den Eltern. Die schönen Dinge schweben allerdings in den Himmel hinein, während wir die hässlichen wie Backsteine mit uns herumtragen.
Vieles weiß ich nicht mehr. Es liegt auf dem Meeresgrund meines Lebens – und nur manchmal taucht davon wieder einiges auf. Gleich Gespenstern. Sie kommen aus mir selbst. Sie sind da. Erschütterungen holen sie zurück an die Oberfläche. Es ist in etwa so, als würde ich plötzlich hundert Hände haben, - 98 Geisterhände. Alle Ängste, der ganze Horror meines Lebens steckt in mir selbst. Die Hände ziehen mich hinunter in die Vergangenheit, und ich höre Sätze wie:
„Wenn du das Auto verkaufst, lebst du wie ein Hund auf der Straße!“ - von meinem Vater.
„Du bist für diesen Beruf nicht geeignet!“ - von meiner Chefin.
„Ich bringe dich um!“ - von meinem Vater.
„ … “ - von meiner Mutter.
Vieles wurde gesagt, was mich sehr verletzte. Von den Eltern, von Lehrern, Klassenkameraden, Freunden und Freundinnen. Vieles wurde getan, was mich verletzte.
Und als ich lernte, wie die Erwachsenen zu lügen, begann auch ich, mich schuldig zu machen.
Ich kann es nicht mehr auseinanderdividieren.
Ich erlebte Dinge, die ich nie erleben wollte:
Krankheit und Gewalt in der Familie.
Tod und Siechtum im Altenheim. Dazu die Heuchelei der Heimbetreiber.
Lehrer, die uns Schüler demütigten.
Alles in allem hatte ich noch Glück. Tatsächlich. Ich weiß nicht, wie meine Bilanz aussieht. Manchmal, wenn ich im Altenheim die Windeln wechsele, frage ich mich das.
Die Alten reden oft vom Krieg. Der blieb mir Gott sei Dank erspart. Sie sind die letzte noch lebende Generation, die original vom Krieg und der Nachkriegszeit erzählen kann.
Ich glaube, dass es keinen einzigen Menschen gibt, der sich nicht schuldig macht. In Kriegs- wie in Friedenszeiten.
Wie viele Menschen enttäuschte ich? Menschen, die mich liebten …
Nichts lässt sich rückgängig machen. Alles ist vorbei. Es bleiben (vielleicht) ein paar Jahre Zukunft, bis auch ich sterben werde. Ich will Frieden schließen. Mit mir selbst. Nur darum kann es gehen.
Ich lege mich neben mich ins Bett. Ich umarme mich. Und umarme auch dich, wer immer du auch bist.

Ein seltsamer Besuch


Warum besuchte ich das Elternhaus, stand ratlos vor der Eingangstür, setzte mich kurz? Ich kam nicht hinein, weil ich keinen Schlüssel hatte. Ich war einem Irrtum aufgesessen – und fühlte mich wie bestellt und nicht abgeholt. Ich kam mir seltsam ausgeschlossen vor und fragte mich nach den Gründen. Von außen betrachtet sah alles so aus, als würden die Eltern noch leben. Garten und Haus waren wie immer gepflegt. Das Auto stand vor der Garage. Wenn ich nicht wüsste, dass sie tot sind, hätten sie auch einfach nicht zuhause sein können – vielleicht wären sie zu Fuß in der Stadt einkaufen. Es ist nicht weit.
Natürlich hatte ich mich in den letzten Jahren selbst weitgehend von ihrem Leben ausgeschlossen. Meine Besuche waren selten. Ich war immer erleichtert, wenn es ihnen gut ging – und ich wieder gehen konnte. Vielleicht scheute ich den realen Kontakt mit meinen Erinnerungen, meiner Kinderstube.
Ich stand vor der verschlossenen Haustür. Die Eltern sind tot.
Ähnlich muss sich jemand fühlen, der viele Jahre auf Reisen war und zurück nach Hause kommt. Meine Heimat ist mir fremd und vertraut zugleich. Es ist nicht nur das Elternhaus, es ist die ganze Stadt - wie ein Fotoalbum: dort war die und die Kneipe, dort spielten wir, dort wohnten wir, dort ging ich zur Schule, dort war der Eismann, dort der Kiosk, dort saß ich oft …
Andere Menschen gehen nun durch die Straßen. Neue Generationen wurden geboren.
Mit dem Tod der Eltern ist die Stadt für mich nur noch eine Art Geisterstadt.
Ich schloss das kleine Gartentor hinter mir – wie ich es tausende mal hinter mir geschlossen hatte. Komisch, dass sich dieses Geräusch bei mir so stark einprägte.

ein literarisches Tagebuch

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