Freitag, 24. Februar 2012

Immer dasselbe: wohltuende Routine oder Horror?


Bevor ich die letzten Treppen hoch zum Altenheim steige, sitze ich in der Dönerbude und schlage bei einem Imbiss die verbleibende Zeit tot. Der Bus kommt eine Stunde vor Dienstbeginn an, und der nächste wäre etwas zu spät. Das türkische Geschäft läuft gut. Die meisten Kunden sind Selbstabholer. Es ist immer was los. Ich sitze meist mit dem Rücken zum Eingang und schaue auf den Fernseher an der Wand. Es laufen türkische Sender. Drei oder vier junge bis mittelalte Türken schmeißen den Laden. Zwei davon sind offensichtlich Brüder, und der mit dem Schnauzbart ist der Boss. Ich weiß gar nicht, warum ich das glaube. Es ist einfach so. Sie arbeiten flink, Hand in Hand. Es flutscht. Ständig klingelt das Telefon, und neue Bestellungen kommen rein.
Derweil ich auf mein Essen warte, überlege ich mir, was das für ein Leben ist: Tag für Tag hier diese Routine in der Dönerbude ab zu spulen. Sie haben täglich von 11 bis 23 Uhr geöffnet. Nur über Silvester hatten sie geschlossen. Ich notiere: „Immer dasselbe: wohltuende Routine oder Horror?“ Und was ist eigentlich mit meiner Arbeit? Sie ist auch mehr oder weniger immer dasselbe, nur habe ich zwischen den Nachtdienstblöcken eine Menge freier Tage. Schließlich kommt das Essen: ein höllisch scharfes Nudelgericht, Nummer 81. Ich liebe die Abwechslung. Mal esse ich Pommes, mal einen Salat, Nudeln oder Pizza. Ich esse immer schön langsam, damit ich nicht zu früh fertig bin. Also spieße ich jede Nudel einzeln auf die Gabel. Um mich abzulenken, lese ich. In der letzten Zeit war das „Herr Lehmann“. Ab und zu schaue ich auch hoch auf den TV und lese die türkischen Bildunterschriften. Oder ich schaue den türkischen Nachrichtensprecher an. Manchmal ist auch die ein oder andere hübsche Türkin zu sehen. Die Bedienungen sprechen untereinander türkisch. Ich verstehe natürlich nur Bahnhof. Wenn da nicht die deutschen Kunden wären, würde ich meinen, ich wäre in der Türkei. Irgendwann zwischen der zwanzigsten und dreißigsten Nudel überlege ich mir, wie ich wohl eine deutsche Wurstbude in der Türkei führen würde. Ich wäre der Boss und würde mir einen Schnauzbart wachsen lassen. Ich würde den Laden zusammen mit meinem Bruder und zwei Cousins schmeißen. Und an der Wand hinge ein Fernseher, auf dem deutsche Bundestagsdebatten den ganzen Tag rauf und runter liefen …
Mein Gott, denke ich nach der vierzigsten Nudel, das darf nicht sein. Nein, Sarrazin darf nicht recht haben!
Jedenfalls brummt die Dönerbude, und der Kundschaft ist es scheiß egal, wie integriert die Besitzer sind. Das Essen ist gut, billig und wird schnell zubereitet. Ich schaue auf die Uhr. Der Dienstanfang rückt näher. Mist. Alles kommt, wie es kommen muss. Man wird von einer unsichtbaren Kraft geführt. Immer dasselbe. Wie in einem Uhrwerk. Ich packe meine Lektüre ein und gehe zur Kasse. Ich lächele. Die Bedienung lächelt. Ich gebe dasselbe Trinkgeld wie immer.
„Tschüss!“
Die Treppen hoch. Es sind einige hundert Stufen. Vielleicht sind es auch Millionen. Ich schaue nach oben in den Nachthimmel. Herrlich, die Sterne – eine ganz andere Welt. Das Altenheim erscheint in meinem Blickfeld. Im Büro des Chefs brennt noch Licht. Der kennt auch keinen Feierabend, denke ich ärgerlich. Seine Sache …
Die Schiebetür am Eingangsportal öffnet sich, und ich bin drin.

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