Freitag, 17. Februar 2012

TV-Tipp:

"Henry & June", 22 Uhr 25, auf 3sat

Die Reste schmelzen




Häßlich und doch nicht ohne Ästhetik

Ich verschlief den Rücktritt des Bundespräsidenten


Eine politische Hängepartie nimmt ihr Ende. Es ist kalt in der Wohnung. Meine Finger sind klamm, mein Kopf rammdösig von der Erkältung. Wie sagte man früher? Katarrh. Tolles Wort, was viel eher nach dem klingt, wie ich mich fühle. Herr Wulff hatte seinen Rücktritt verschleppt (bzw. verschlafen). Nun ist es vollbracht. Hin zur nächsten Krankheit!
Vor mir liegt aufgeschlagen ein Leitz-Ordner, in dem meine ersten Gedichte und Texte abgeheftet sind. Ich blättere darin. Meine Anfänge als Dichter. Alles noch handschriftlich. Mit Illustrationen dazwischen. Etwas krakelig manchmal. Nicht ausgereift. Aber Zeugnisse eines jungen Geistes, der sein eigenes Ding machen und nicht nur nachplappern wollte, was ihm vorgebetet wurde. Damals vor über 30 Jahren ging es los mit dem drängenden Fragen und Suchen: Ein Katarrh des Geistes, der Seele, welcher bei mir chronisch wurde.
Ich sehe den jungen Menschen vor mir, der ich einmal war. Er ist noch in mir – wie eine kleine Matroschka Puppe.

Hier ein Text, der bezeichnend für meine damalige Seelenlage ist. Ich spüre es, als hätte ich es gestern geschrieben:


Flucht


Nette Leute sind das,
wenn sie mich in Ruhe lassen,
fange ich nicht an, sie zu hassen,
und ich liebe sie wie mich,
und ich liebe sie wie mich …

Er weicht den Leuten aus, er schaut nicht gerne in ihre Gesichter, denn er liest sein eigenes Schicksal, entdeckt sich selbst mit all seinen Schwächen und seiner Glanzlosigkeit. Nur einer unter diesen vielen? Was bin ich wert? Meine Welt ist so klein.

Die Leute haben Appetit auf Bequemlichkeit. Sie überfüttern sich damit. Sie essen und essen, sie fressen und bekommen den Geschmack nicht mehr vom Gaumen. Sie konsumieren künstliche Süße, künstliches Glück und lassen die wahren Werte verschimmeln.

Er ist immer noch zwischen ihnen. Sein Schicksal ist: er verträgt dieses künstliche Zeug nicht. Es macht ihn krank. Er weicht den Leuten aus und schaut ihnen nicht ins Gesicht.
Da hupt ein Auto, dort schreit einer, noch mehr Schreien und Hupen, Lärm. Schneller gehen, hastig. Das Herz klopft. Aufregung, so viele Eindrücke. Er will sich nicht erdrücken lassen.

Der Lärm lässt nach, die Luft ist klarer. Er geht langsamer und atmet leichter. Die Sonne scheint.
Mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Stadtrand nähert, werden seine Gedanken freier und verdrängen die Schatten dieser künstlichen Welt.
Er erfreut sich an den Vorstadtgärten, an den natürlichen Farben und Formen. Es ist sein Kinderbettchen, das ihn einhüllt und wärmt. Er kuschelt sich mit Behagen in diese ungeschminkte Welt und träumt den Traum der Bäume und der Gräser, der Wolken am Himmel.
Seine Gedanken verstummen. Es sind da nur noch Gefühle, auf die sich eine Phantasiewelt aufbaut.

Er ist schon weit außerhalb der Stadt und sitzt im Schatten eines knorrigen, sterbenden Baumes. Am Horizont jenseits der Wiesen und Felder ist Beton.
„Komm zurück in die Kälte und Angst. Komm, ich führe dich. Folge meinem Geruch, meinen grauen Schwaden ...“
Der Ruf bleibt ungehört.

Er sitzt unter dem knorrigen, sterbenden Baum. Seine offenen Augen glänzen in die Ferne, verhöhnen die künstliche Süße. Es ist nur noch Traum.

Er ist tot, denn er hat sich den Magen verdorben.


(1980)



Ganz schön viel Pathos, gel? Aber wenigstens nicht künstlich.
Ich lebte trotz verdorbenem Magen weiter. Die Empfindungen gegenüber der Welt, die mich umgibt, blieben weitgehend dieselben. Ich wurde nur etwas reifer mit den Jahren und bin heute geübter im geistigen Spagat, um die Widersprüche und die Ungerechtigkeiten besser auszuhalten. Außerdem bekam ich ein dickeres Fell. Man stellt sich auf einen solch chronischen Katarrh der Seele irgendwie ein. Man hat seine Mittelchen.
Prost!

32 Jahre später verschlafe ich den Rücktritt des Bundespräsidenten. Es ist ein hässlicher Wintertag. Nass und kalt. Die Autos brausen munter das Tal hoch und hinab. Der König ist tot, es lebe der König! Das Karussell dreht sich weiter. Wenn ich nur all diesen Scheiß verschlafen könnte. Auf der anderen Seite würde ich auch die Glücksmomente verschlafen und die Orte, wo es schön ist.
Ich entschied mich für das Leben. Die Flucht endet hier.

ein literarisches Tagebuch

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