"Tödliche Entscheidung", 0 Uhr 15, HR
bonanzaMARGOT
- 08. Apr. 13, 18:33
Auch Buchstaben können zur Last werden. Manchmal stehe ich vor meinen alten Notizen, teilweise vor dem Computerzeitalter niedergeschrieben. Oder jedenfalls vor meinem persönlichen Computerzeitalter, als ich alles noch handschriftlich schrieb oder auf einer Kofferschreibmaschine Marke Olympia tippte. Was soll ich davon aufarbeiten? Ich blättere mit gemischten Gefühlen in den Annalen meines Gefühllebens. Es würde einige Arbeit bedeuten, dies alles nach bedeutenden sprachlichen und geistigen Essenzen zu durchforsten. Auf der anderen Seite wäre es schade, wenn ich es ohne nochmalige Durchsicht in den Müll schmisse. Und wenn schon wegschmeißen, dann bitte nicht so einfach in die Mülltonne kippen. Ich erinnere mich daran, wie wir nach dem Abi unsere alten Schulbücher und Hefte auf einem Feld aufhäuften und verbrannten. Wir vollführten eine Art Indianertanz um das Feuer. Ein wichtiger Lebensabschnitt war vergangen, und wir zelebrierten damit unseren Abschied. So ähnlich stelle ich mir auch den Abschied von meinen alten Gedichten und Notizen vor. Ich bin nur unschlüssig darüber, wie ich es für mich allein zelebrieren soll. Und ich traue mich irgendwie noch nicht. Dabei ist das Meiste wirklich Schrott …
Ich greife mir willkürlich eines der Notizbücher, schlage es auf – und stoße auf folgenden Text:
(Die unendlichen Ausbruchsversuche aus einem Kubikmeter Zeit)
Der Hubschrauber stürzte in den Wald – dreizehn Tote. Einer überlebte, einen zogen Passanten aus dem Wrack, bevor es explodierte.
Dem Tode entronnen, das ist wie eine Neugeburt, ganz unbegreiflich. Ich lebe! Schwein gehabt! Die Leichenteile fünf jugendlicher Kameraden liegen auf dem Seziertisch der Gerichtsmedizin. Ich sehe sie noch vor mir: Der Lange riss Zoten am Stück und kratzte an den Pickeln auf seiner Stirn. Sein pumuckl-roter Haarschopf fiel ständig darüber. Wir hatten das große Los gezogen: Rundflüge übers Festgelände in diesem geilen Militärhubschrauber. Es war aufregend, wie die Rotorblätter knatterten. Ich dachte an den Film „Apocalypse Now“, Vietnam und so`ne Scheiße. Wagnermusik. Wir fühlten uns ungeheuer stark. Der Lange riss weiter Zoten, und wir lachten – so ein verschwitztes, künstliches Lachen. Ich hätte vorher Pinkeln gehen sollen, dachte ich fortwährend. Es war ganz schön lärm-intensiv in dem Hubschrauber. Kurz bevor es passierte, beobachtete ich eine kleine Fliege zwischen uns. „Eine Fliege im Flieger“, dachte ich. Es war ungeheures Sommerwetter, astreines Himmelblau. Es roch nach Gummi und Öl. Und dann dieses Knattern! Dreizehn Menschen überlebten die nächste Minute nicht. Die Statistik des Todes reihte sie zu den Unfallopfern in der Luftfahrt. Der Lange guckte erschrocken, als es abwärts ging. „Ein Scherz!“ musste er einen Funken lang gehofft haben.
Der Tod ist ein Angler am Fluss des Lebens. Die Köder, die er auswirft, sind nebensächlich. Der Tod hat die Geduld eines Weisen. Er sitzt am Ufer und betrachtet amüsiert unser Treiben. Ein paar von uns zappeln bereits wieder im Kescher. Der Tod greift neben sich in eine sich von selbst auffüllende Kiste Bier. Der Kronenkorken schnalzt weg in die Landschaft – der Tod besorgt das mit einer eleganten Bewegung seines Daumens. Er leert die Flasche halb und greift mit der anderen Hand in den Kescher. Vierzehn von uns zappeln darin. Den fettesten greift er heraus und wirft ihn in hohem Bogen zurück in den Strom.
(07.06.1996)